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11

Es ging schon gegen Abend, aber von Tuvas Vater kam keine Nachricht. Valle war glückselig über die Verzögerung; er durfte sie Stunde um Stunde behalten, und doch kämpfte er gegen eine zunehmende Unruhe an. Irgend etwas mußte ja mit Janne nicht in Ordnung sein; oder sollte der Motor am Ende gestreikt haben?

Schließlich zittert durch die Luft, weit drinnen von den Schären her, der Ton einer Maschine; er klingt leise wie das Ticken einer Taschenuhr, aber in dem Takt kann man sich unmöglich täuschen. Valle sieht stumm zu Tuva hinüber. Würde sie nun zurückrudern, sich auf den Inneren Sattel setzen und tun, als ob gar nichts geschehen wäre? Aber sie macht keine Miene, aufzubrechen, sondern küßt ihn nur auf ihre selbstverständliche Art, wie wenn sie sagen wollte: »Jetzt soll Vater sehen, wo ich zu finden bin.« Und auch für Valfrid ist alles anders geworden. Er denkt nicht mehr an Schleichwege noch an Hinterlist. Etwas Wunderbares ist geschehen, etwas, was alle seine Begriffe über den Haufen geworfen hat. Er fühlt sich als ein fertiger Mann im Bund mit dem Stärksten im Leben und bereit, alle nur möglichen Stöße entgegenzunehmen. Mag Tuvas Vater fragen, was er will – ich werde ihm erzählen, wer seine Tochter, seinen Augapfel, beinah ertränkt hätte; aber jetzt sitzt sie hier neben mir und ist mein. Daran kannst weder du, noch der Pfarrer mehr etwas ändern, ja nicht einmal Gottvater selbst.

Langsam wird das Motorboot des Leuchtturmwächters auf der glänzenden Wasserfläche größer. Beim Inneren Sattel vermindert es seine Eile, aber da ist niemand, und so steuert es hierher und fährt an der tiefen Ostseite mit dem Steven geradeswegs aufs Land zu. Um die Hafenbucht am anderen Strand drüben kümmert er sich gar nicht, es ist augenscheinlich keine Rede davon, daß er hierbleiben und die Seehundjagd fortsetzen will.

Als Stark an Land springt, gerade vor die Füße seiner Tochter, sind seine Augen ebenso kugelrund wie sein wohlgenährter Körper. Aber schweratmend wendet er sich an Valle: »Du mußt sofort nach Hause, ich nehm' dich in Schlepp. Dein Vater ist ernstlich krank. Zuerst meinte ich, er wäre hauptsächlich betrunken; aber er hat eine Blutvergiftung von der Fußwunde und schon blaue Streifen bis an die Brust herauf. Ich fürchte, es geht mit ihm zu Ende.«

»Hat meine Mutter den Doktor holen lassen?« fragt Valle mit unsicherer Stimme.

Der Leuchtturmwächter schnauft schwer und schaut auf seine Stiefelspitzen herunter.

»Ja, siehst du, da ist noch etwas – deine Mutter ist fort.«

»Wohin denn?«

»Wenn das einer wüßte! Sie hat einen Brief hinterlassen, und ich glaube ... denn deine Großmutter war ganz sonderbar, als sie ihn las. Ich hab' sie von Askvik geholt und bin auch ins Dorf gefahren und habe einen Doktor in der Stadt angerufen; aber er kann erst spät in der Nacht da sein. Der Bussar ist ja auch dort und treibt Unfug mit seinen Spritzen, der Kakerlak!«

»Hat Vater den Brief gelesen?«

»Nein, ich glaube nicht – wir trugen ihn geradeswegs in die Kammer hinein. Aber jetzt rasch fort!«

»Ich danke«, bringt Valle heraus. Er ist ganz wirr im Kopf. Ein anderer Stoß, als den er erwartete, hat ihn getroffen.

Eilig verstauen sie alle Gerätschaften in das Motorboot und die Seehundkörper in die beiden Kähne, die nachgeschleppt werden.

»Zwei davon gehören euch«, sagt Valle und schiebt über den Rand von Tuvas Kahn die Schwarzrobbe mit dem prächtigen Fell sowie eine größere Graurobbe, die er am Nachmittag noch geschossen hat.

