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Der heiße Sommer

1

Das Schicksal der Welt und das Schicksal einzelner Menschen verlaufen oftmals in entgegengesetzter Richtung. Wenn ein Land, eine Stadt oder eine Gegend vom Sturmwind der Geschichte verheert wird, gibt es inmitten der Zerstörung immer Einzelschicksale, die grade dadurch ein unverdientes Maß von Glück und innerer Ruhe erreichen. Und wenn der Sturmwind vorübergebraust ist und sich alles in wohlmeinender Stille zur Ruhe legen will, finden sich immer innerhalb des friedfertigen Kreises ein paar Menschen, die aus dem Zusammenhang herausgerissen und weggeführt sind in eine Brandung von Leiden, Haß und Liebe. Recht und Gerechtigkeit ist in diesen verwickelten Verhältnissen niemals zu erkennen.

Während der letztvergangenen sechs Jahre war in Bredby mehr vorgefallen als sonst wohl in einem Jahrhundert. Wenn ein Weltkrieg den Erdball umkehrt und alle alten Lasten von der Stelle rückt, wenn große Stücke der Landkarte mit dem teuren Saft genetzt werden, der in den Adern der Menschen fließt, dann gibt es wohl keinen noch so gottverlassenen Ort, der nicht von einem Spritzer des roten Saftes getroffen würde. Ein blutgetränktes Feld war Bredby freilich nicht geworden, wohl aber waren seine Hügel von vieltausend neuen Sohlen sehr zertreten. Mit weitaufgerissenen Augen erhob sich eines Morgens das Dorf und sah, daß es in einen Ort von größter Bedeutung verwandelt war, zu etwas, was fast einem der Tore Europas glich. Während der wirren Tage beim Kriegsausbruch war das Dorf auf einmal wie ein vollgepfropftes Wirtshaus. Eine Sturmflut von zweifelhaften Fremden wurde von Osten dahergeschwemmt und füllte jeden Raum, der eine Spur von Dach über sich hatte. Es waren Leute, die in der letzten Stunde in neutrale Gegenden hinüber wollten – übers Wasser, über die Grenze, die im Bewußtsein der Dorfbewohner nie vorhanden gewesen war. Merkwürdige Dinge! In jenen Tagen schwirrte die Luft von Sprachen, die nicht einmal die weitgereisten Seefahrer zu benennen wußten; nur der alte Bussar behauptete, das sei alles türkisch. Dichtgepackt wie die Heringe in der Tonne lagen die schwarzbärtigen Herren auf dem nur mit einer dünnen Streu bedeckten Fußboden und rangen in Verzweiflung ihre von Diamanten blitzenden Hände, während ihre ekelhaft duftenden Frauen auf dem Speicher irgendeines Stallgebäudes saßen und im ersten Morgengrauen ihre bleichen Gesichter schminkten. Ihre Sprößlinge, die gar nicht wie Kinder aussahen, kreischten wie in den Schwanz gekniffene Teufel, und alles war ein rechtes Kreuz. Geld aber wurde rein unvernünftig verdient. Ein Gockel, der ein Spielkamerad von Sinders Großvater gewesen war, brachte ein Vermögen ein, als er geköpft in den Kochtopf plumpste, und nachdem alles, was Schwein, Kalb, Färse oder ausgemergelte Kuh hieß, geschlachtet war, konnte für ein Mahl von eingesalzenem Seehundfleisch, das eigentlich zum Hühnerfutter bestimmt gewesen war, ein großer, bunter ausländischer Geldschein angeflattert kommen. Denn sich mit den Fischen in der See oder mit den Schafen auf den Holmen abzugeben, dazu hatte niemand Zeit. Alles, was einen Kiel unter dem Boden hatte, setzte Segel und fuhr mit einem ganzen Babylon an Bord nach Schweden, und die Hosentaschen der Ruderer strotzten von Goldstücken. Und es wird behauptet, daß Lassas-Isak, der Faulpelz, sich hat seine Zukunft sichern können, weil er zu jener Zeit der einzige im Dorf war, der ein Motorboot besaß, mit dem er damals sieben Fahrten machen konnte.

