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6

Weihnachten ist auf dem Tveholm stets eine besonders düstere Zeit; aber es sieht aus, als sollte auch dieser Juniabend kaum munterer werden. Wenigstens meint das Janne, als er nach der Heimfahrt von der Kirche mit den andern in der Stube zu Tisch sitzt. Er weiß nicht recht, wie er diese feierliche Stunde begehen soll; alles derartige ist ihm so ungewohnt, darum findet er es am besten, zu schweigen und etwas weniger als sonst zu essen. Eine Herzstärkung hat er aber dennoch heimlich im Bootschuppen am Wasser zu sich genommen. Ebenso schweigsam sitzt der Junge da und schaut zur Decke hinauf, an der noch ein paar Flundern vom vergangenen Jahr an Schnüren aufgereiht hängen, dünn und braun wie alte Gesangbuchblätter. Und Elfrida ißt beinah nichts von allen ihren Gerichten; sie sieht aus, als diente sie durch Hungern Gott und der Menschheit, und als gäbe es nichts so Edles auf der Erde wie ihre tränenreiche Mutterschaft.

Nur die Großmutter spricht mit vollem Mund in einem fort. Ihre Wangen strotzen in vergnüglicher Fülle, wie rosiges Ferkelfleisch. Sie ist eine Frau, die im Leben allzuviel Sorgen gehabt hat, als daß sich diese in ihrem Gesicht niederzuschreiben vermocht hätten. Gelegentlich bei den schwersten Prüfungen hatte wohl etwas Gefahr dazu bestanden; aber bald kam das gutmütige Fett wieder und wischte alles aus.

Jetzt meint Janne aber doch, er müsse etwas äußern. »Das war gut, Jung, was du in der Kirche gesagt hast.«

»O ja!« schluchzt Elfrida. »Wenn nur dein Vater es hätte hören können!«

»Ach, laß doch die Toten in Ruhe, Schwatzliese!« schilt die Großmutter kauend. »Die werden allein fertig, ohne daß wir so oft von ihnen reden. Sieh lieber zu, daß dich Janne dick macht, damit mehr Jungen hierher auf den Holm kommen. Ich meine, es ist mehr als genug, schon fünfzehn Jahr damit zu trödeln ... Nein, ruhig, ruhig, Dirn!«

Blutrot ist Elfrida aufgestanden und zur Tür hinausgegangen, empört über diese Lästerung von seiten ihrer eigenen Mutter.

»Sie ist so zarthäutig wie eine Blume«, sagt Janne. »Es ist nicht immer leicht, zu wissen, wie man sie behandeln soll. Wird wohl so sein, daß Valles Vater ein besserer Mensch als ich war. Aber vielleicht bin ich in seinem Alter auch so gewesen.«

Als sie vom Tisch aufstehen, faltet er dem Tag zu Ehren die Hände und murmelt etwas vor sich hin. Aber er bleibt bei der Schwiegermutter in der Kate, als Valle seine Mütze nimmt und hinausgeht. Es ist schon spät am Abend, und die Alte gähnt, aufgebläht vom vielen Essen, und findet es gut, daß sie so schlau gewesen ist, hier über Nacht zu bleiben. Janne selbst sehnt sich eigentlich nach seinem Bett; aber er weiß, daß jetzt die feierliche Stunde gekommen ist, die er sich gestern verdorben und vorweggenommen hat. Er begreift, daß er nun zum zweitenmal nicht mit dabei sein kann, trotz dem Zerren und Spannen in seiner Herzgegend. Und nach einer Weile sieht er, wie Mutter und Sohn langsam dem Nordstrand zuwandern, Hand in Hand.

 

Die Brautstangen neben der Hausstaffel sind längst morsch geworden und vom Sturm zerblasen; nur ein Stumpf mit abgefallener Rinde ragt noch an der einen Seite aus dem Boden. Ehe sie über die Schwelle treten, bleibt die Mutter stehen und sagt: »In dieser Kate hier bist du geboren, Valfrid, und sie gehört jetzt dir. Und du kannst herüberziehen, wann du willst. Hier drinnen ist auch heute nacht für dich gebettet.«

Der Junge empfindet eine feierliche Verwunderung, gemischt mit Neugier. Er ist schon öfters hier gewesen, um Netze oder andere Fischereigeräte zu holen. Als sie jetzt eintreten, ist die Stube noch ebenso kahl wie immer; aber als sie die Kammertür öffnen, sieht er, daß hier alles anders geworden ist. Feingehacktes Wacholderreis auf dem Fußboden, Vorhänge um das aufgeschlagene Ehebett, eine Kommode, eine Wanduhr, die tickt, zwei Stühle und ein Tisch mit einer gemusterten Decke aus ungebleichtem Leinen mit langen Fransen! Und auf dem Tisch ... Seine Augen werden rund und starr. Mitten darauf liegt selbstverständlich eine schwarze Bibel mit einem goldenen Kreuz darauf, aber rechts und links davon eine Seehundbüchse und ein Vogelstutzen mit Pulverhorn, Zündhütchendose und Kugelform. Noch mehr – zwischen den Gewehren ein langes Fernrohr aus Messing und ein mit Riemen versehenes Holzfutteral dazu, ein schönes Taschenmesser und endlich ein kleines rostiges Ding aus Blech ... Er denkt sich, das sieht aus wie eine Art Spieldose.

