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Ein Stück Weges hinauf am Nordstrand vom Tveholm liegt ein viereckiger Stein, groß und ernst wie ein Sarg. Weiter unten am Rande des Wassers glänzen die kohlschwarzen, von den Wellen glattgeschliffenen flachen Steine; sie sehen aus wie versteinerte vorzeitliche Rieseneidechsen, die aus der Tiefe heraufgekrochen sind und sich hier an der Grenze der beiden Elemente zur Ruhe gelegt haben, um sich den runden Panzer fleißig waschen zu lassen. Aber bis zu dem Felsblock herauf schlagen die Wogen für gewöhnlich nicht, deshalb haben Moos und zähe Flechten den Versuch gemacht, den großen Stein zu überwachsen. In einem von Norden nach Süden laufenden Einschnitt, der den Deckel des Sarges andeutet, war das bereits gelungen; aber seit einiger Zeit hat eine Menschenhand die Gewächse in der runden Rinne vertilgt. Häufig ruht in dieser ein unruhig schwankendes Fernrohr aus Messing. Hinter dem Rohr liegt ein junger Mann mit einem bösartigen Funkeln im rechten Auge.

Es ist nicht das erstemal, daß er sein vom Vater ererbtes Fernrohr in diese Himmelsgegend richtet, woher alles Verdammte gekommen ist; morgens und abends, in jeder freien Stunde hat er das getan. Wie ein besiegter junger Feldherr das verlorene Schlachtfeld überschaut und darauf sinnt, bei der ersten Gelegenheit in einer neuen Schlacht Rache zu üben, so mustert er die Wasserfläche und gibt genau acht auf die Bewegungen des Feindes dort drüben. »Sie kommt, die Stunde ...«

Valfrid ist jetzt ein anderer, als es das Bürschchen mit dem kurzgeschorenen runden Kopf, dem beständig verwachsenen Wams und den allzu kurzen Hosen war. Der Morgenwind bläst ihm einen üppigen Haarbusch in die Stirn und weht ihn über das Fernrohr gleich einem hellbraunen Wasserfall. Das macht sein ziemlich langes, schmales Gesicht noch länger und verbirgt eine rote hufeisenförmige Narbe über seinem linken Auge. Seine Schultern gleichen einem nicht gerade dicken, aber gut zugehauenen Balken, und die geschmeidigen Beine verschwinden in zwei ansehnlichen Wasserstiefeln, die wie immer ganz von Fischschuppen überzogen sind. Denn er muß die Fischerei meist allein besorgen, seit ihnen die besten Fischgründe im Norden durch ein Gerichtsurteil gesperrt sind. Janne hat wenig Zeit dazu; fluchenden Herzens ist er genötigt, wieder zu den Fertigkeiten seiner Jugend zu greifen und sich im Dorf Zimmermannsarbeit zu suchen, obgleich er einen geringeren Tagelohn bekommt als Männer in den besten Jahren. Allerdings ist ihm angeboten worden, als Koch und Helfer des Segelmachers auf einer Viermastbark mit nach Australien zu fahren; dieses kränkende Angebot hat er aber in der Art, wie er zu reden pflegt, abgeschlagen: »Hab' nichts in Australien verloren, ade!« Und was hilft es, daß Valfrid bald ebenso gewandt und tüchtig ist wie der Alte in allem und jedem, worauf es hier draußen ankommt? Er kann nach der Dichte und Höhe der Möwenschwärme in der Luft sagen, wo die Strömlinge stehen, und wie tief man die Zugnetze auslegen muß. Bei einer Drehung des Windes berechnet er geschickt, an welchem Strand gerade die richtige Dünung sein wird, damit die Flundern und Muränen aus der Tiefe herauskommen. Lockvögel stopft er so kunstfertig aus, daß liebeskranke Hähne dahergestürmt kommen und sie mit den Schnäbeln an den Nackenfedern fassen. Wie frisch die in den Wacholderbüschen und Klüften gefundenen Eier sind, stellt er geschwind im nächsten Wassertümpel fest. Liegt er auf der Lauer und ruft, um Seehunde zu locken, so kommt ihm das Tier oft so nah, als wollte es an seiner Gewehrmündung riechen; aus der Stellung der Schnauze sieht er von weitem, ob sich der Seehund sicher fühlt oder vorsichtig wittert, ob er beim nächsten Untertauchen beabsichtigt, für immer Abschied zu nehmen, oder an der Stelle wieder auftauchen wird, wohin der Gewehrlauf gerichtet ist. Und gilt es, mit dem scharfbeschlagenen Eisstock auf Blaueis hinauszugehen, so weiß er, daß man auf der federnden Fläche weitergehen kann, wenn beim schrägen Niederstoßen der Eisenspitze diese wohl durchfährt, aber zugleich ein kleines eiszapfenförmiges Stück heraussprengt; daß man aber besser tut, umzukehren, wenn die eiserne Spitze schnalzend durchfährt, ohne etwas loszusprengen. Ja, ausgelernt ist er in allem, was sich gehört, und nur eins steht noch aus. Ein junger Mann wird im Dorf erst dann als ganz erwachsen betrachtet, wenn er einige Jahre auf langer Fahrt gewesen ist. Das ist ebenso unumgänglich notwendig wie die Volksschule und der Konfirmationsunterricht, nur viel verlockender. Und nun ist der kommende Sommer sein letzter hier, denn im Herbst nimmt er Heuer, Gott sei Dank! Vorher muß aber noch etwas geschehen ...

