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3

Fast niemals geschieht etwas lange Erhofftes gerade so, wie wir es erwarteten. Wenn der ersehnte Vogel des Augenblicks aus der Luft herunterfliegt und sich in Schußweite niederläßt, trägt er gewöhnlich ein ganz anderes Federkleid, als wir es uns ausgedacht haben. Diese Erfahrung mußte auch Valfrid machen. Als er schließlich meinte, seine Stunde sei gekommen, da kam sie durch Zufall aus einer Richtung jenseits aller Berechnungen. Und als er den Vogel des Zufalls aufs Korn nahm, geschah es ebenso plötzlich wie unüberlegt, ohne daß er hinterher hätte erklären können, wie es zugegangen war, und weshalb der Schuß in so falscher Richtung traf und so verhängnisvoll wurde.

An diesem Samstagmorgen Mitte Mai war ihm noch kein Schlaf in die Augen gekommen, als schon die Morgenröte verblaßt war. In ein Schaffell gewickelt hatte er in seinem Schießstand auf einer der Sandbänke bei Askvik auf der Lauer gelegen und dann der Welt für einige kurze Stunden gute Nacht gesagt. In seinen Armen schlief die einläufige Schrotflinte, unter sich hatte er die zuverlässige Klippe, und einen Büchsenschuß entfernt schaukelten die toten Lockvögel auf einer immer ruhigeren Dünung, die sie allmählich in eine schläfrige Ungewißheit von Geplätscher und Zwielicht hineinführte. Aber im Nordosten, auf der anderen Seite der Untiefe, war der Himmel immer noch heller. Die Nacht auf dem Meere machte nur langsam ihr großes Augenlid zu und senkte es zur Hälfte unter den Rand einer unbeweglichen Wolkenbank; dann schlug sie das Auge wieder auf, zuerst vom Schlaf gerötet, dann heller und wacher, bis die Sonne wie eine spähende Pupille aufging und die Dinge der Erde musterte. Um diese Zeit und in dieser Gegend der Welt wurden nun die Dinge der Erde von Vögeln auf dem Morgenstrich besorgt und von einem schlaftrunkenen jungen Gesicht hinter einem Gewehrkolben. – »Jetzt kann die erste Schar kommen«, sagte der Ausdruck seines Gesichts – und auf den Absätzen der anderen Schären ging's ungefähr ebenso zu. Bald fing auch das altmodische rauchstarke Schwarzpulver an, hier und da zu knallen: Rrom – bom – bom –! Über den Scheiteln der Granitfelsen stieg der Rauch auf, als nähmen sie der Reihe nach eine weiße Nachtmütze ab und sagten Guten Morgen! Die Rauchwölkchen spiegelten sich eine Weile im Wasser und vergingen dann in der blinkenden Windstille. Aber eine größere Beute gab es an diesem Morgen nicht. Es war zu windstill; die Vögel hatten keine Lust, aufzufliegen und sich am Strande weiter landein zu begeben. Wie ein Band von Schaumblumen lagen die Eidervögel auf dem Wasser und blinkten weit draußen in dem schwebenden, schmelzenden blauen Dunst; nicht einmal ein Bombardement aus einem weittreffenden Kugelgewehr von einer der Felsenkuppen her vermochte ihre Ruhe zu stören und sie zum Auffliegen zu veranlassen.