»Danke«, nickt Stark flüchtig und läßt den Motor an.

Sie machen einen Abstecher nach dem Inneren Sattel und nehmen alles mit, was dort noch liegt. Dann geht es dem Tveholm zu, und diese Fahrt kommt Valle endlos vor. Als die beiden von Ankarö dort hören, daß Janne bei Bewußtsein ist, steigen sie nicht aus.

Valfrid drückt dem Leuchtturmwächter heftig die Hand und will etwas sagen, aber es bleibt ihm im Halse stecken. Der andere sieht ihn mit einem sonderbar gemischten Ausdruck im Gesicht an, als denke er: »Ja, mein Junge, jetzt will ich dich nicht quälen; aber später werden wir einander wohl allerlei zu sagen haben.«

Und als Valle Tuvas ein wenig feuchte und ängstliche Hand eine Sekunde lang zum Abschied in seiner fühlt, da wallt eine Sturzwelle in seiner Brust empor, obgleich sie nicht in seinen Augen sichtbar wird.

»Ja, ade also ...«

Ein einziger Tag war es nur. Ein Tag, der nicht zu dem gewöhnlichen verfluchten Leben gehörte. Und jetzt beginnt das alte Elend aufs neue.

Der Leuchtturmwächter setzt die Maschine in Gang. Valfrid wandert mit schweren Schritten den Hügel hinauf, dem Unglückshaus zu.

 

»Soll ich nicht nach dem Pfarrer schicken?« fragt Valle zögernd. »Denn du weißt ja, Vater, es geht zu Ende.«

Janne liegt halb bewußtlos auf seiner Lagerstatt. Jetzt öffnet er seine vom Fieber geröteten Augen einen Spalt weit: »Der Pfarrer hat nichts bei mir verloren. Sag ihm, er soll zur Hölle fahren, dort treffen wir uns! Hol lieber deine Mutter her! Ihr hab ich allerlei zu sagen. Aber wo ist sie?«

Auf diese Frage kann Valle keine Antwort geben. Ahnte der Stiefvater den Zusammenhang, oder war er im letzten Augenblick von einer verspäteten Zärtlichkeit für die Ärmste ergriffen, mit der er sich während seines Ehestands nie hatte vertragen können? Das waren Fragen, die mit ihm ins Grab sinken würden.

Draußen in der Stube las Valle einen Brief, den ihm die Großmutter zugesteckt hatte. »Ja, ja, was hab' ich von der Feuersbrunst auf dem Tveholm gesagt? Dieser Brief lag hier mitten auf dem Tisch. Lies ihn, Junge, lies ihn, dann weißt du, wie es um unsere unselige Familie steht.«

Die Alte hatte, als sie ihm den Brief übergab, plötzlich ein ganz runzliges Gesicht bekommen, und er las:

»Meine Liebsten! Ich weiß, was Menschenpflicht ist, aber Liebe will mehr. Jetzt, wo ich endlich den Mann hab', den ich liebe und der mich auch liebt, folge ich ihm, wohin es auch geht. Fehlen tu ich doch keinem von euch. Nein, ihr haltet mich doch für eine Hur, aber einer der denkt anders. Weiß Gott, ich hab es all die schrecklichen Jahr her nicht leicht gehabt. Jetzt geh ich mit ihm weit fort, fragt ja nicht, wohin. Bei euch zurück, meine Liebsten, bleiben meine Tränen.«

»Pfui Teufel!« sagte Valle, und mit blassem Gesicht gab er den Brief zurück.

Die Großmutter faltete das Papier zusammen und ließ es in ihrer geräumigen Rocktasche verschwinden.

»Ach, ja, ja«, schnaufte sie. »Es kommt mehr und immer mehr. Wann werde ich alter Leichnam endlich Frieden finden? Er, der Alte, hat den Brief nicht gelesen, gottlob!«

Das war beim Tagesgrauen geschehen. Eine Stunde vorher war der Arzt aus der Stadt dagewesen und hatte erklärt, hier sei nichts mehr zu tun, als auf das Ende zu warten, die Blutvergiftung habe schon das Herz erreicht. Auf der Hausstaffel saß der Bussar und weinte wie eine Gießkanne, halbberauscht, und schämte sich wegen seiner mißglückten Krankenpflege.