Das Funkeln in dem Auge hinter dem Fernrohr zeigt immer mehr Haß.

Was hatte es für einen Zweck, daheim zu sein und mit Fischfang und ähnlichem die Zeit zu vertändeln? Wie sich die Dinge gedreht hatten, konnte doch ein Kind begreifen: daß es früher oder später mit dem ganzen Tveholm zu Ende gehen mußte. Ließ sich denn mit einem Boot ohne Mast kreuzen, mochte man sich noch so viel Mühe geben? Verwünschtes Totengeripp von einem König, das plötzlich aus seinem Grab gestiegen war und sich ins Spiel gemischt hatte! Und wie sich Janne in der letzten Zeit verdüstert hatte, war rein unvernünftig, beinahe schlimmer als Valle selbst. Der Alte war, wie man sagt, innerlich zusammengebrochen. Wer aber nicht zusammenbrach, das war seine Mutter, die Ärmste! Sie und der Norweger, jawohl ... Es geht wunderlich zu auf der Welt.

Das Fernrohr dreht sich nach Süden, wo der Leuchtturm von Galten in den Gesichtskreis tritt, und es wandert noch ein Stück weiter. In der Rundung taucht ein schwarzer Schiffsrumpf auf, ohne Masten und Rauchfahne, aber mit dem Bug hoch in der Luft. Das Ungetüm sieht aus wie ein weggeworfener eingedrückter Stiefel, den jemand am Horizont festgenagelt hat.

Dies ist eine eigene Geschichte. Kaum hatte nach dem Winter die Schiffahrt wieder begonnen, als ein Norweger, ein kleineres mit Holzlast nach Süden fahrendes Schiff, unter Volldampf auf eines der allbekannten Riffe dort draußen auflief, wobei ihm von dem Stoß die Masten geknickt wurden. Schwer diesig war es zwar, aber sonst vollständig ruhige See. Mit Sack und Pack ging die Besatzung in die Rettungsboote und ruderte, vom Heulen der Sirene geführt, nach Galten. Dort trank man erst eine Weile, wenigstens so lange, bis der Kapitän mit dem Großmaul, dem Leuchtturmwächter, gut Freund geworden war. Dann bat er ihn beweglich, wegen des Unglücks eines andern keinen großen Lärm zu schlagen, sondern der Sache ihren Lauf zu lassen. Es würde schon alles in Ordnung kommen. Allerdings, das Motorboot, das in den Davits hing, habe Maschinenschaden, und die einzige Möglichkeit, sich der Außenwelt mitzuteilen, bestehe in Signalraketen und Nebelsirenen – drahtlose Telegraphie gebe es doch wohl auf dem Leuchtturm noch nicht, nicht wahr? Na also ... Ja, da müßten sie selbst mit den Rettungsbooten an Land rudern – der jüngste Leuchtturmwächter käme wohl als Lotse mit? Hier könnten sie unmöglich bleiben. Es eile mit einem Bergungsdampfer und der Seeverklarung, und wenn ein Sturm käme – was Gott verhüte –, würden sie nicht nur ihr liebes Fahrzeug verlieren, sondern auch hier zwischen den Klippen, wo kein Anlegen möglich sei, ihrer Boote verlustig gehen. Ja, Dank und Lebewohl; zwei von der Besatzung würden zur Bewachung zurückbleiben. »Aber die Raketen sparen, Leuchtturmwächter!«