Hinter sich vernimmt er die bebende Stimme seiner Mutter: »Dies alles hat deinem Vater gehört, mein Junge. Er, Valfrid, ... er, siehst du ... Nie hätte er sich so aufgeführt wie gestern Janne, nie ... Wir können den Mann, der ihn umkommen ließ, nicht strafen, aber ich weiß, die Vorsehung wird es tun. Die Rache ist mein, spricht der Herr ... Du weißt ja, wie es zugegangen ist, das meiste wenigstens ...«

An einem Nagel in der Ecke hängt eine alte Schaffelljacke. Elfrida nimmt sie herunter, zeigt ihm, wo in der Ecke die Wolle abgebissen ist, und berichtet. Und unter vielen Tränen schluchzt sie die Geschichte von der Spieldose hervor, die des Vaters erstes Weihnachtsgeschenk für sein Kind hätte werden sollen.

Valle ist gerührt, fühlt sich aber mehr noch gequält. Er legt seinen Arm um die Mutter, versucht sie zu beruhigen und nötigt sie auf einen Stuhl nieder. Nach einer Weile schlägt sie die Bibel auf und liest ihm vor, zuerst die Bergpredigt, dann das Buch Ruth und zuletzt den Jakobusbrief. Diese Stücke liebt sie um ihrer Milde willen am meisten. Er sitzt da und hört geduldig zu, die Blicke unverwandt den Dingen auf dem Tische zugekehrt.

Endlich ist die Mutter fertig, sie küßt ihn heftig zur guten Nacht und geht. Er bleibt lange stehen und betrachtet den Tisch in dem schattenlosen Halblicht, das durchs Fenster fällt, aber er rührt nichts an, sondern zieht sich langsam aus und kriecht ins Bett.

Die Wanduhr rasselt mit dem Schlagwerk und schlägt elf. Und noch eine Stunde vergeht, sie schlägt zwölf. Dies alles ist viel zu groß und verwunderlich. Schließt er die Augen, so sieht er in ein schauerliches Bilderbuch, das nicht zu beschreiben ist, von dem er aber weiß, daß es die Wahrheit zeigt. Er steht auf und zieht sich Hemd und Hosen an. Jetzt steht er wieder vor dem Tisch, lange steht er so. Aber nun kann er die Hände nicht mehr zurückhalten, er legt sie sacht auf die Dinge und befühlt sie, streichelt vorsichtig die kühlen Büchsenläufe und das Fernrohr. Aus den toten Dingen strömt etwas in ihn über; es ist, als steige der Geist des Vaters aus dieser Berührung auf, als übernehme Valle ein Erbe von Kraft und werde in dieser Nacht zum Mann.

Schließlich nimmt er vorsichtig die Spieldose in die Hand und dreht die kleine Kurbel; einige rostige, spröde, klagende Tönchen werden laut.

Er öffnet die Tür und geht hinunter an den Strand. Dort, weit draußen, schwimmt die »Morgengabe« auf dem bleichen Meer. Dort also war es ... Im Norden hat sich's getrübt, die Wolken hängen tief und leicht aschfarben über der Dämmerung, aber zu ihnen hinauf strebt die Bake gleich einer erhobenen Faust.

Und noch weiter hinten steht der Leuchtturm von Ankarö, eine dünne Salzsäule, die in der schwebenden Ungewißheit fast ertrinkt.

Unbeweglich bleibt er stehen und schaut mit weit offenen Augen hinüber. Da merkt er, daß sich einer von den großen Steinen am Strand bewegt, ein magerer Körper trennt sich davon, und Janne kommt ihm entgegen.

»Auch ich hab nicht schlafen können«, sagt der Stiefvater leise. »Es ist so viel da, Jung ... Aber nach dem, was du in der Kirche gesagt hast, glaub' ich, daß wir einander jetzt verstehen. Nicht?«

»Ja!« antwortet Valfrid klar und deutlich.

Janne erinnert sich, daß er heute noch nichts Biblisches gesagt hat. Und er ballt seine Faust mit den dicken Adersträngen gegen die See im Norden:

»Sie kommt, die Stunde!«


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