Jetzt steht Valle in der Kammer bei seinem Stiefvater. Der Kranke hat eine Weile geschlummert, plötzlich aber schlägt er die Augen auf.

»Hör du, mein Jung, es wird mir schwer, gerad jetzt gut Nacht zu sagen. Es ist so viel noch nicht geschehen. Ankarö, siehst du, nie ist's mir gelungen, das Pack im Ernst zu fassen! Sie kommt, die Stunde – so steht's in der Schrift, und ich hab' mich auf das Wort verlassen. Aber für mich ist die Stunde nie gekommen.«

»Diese Sache hab' ich besorgt«, entgegnet Valle. »Weißt du, warum ihr Boot dort bei der ›Morgengabe‹ gesunken ist? Ich hab's versenkt; ich bin ins Meer hinaus geschwommen und hab' den Bodenkorken durchstochen.« Es ist ihm furchtbar schlecht zumut, als er diese heikle Sache verrät; er sieht Tuvas vertrauende Augen auf sich gerichtet, sieht sie sich vorwurfsvoll verdunkeln; aber er muß den Sterbenden mit dem einzigen erfreuen, womit es ihm noch möglich ist.

Und Jannes fieberheißer Blick leuchtet auf. »Gott segne dich, Junge! Aber warum hast du das verdammte Mädel denn nicht ersaufen lassen? Warum hast du uns gezwungen, hinauszufahren und sie zu retten? Ich hoffe wenigstens, daß du grob gewesen bist, als ihr dort allein in der Bake wart?«

Auf diese Frage gibt Valle keine Antwort; sie zerrt an den empfindlichsten Fäden in seinem Innern, an denen, die er um keinen Preis bloßlegen kann.

Mühsam setzt sich der Stiefvater im Bett auf.

»Vergiß nicht, Valle, vergiß niemals, daß du zu unserem Rächer ausersehen bist! Du mußt all das ausrichten, was ich ungetan lassen muß. Quäl die Teufel, kränk sie und zerstör alles, was sie besitzen! Das ist mein Testament für dich, etwas anderes hab' ich dir kaum zu vermachen.«

Er streckt die Hand aus zu einer feierlichen Bekräftigung dieser Verabredung über Wiedervergeltung; aber im gleichen Augenblick fällt er stöhnend auf sein Lager zurück und schließt die Augen.

»Soll ich nicht doch lieber den Pfarrer holen? Ihr zwei habt vielleicht etwas miteinander zu besprechen, bevor ...«

»Nein«, murmelt Janne, »wir haben nichts Unbesprochenes.«

Aber der Morgen ist noch nicht weit vorgeschritten, als Pfarrer Rosius breit und würdig in die Kammer tritt. Drüben im Dorf hat er gehört, daß es sich auf dem Tveholm um die letzte Reise handelt, und da drückt er sich niemals. Der Knecht hat ihn hergerudert, was das Zeug halten wollte.

Wuchtig, unbewegt wie ein Meerfels, setzt er sich auf die Kante des Krankenbettes und nimmt Jannes knochige Hand in die seine. Einen Augenblick hält er sie fest umschlossen, dann sagt er: »Es kann ja sein, daß du jetzt in eine bessere Welt hinübergehst. Aber hast du hier auf dieser Seite reinen Tisch gemacht? Tveholmer, ich glaube, du bist nicht ganz frei von Haß.«

»Nein, weiß der Teufel!« stößt Janne zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor.

»Dann, alter Freund, schleppst du einen Feldstein mit dir hinüber, einen Stein, der dich schwer drücken wird.«

»Nicht nur einen, sondern zwei. Und die werd' ich denen an den Kopf schmeißen ... Ich weiß schon, wer sie verdient, haben Sie nur keine Sorgen.«

»Pfui Teufel!« bricht der Pfarrer los. »Willst du als Christ so sterben?«

In diesem Augenblick wird Janne bewußtlos, und als er wieder zu sich kommt, ist er milderen Sinnes und nimmt das Abendmahl ohne Widerspruch.