Aber diese tollen goldenen Tage dauerten nicht lange. Später, als der Krieg im Ernst zu rasen begann, kehrte in Bredby wieder Ruhe ein. Gewiß sah und hörte man mancherlei während der drei Jahre, nach denen es aufs neue unruhig wurde. Rauchfahnen, schwärzer als die von gewöhnlichen Lastdampfern, verschmierten den Gesichtskreis; zuweilen klirrten die Fensterscheiben vom Donner springender Minen oder von Kanonenschüssen draußen auf dem Meer. Eine Weile ging ein Geschrei um von einem Leuchtturm im Südosten, den ein Unterseeboot mit einigen Schüssen niedergelegt haben sollte. Eines Tages tauchte am südlichen Himmel ein Luftschiff auf, dick wie eine Hochzeitszigarre, flog langsam mit der Schnauze gegen den Wind und putzte in der einzigen Stadt des Inselreiches mit ein paar Bomben einen Landungssteg und eine Badeanstalt weg. Eine Meile weit im Lande drinnen bauten die Russen Befestigungen mit Kanonenrohren, in die ein halbwüchsiger Junge hätte hineinkriechen können. Auf einer der Inseln in der Nähe wurden zwei schwindelnd hohe Masten für drahtlose Sendungen errichtet, und mit sanften Zischlauten und offenen Armen hielten die Söhne der Steppe ihren Einzug ins Dorf, wo sie natürlich mit der Zeit ihren Wildhafer säten.

»Sagt nichts, Hausmutter, denn Ihr wißt nicht, wie die Russen lieben!« erklärte die Magd auf Storgrinda, der ihr Sonntagskleid zu eng geworden war.

Diese drei Jahre schleppten sich soweit erträglich hin, obgleich einige vergrämte Elterngesichter aussahen, als gäbe es Herzen, die innerlich in aller Stille bluteten; und die Nahrung wurde immer knapper durch das von den Russen eingepeitschte Verbot, mit gewöhnlichen Netzbooten zum Fischen oder zur Jagd in See zu gehen. Dann kam völlig unerwartet jener Tag im März, wo die Soldaten ihren Vorgesetzten die Achselstücke abrissen, einige von ihnen mit blauen Bohnen bedienten und schrien: » Svabooda!« – »Freiheit! Freiheit!« Dabei gelangte das Dorf zu seiner ersten Kriegerwitwe, die in der Stille ihre Tränen weinte; andrerseits aber ging das Säen des Wildhafers eifriger vor sich als bisher. Es sah mit der Zeit bedrohlich und beklagenswert aus. Aber bald wurde von Mund zu Mund geflüstert, die gebietenden Herren des Inselreiches hätten eines der beschlagnahmten Motorboote in See gesetzt und sich in einer finsteren Nacht nach Schweden hingeschmuggelt, um vom König selber Hilfe zu erbitten.

Und als es dann mitten im folgenden Winter in Finnland losging, da wurde das Dorf von neuem der Tummelplatz für allerlei Militär. Jetzt fing es mit Kanonendonner einige Meilen weiter drinnen im Lande an. Ein versprengtes, schlecht bewaffnetes Streifkorps der Weißen aus der Gegend von Åbo schlug sich dort mit den Russen herum. Kreuzdonnerwetter, das waren auf jeden Fall noch Kerle! Erst patscht man anderthalb Tage über aufgeweichtes Meereis, und dann will man, einige hundert Mann stark, ganz Åland einnehmen, das mit Batterien der Roten über und über gespickt ist! Das Unternehmen wäre ihnen vielleicht sogar geglückt, wenn nicht die schwedische Flotte mit einem Eisbrecher an der Spitze zu dieser Zeit aufgetaucht wäre und sich ins Spiel gemischt hätte. Du mein Herr und Schöpfer! Was schrien da im Dorf die Leute Hurra, abgesehen natürlich von den Russen. Die hatten es auf einmal eilig. Die Blau-gelben aus Schweden landeten eine unheimliche Menge Truppen, die mit Musik und in prächtigen Uniformen das ganze Inselreich überschwemmten und sowohl die Weißen als auch die Roten entwaffneten. Der tapfere Befehlshaber des Streifkorps weinte vor Wut, daß er nicht im Frieden weiterkämpfen durfte, als er mit seiner Mannschaft nach Schweden eingeschifft wurde, um im Vaterland an die Front verschickt zu werden. Man hätte vielleicht denken können ... Sonst war alles im Dorf ein einziger blau-gelber Jubel, während eine Schiffslast von verdutzten Russen nach der anderen verstaut wurde. Allein die Freude dauerte nicht lange. Neue schwarze Rauchfahnen am Horizont, noch größere Fahrzeuge tauchten auf und ankerten. Jetzt waren es die Deutschen, die landeten, die schwarz-weiß-rote Fahne über dem Dorfe hißten, die Schweden hochachtungsvoll ersuchten, sich auf die Socken zu machen, und die ganze Geschichte mit den Russen und allem andern in die Hand nahmen. Das war nun schon die vierte Sorte Militär; kein Wunder, wenn es einem wirr im Kopf wurde. Aber das Karussell war noch lange nicht vollständig. Auf die Deutschen folgten Truppen aus dem Vaterland, dem neuen Finnland, sowohl solche, die jedes Wort ihrer unverständlichen Sprache mit einem gesalzenen Fluche würzten, als auch andere, sanftmütigere, die im reinsten Schwedisch fluchten. Und schon lange davor, mitten in der ganzen Bewegung, hatten sich einige aus dem Dorf einem freiwilligen Streifkorps angeschlossen, das ostwärts über das Schärenmeer zog und ohne großes Blutvergießen sogar Åbo einnahm. Allzuviele Mann von hier waren es ja nicht: der alte Tveholmer Janne, in dem das österbottnische Herz sich wieder regte; und da mußte natürlich sein noch älterer Kamerad Bussar auch mit, aber der wurde um seiner Trunksucht willen auf halbem Wege wieder heimgeschickt; auch Jannes Brudersohn Valfrid, der Junker von Ankarö und noch einige andere junge Burschen waren dabei.