Dieser Abend wurde nicht so wie andere auf dem Tveholm. In der Dämmerung sah es aus, als ob zwei Rettungsboote mit ganz steifgefrorenen Ruderern daherkämen, so langsam ging es; aber statt dessen kletterten ein Dutzend muntere Norweger in Pelzmänteln heraus. Als Janne sich erbot, sie in der Dunkelheit ins Dorf zu lotsen, bekam er sofort eine Flaschenmündung ins Maul gesteckt. Alles war gut, so wie es war; und wo man war, wollte man über Nacht bleiben, weil es doch zwei Katen hier gab. Der Kapitän taumelte mit einem Schiffsbarometer in der Hand herum, das, sooft er daran klopfte, um einen Strich fiel. Er war nun so betrunken, daß er offen erklärte, schlimmeres Teufelszeug als Bergungsdampfer, diese Hyänen, gebe es nicht unter der Sonne. Denn wenn man ein Schiff aufgeknallt habe und sonst alles gut abgelaufen sei, dann wolle man doch zum Henker die volle Versicherungssumme. Bei den jetzigen schlechten Zeiten ... Das meine wenigstens der Oberbonze, der Reeder. Und das Barometer fiel.

Am nächsten Tag hatten die Leute es auch noch nicht eilig, den Tveholm zu verlassen. Und der Kapitän setzte seinen Willen durch, wie die bösen Vorsätze in dieser Welt anscheinend nur allzu oft Beistand durch eine geheime Macht aus dem Abgrund erhalten. Es kam ein Südweststurm, der die Decklast wegschwemmte, den Dampfer noch weiter in den seichten Grund hineintrieb und ihm den Boden abschälte. Als der Sturm abflaute und sich draußen zwei Bergungsdampfer zeigten, war das Schiff schon ein vollständiges Wrack.

Nach vielem Hinundherfahren zum Havaristen gingen endlich die Norweger ihres Weges nach ihrem Heimatland und zu den Seeverklarungen. Einen einzigen Mann ließen sie auf dem Tveholm zurück zum Ausschauhalten und Überwachen von dem, was von dem Fahrzeug noch vorhanden war. Das war der zweite Steuermann, ein gesitteter und gutmütiger Mann in den Vierzigern. Er zog in Valfrids Kate am Nordstrand und zahlte ordentlich. Während der Mahlzeiten droben bei seinen Wirtsleuten saß er mit kindlich großen Augen in dem glatten Gesicht da und berichtete auf seine gelassene Weise von Passatwinden und Palmen, St. Elmsfeuern und tropischen Gewittern; er verbreitete in dem herrschenden Trübsinn ein eigenartiges Behagen um sich. Sonst trieb er sich meist müßig herum, half höchstens ein wenig beim Fischen, wobei er bezweifelte, ob es sich der Mühe verlohne, so kleinen Tieren wie Strömlingen nachzustellen.