Pfarrer Rosius sieht ihn nach der heiligen Handlung lange an und sagt dann langsam und weich: »Fahr hin in Frieden, lieber Freund. Und wenn wir uns wieder treffen, reden wir noch weiter über diese Sache.«

Danach erwacht Janne nicht mehr. Die Großmutter drückt ihm die Augen zu. »Herrgott«, flüstert die Alte und schüttelt ihr weißes Haupt. »Herrgott, daß man verdammt ist, solange zu leben!«

Ihr sonst so glattes Gesicht ist von tiefen Furchen durchzogen.

 

Pfarrer Rosius wandert breit und sicher über die Landstraße auf die Kirche zu; er läßt sich nur selten fahren. Als er sich dem Heiligtum nähert, schwebt um den Turm wie gewöhnlich eine schreiende schwarze Wolke von Dohlen. »Jawohl, ja«, denkt er, »diese Sorte kenn ich. Schwarze, widerwärtige Vögel sind es, die zu sammeln unsere christliche Kirche verpflichtet ist. Hasser, Rächer und unselige Existenzen – und dazu eine Menge einfältiger alter Weiber, selbstverständlich. Aber die weiße Taube der Unschuld, wann kommt die?« Er ist heute richtig niedergedrückt und wischt sich schweratmend die Stirn, aber die Leute, die ihm begegnen, merken nichts davon.

 

Beim Begräbnis hielt der Pfarrer eine Rede, daß die ganze versammelte Gemeinde die Taschentücher und Rocksäume benützen mußte. Er sprach über das Wort: »Die Rache ist mein, spricht der Herr.« Und ohne unzart auf Gewesenes anzuspielen, gab er diesem Bibelwort eine so erschütternde Auslegung, daß sie auch das verhärtetste Herz zum Schmelzen brachte.

»Ja, wenn«, dachten viele, »wenn die Welt voll wäre von Menschen wie unser Pfarrer, dann gäbe es keinen Streit und keine Niedertracht, nur Macht und Kraft und Versöhnung.«

Es fiel den Leuten auf, daß sich Stark von Ankarö in seiner schönsten Uniform eingefunden hatte. Der Neffe, der Junker, war nicht zu sehen; er befand sich wohl auf See. Aber dafür war Tuva da, und sie weinte strömende Tränen. Es schien beinah, als ersetze sie die Witwe Elfrida, von der das ganze Dorf wußte, daß sie durchgegangen war, gerade als die schwere Krankheit ausbrach und den Alten daniederwarf. Um das Grab her bildete sich wie gewöhnlich ein leerer Kreis. Valle und die Großmutter versuchten, ihn auszufüllen, der Totengräber schaufelte von der einen Seite und der alte Bussar drüben von der andern; aber das half wenig, und er sah aus, als wollte er am liebsten mit hinunter in die Grube. Erst als die Tochter des Leuchtturmwächters an den zugeworfenen Hügel trat, wurde das Begräbnis gleichsam vollständig. Denn wenn ein Mann begraben wird, soll immer eine junge Frauensperson am Grab stehen und Tränen über den Abgeschiedenen vergießen, sonst ruht er nicht sanft in der Erde. Die Frage war nur, warum gerade Tuva das tat. Die Ankarötochter am Grabe des Tveholmers! Und dicht daneben unter dem schwarzgewordenen Holzkreuz lag seit zweiundzwanzig Jahren ein anderer Mann. » Am Weihnachtsabend verunglückt« – der war auch nicht vergessen. Hatten wohl diese beiden Toten dem Gewissen des Mädchens einen Stoß versetzt, jetzt, wo es alt genug war, um selbst zu denken? Meinte es, ihnen sei bei Lebzeiten Unrecht geschehen, und wollte es nun offen vor aller Welt zeigen, daß es nicht auf der Seite des eigenen Vaters stand? Oder sollte sich vielleicht zwischen Tuva und dem jüngsten Tveholmer, dem Valfrid, etwas angebahnt haben? Ja, was sollte man glauben?

Als die Schar geschlossen den Kirchhof verließ und sich auf dem schmalen Hauptweg nach dem Tor staute, ging Tuva dicht an Valle vorüber. In dem Gedränge drückte sie ihm unbemerkt die Hand und flüsterte: »Vergiß nicht, daß ich dein bin für immer!«


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