Valfrid konnte nur zweimal sein Rohr über die aus aufgestapelten Steinen bestehende Brustwehr des Schießstandes richten und mit dem Kahn hinausfahren, einen Säger und zwei gelbäugige Trauerenten zu bergen. Am Abend zuvor, als es ein wenig wehte, hatte er zwei Eiderenten geschossen; aber jetzt bei der Windstille lag er unbedingt zu weit drinnen zwischen den Schären hier auf dem Albeerholm, der seinen Namen von den vielen schwarzen Albeerbüschen bekommen hatte, die es in holder Eintracht mit Sanddorngestrüpp und Heckenrosen bewirkten, daß der runde Holm im Hochsommer einer schwimmenden Schüssel voll Grünzeug glich, das weit über die Ränder hinausging. Aber was war zu tun? Hier bei Askvik konnte er sitzen, solange er wollte, und den Mund nach Vögeln spitzen, die nicht kamen, jawohl. Draußen auf den Absätzen der Berge bei Lekatten und Mößgrunden hätte er sein müssen, wo das halbe Dorf nach Herzenslust knallte. Aber einer vom Tveholm konnte da nicht am hellen Tag und mit der Büchse in der Hand seine Nase hineinstecken. Zum Teufel, was war dies für ein Elend! Im Norden Ankarö, diese Schlangengrube, und im Süden ... ja, daheim war wohl der Norweger und machte Visite, oder wie man sagte, äh ... Morgen war ja Pfingsten, und da, versteht sich ...

Wütend schlug er mit einem Bein aus, wie er so dalag, daß der Steinkranz wackelte und die oberste Reihe um den Stiefelschaft herum niederfiel.

Dann ertönten die Schüsse dort drüben doch seltener; es waren wohl nur in seiner verbitterten Einbildung gar so viele gewesen. Der Vormittag, die schlechteste Zeit des Tages, war beinah halb vorbei, und man ging allmählich heim, denn von Abendjagd konnte am Vorabend des Festes doch keine Rede sein. Ein ganzer Schwarm von Booten tauchte aus den Spalten zwischen den Klippen auf und verbreitete sich nach allen Seiten, einige mit Motorgeknatter, die meisten aber rudernd, ohne Segel zu setzen. Zuvorderst von allen, die hierher steuerten, kam eine leichte Schiffsgig; das war der Pfarrer selbst, und sein Knecht ruderte ihn.

Pfarrer Rosius war jetzt nicht mehr besonders blutdürstig, wenn er es überhaupt je gewesen war; aber ein paarmal im Jahr fuhr er bei schönem Wetter doch hinaus, um einige Vögel zu erlegen. Daß er sich nach Askvik rudern ließ, kam daher, daß er hier von alters eine Sommerkate besaß, die eine kleine Strecke von dem Stranddörfchen entfernt bei der Einfahrt von Hasselöra lag. In jüngeren Tagen hatte er viele denkwürdige Stunden an dieser Stelle erlebt, hatte Verheerung unter den Birkhühnern im Laubwald angerichtet und ebenso unter den Enten und Hechten im Röhricht des Landsees. In späteren Jahren indes hatte die Kate verfallen dürfen, wie sie wollte, und sie würde wohl bald ein richtiges Eulennest sein; aber vielleicht lohnte es sich doch, einmal im Vorbeifahren nachzusehen.

Jetzt im Augenblick waren die Gedanken des Pfarrers freilich ganz wo anders, als er wuchtig wie ein Feldstein in dem breiten Heck der Gig saß. Er dachte darüber nach, wie er mit dem morgigen Pfingsttext eine kleine Betrachtung verbinden könnte, die ihm dieser gesegnete Morgen eingegeben hatte. Gerade bei Sonnenaufgang hatte er, mit einem erlegten Eiderenterich in der Hand, mitten im Meer auf einer Klippe gestanden. Davon mußte er zuerst reden. Dann wollte er einen Blick auf die großen Städte werfen, wo die Menschen mit Verzweiflung in der Brust kämpften, einerlei, ob sie sich froh oder unglücklich nannten. Die weisesten unter ihnen sprachen von der Not zwischen den Maschinen, nämlich davon, wie das Menschenwerk über sie selbst hinausgewachsen sei zu einem wahren Berg von Angst, und wie taub und grausam der Himmel sich allem Geschaffenen gegenüber verhalte. Aber vielleicht mißverstanden diese verirrten Grübler der Neuzeit den ganzen Zustand, wenn sie weit weg von der Natur ihre Klagelieder anstimmten. Sie müßten einmal bei Sonnenaufgang hier draußen stehen mit einem erlegten Eidervogel in der Hand und die schneeweißen Daunen des Halses streicheln, die von den ersten Strahlen der Morgensonne und einem noch warmen Blutstropfen gerötet waren! Sie müßten das Hochzeitskleid des Eidervogels betrachten, dieses frohe Kunstwerk der Natur, sie müßten an seine heißen Liebesspiele im lenzblauen Meere denken. Vielleicht begriffen sie dann, daß das Leben in all seiner Grausamkeit auch ein Fest ist ... Beim Himmel, ja, das mußte morgen mit in die Schriftauslegung, mochten diese Bauernstoffel sagen, was sie wollten!