Jawohl, nach den Deutschen kamen die Truppen aus Finnland. Aber da hatte Bredby seinen Seelenfrieden schon bis zu einem Grade eingebüßt, daß man unmöglich noch mehr Militär vertrug. Die Soldaten aus dem Vaterlande, welche Sprache sie auch sprechen mochten, wurden mit geballten Fäusten und verschlossenen Türen aufgenommen, und nicht so viel Wildhafer wurde neu gesät, daß nur ein einziger Halm daraus aufschießen konnte. Vielleicht wirkte dabei der Umstand mit, daß Åland eine Trosse auswarf und an dem Thron des schwedischen Reichs befestigte, eine Trosse, die zur einen Hälfte aus altem Heimweh, zur andern aus mangelndem Gedeihen innerhalb der Grenzen des neuen Staates zusammengeflochten war; mit dieser Trosse wurde der Versuch gemacht, die Inselgruppe nach Westen hinzuziehen und sie an der schwedischen Küste zu vertäuen. Na ja, nach vielen stürmischen Verhandlungen mit ausländischen Besichtigern an Bord mißglückte das Manöver, und die Trosse riß. Murrend ballte man nun die Faust im Sack in Erwartung des nächsten Krieges; und in Übereinstimmung mit andern enttäuschten Ortschaften kam auch Bredby allmählich im alten Gleis zur Ruhe, befreit von allem Militär, reich an bunten Erinnerungen und mit einigen Liebespfändern von verschiedener Herkunft in seinem geräumigen Schoß.

In allem, was die Außenwelt betraf, hielt das Dorf einig zusammen. Aber innerhalb seiner Grenzen und der weitgestreckten Gewässer rührten sich feindliche Mächte gegeneinander, wie dies bis ans Ende der Welt jederzeit und überall vorkommen wird. Die berüchtigtste Sache in dieser Hinsicht war, was der Leuchtturmwächter Stark auf Ankarö während der letzten zwei Jahre ausgeführt hatte. Gestützt auf einen alten schwedischen Königsbrief, unterzeichnet von Karl XI., erhob er Anspruch nicht allein auf das volle Besitzrecht an seiner Insel, die nur von Leuten aus ursprünglich gleichem Geschlecht bewohnt war, sondern auch auf die uneingeschränkte Herrschaft über das Wasser in einem Umkreis, der, in heutiges Maß umgerechnet, drei Seemeilen nach allen Seiten betrug. Diese vergilbte Schenkungsurkunde ging von einem Gericht zum andern, bis endlich das höchste Gericht in Finnland dem Leuchtturmwächter alle seine Ansprüche bestätigte. Das war im vergangenen Herbst geschehen und bedeutete etwas Unerhörtes; daß nämlich mehrere der besten Seehundplätze und der ergiebigsten Fischgründe für andere Leute verlorengingen. Bisher war alles auf See gemeinsamer Besitz gewesen; die einzige Regel war, daß man aus Anstand nicht durch ein allzunah ausgelegtes Garn das bereits gelegte Netz eines andern absperren durfte, noch auch auf einem Seehundplatze landen, von dem her Lockrufe von genügend vielen Schützen ertönten. Aber man beruhigte sich rasch, als der Leuchtturmwächter jedermann ohne Ansehen und Stand auf dem nun ihm gehörenden Wasser zu freiem Fang und freier Jagd willkommen hieß. Nur die Tveholmer forderte er nicht auf, und man fing an, den Sinn seines Unternehmens zu begreifen. Ein uralter Königsbrief, gelb und verrunzelt wie die Haut eines alten Weibes, war eine tödliche Waffe im Zweikampf geworden; – ja, ja, Frieden gab es wahrhaftig nicht auf dieser Welt!


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