Brausend, mit einer richtigen kleinen Schaumwelle vor dem Steven, kam die Gig dicht am Albeerholm vorbei; der Knecht war ein Daus beim Rudern. Als sich Valle in seinem Schießstand aufrichtete und die Mütze zog, erhob der Pfarrer zur Antwort freundlich drohend die Faust:

»Heda, mein Junge, in die Kirche mit dir am Pfingstfest, sonst gibt's Prügel!«

Und den dunstigen Spiegel der See in tausend knisternde Scherben zersprengend, platschte die Gig weiter dem Lande zu, während der Pfarrer mit seinem früher so mächtigen Baß, der aber jetzt etwas schätterte wie ein verbeultes Waldhorn, anstimmte: »Der Lenz ist eingezogen mit Lust und Blütenpracht ...«

Kurz darauf nahm Valfrid die Lockvögel auf und ruderte desselben Weges. Er wollte zu seiner Großmutter in Askvik; das war für ihn jetzt der beste Ort, und dort gedachte er über Nacht zu bleiben. Er überlegte nur, wo er sich nun die Feiertagskleider für den morgigen Kirchenbesuch borgen könnte. Ja, in die Kirche mußte er auf jeden Fall.

 

Nachdem sie eine kräftige Vogelsuppe genossen hatten, saß Valle an jenem Abend noch lange in eifrigem Gespräch mit der Großmutter. Alles in der schmucken kleinen Hütte erinnerte an ihren vor vierzig Jahren umgekommenen Mann: der kajütenartige Flur mit seinen farbigen Bullaugen; in der Stube das von einem Rettungsring umrahmte Bild seines Fahrzeugs auf dem Ehrenplatz über der Kommode, auf deren Spitzendecke eine große Flasche lag mit einem kunstvoll hineinpraktizierten Vollschiff darin, die von der Decke niederhängende Steuerbordlaterne, die gelegentlich als Lampe Dienst tun mußte. Valfrid stellte der Großmutter wieder einmal das Ansinnen, sie müsse auf den Tveholm übersiedeln; allein auf diesem Ohr wollte die Alte nicht hören. Hier sei sie geboren, und hier gedenke sie auch die Augen zu schließen, die Gicht habe weiter nichts zu sagen, und die Nachbarinnen schauten sicherlich herein, falls eine richtige Krankheit kommen und sie umwerfen sollte. Valfrid merkte aber sehr wohl, daß die Großmutter unablässig suchte, das Gespräch auf einen bestimmten Punkt hinzulenken, vorsichtig und jedesmal mit einem gleichgültigen Gähnen. Aber er war auf der Hut und scheuchte die Frage zurück. Wie die Großmutter so vor dem Herd auf ihrem Schemel saß und er auf der Bettkante, war es, als werde ein verschlossenes Bündel mit geheimnisvollem Inhalt zwischen ihnen hin und her geschoben, ein Bündel, das einen unangenehmen Geruch verbreitete. – »Sag du, was drin ist!« – »Nein, sag du's!« Keines von ihnen wollte den Verschluß öffnen. Schließlich verlor die alte Frau die Geduld, und mit einem noch gewaltigeren Gähnen – Hohojajaa! – brach sie das Siegel: »Ja, du hast doch etwas von dem Norweger gesagt, oder wie ...«

Valle machte einen schiefen Kopf. Er hatte kein Wort über diese Sache laut werden lassen.

»Also nicht? Und ich hab doch bestimmt geglaubt ... Ich meine den da, über den so viel gemunkelt wird. Was ist denn das für ein Mensch, und ist vielleicht zwischen ihm und deiner Mutter was los?«

Valle schwieg. Aber die Augen der Großmutter blinkten rund wie Schuhknöpfe mitten in einem neuen Gähnen. »Ich sag dir, das ist bei der Dirn ein Erbstück. Dein Großvater war ein richtiger Türk, Gott segne ihn! Mädchen in jedem Hafen und immerfort Spektakel, ja Spektakel ... O ja, die Jugend jagt so eifrig dem Leben nach, daß schließlich gar kein richtiges Leben daraus wird. Und zwar nur, weil sie es so eilig hat, so ...«

»Aber das kann doch meiner Mutter niemand nachsagen«, wendete Valle ruhig ein. »Hat sie es vielleicht eilig gehabt, zu leben?«

»Nein, aber jetzt hat sie es! Jung, Jung, du weißt nicht, wie es mit uns Menschen bestellt ist! Die Lebensgeister in uns sind meiner Seel wie Kaninchen in einem Käfig. Schließ sie ein, so viel du kannst, mit Drahtnetzen und was du willst. Wenn du ihnen nur gerade so viel Futter gibst, daß sie am Leben bleiben – und das tut man –, so jungen sie rein von selbst, leider! Und eines schönen Tages hat sich die ganze Gesellschaft unter dem Käfig durchgegraben und treibt frei ihr Unwesen.« Sie sann eine Weile nach. »Du kannst übrigens recht haben, Elfrida hat ihre eigene Art gehabt. Wenn Feuer in einer Kammer ausbricht, gibt es Leute, die Tür und Fenster fest verschließen und abwarten, ob es nicht von selbst erlischt. Und das kann glücken, Valle. Kommt aber nur durch irgendeine Ritze ein Lufthauch dazu – ja, dann steht bald das ganze Haus in hellen Flammen. Und gerade das ist jetzt wohl auf dem Tveholm geschehen. Ich ahne das Schlimmste, Junge ... Jetzt aber jedenfalls Gute Nacht und Dank für die Vögel, liebes Kind. Das Bett ist in der Kammer für dich gerichtet. Aber nimm dich vor dem Feuer in acht! ... Ja, ich meine nur, wenn du heut abend noch rauchen willst.«

Valfrid ging noch einmal an den Strand hinunter, um seine Jagdausrüstung aus dem Boot heraufzutragen, das an dem gemeinsamen Landungsplatz drinnen zwischen den fünf schiefen Bootsschuppen des Fischerdorfes lag. Und hier entdeckte er etwas.

Auf den unebenen Planken des Landungssteges blieb er stehen, im Halblicht abwechselnd blinzelnd und die Augen weit aufsperrend. Dann kletterte er hinunter in das Boot, nahm sein Fernrohr zur Hand, kauerte sich nieder und stützte das Rohr auf die Kniescheiben.

Dort drüben unter der »Morgengabe« lag ein Netzboot, unten geteert und die oberste Kante grün wie bei so vielen anderen, aber die Relingslinie in hellstem Weiß gestrichen. Dies Boot kannte er ...

Die Großmutter war noch nicht eingeschlafen, als sie aus dem Dunkel der Flurtür eine Stimme vernahm:

»Ich glaub, ich geh doch lieber heim.«

»So so, ja ja«, sagte die alte Frau und setzte sich im Bett auf.

»Ja. Ich hab meinen Sonntagsanzug vergessen. Und ich muß morgen in die Kirche.«

»Jetzt lügst du, Junge!« rief die Großmutter.

Valfrid war aber schon verschwunden.


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