Aber wer in diesen Wochen auflebte, das war Elfrida. Sie empfand dunkel, daß sie Jahr um Jahr wie eine hinwelkende Balsamine dagestanden hatte, eingepreßt in den engen Topfscherben ihres Leids und mit den Wurzeln in verfaulter Erde, nur begossen von den süßen, aber giftigen Tropfen, die von den eigenen kranken Blättern troffen. War ihr jemals von irgendeiner Seite etwas Pflege zuteil geworden, so war es stets in einer allzu kalten und harten Weise geschehen. Jetzt erwachte tief drinnen in ihr ein Echo von dem, was einst gewesen war – ein kurzes, gesundes Leben unter einer beschützenden Sonne. Ihr kam eine Ahnung, wie alles hätte werden können, wenn eine starke, fürsorgliche Hand zu rechter Zeit das kranke Gewächs in andere Erde und unter andere Winde verpflanzt hätte. War es dazu rettungslos zu spät? Vielleicht im wirklichen Leben; aber träumen konnte sie doch ein wenig von etwas anderem. Ihr ganzes erfrorenes Bedürfnis nach Zärtlichkeit, alles von ihr selbst erstickte Sehnen sammelte sich in einem letzten und geheimen Schrei nach dem Mann, dem Beschützer, dem Erwärmer, dem Geliebten. Sie ging in einer seltsamen Mischung von Vorahnung und Auftauen herum. Jedes Wort, das der Norweger sprach, fiel wie ein warmer und lebenspendender Tropfen in ihr durstiges Innere, jeden Blick seiner Augen sog sie in sich, wie die Hoffnung auf einen Sonnenaufgang. Alle ihre aufgesparten, brachgebliebenen Kräfte rührten sich, neuer Saft strömte durch die beinahe dahingewelkten Wurzeln ihres Lebens, und sie trieb eine verspätete, wehmütige Blüte. Etwas von mädchenhafter Weichheit kam wieder über sie, wenn auch jetzt in einer vollblütigeren und zugleich gedämpfteren Form. Jetzt, im Anfang der vierziger Jahre, sah sie wahrhaft jünger aus als sonst im fünfundzwanzigsten mit den verblaßten, verweinten Augen.

»Hoppla, seh ich nicht mehr recht?« sagte die Großmutter und setzte ihre Brille auf. »Dirn, du wirst wieder, du wirst wieder! Hast du angefangen deinen Verstand zu gebrauchen und bist auf gesündere Gedanken gekommen? Na ja, Jugend will ihr Recht, früher oder später.«

Die Großmutter war jetzt so steif von der Gicht, daß sie nicht mehr wie früher in ein Boot stieg und nach dem Tveholm hinüberfuhr. Daheim in Askvik sprach sich die Alte so aus, bei einem der seltenen Besuche ihrer Tochter. Und ihren weißen Kopf wiegend, setzte sie hinzu: »Na ja, na ja, nichts mehr davon, wie rote Backen du gekriegt hast. Janne ist zu alt, meinst du? Scheint aber doch, daß er dich endlich auf den Trab gebracht hat. Ich hoffe, du probierst's, Dirn!«

Elfrida lief nicht zur Tür hinaus wie sonst wohl. Gelassen saß sie da, mit einem merkwürdigen Glanz in den Augen.

Vielleicht ahnte die Großmutter als Menschenkennerin, daß hinter der Verwandlung der Tochter ein anderes lebendes Wesen stehen müsse, und daß dieses Wesen kaum Janne sein konnte. Was dieser selbst von seiner Frau dachte, ist schwer zu wissen. Vielleicht merkte er äußerlich überhaupt nichts; ein Gesicht, das man Jahr um Jahr täglich sieht, sieht man ja schließlich nicht mehr. Aber soviel sah er jedenfalls, daß es mit den Tränen und dem ewigen Jammer zu Ende war, und das war das einzige, wovon er sich in dieser verwünschten Welt befriedigt fühlte. Wenn er dabei den Norweger halbwegs im Verdacht hatte, so war er diesem eher dankbar für die Hilfe und ließ ihn in Ruhe weitermachen, so lange seine Ehre nicht verletzt wurde. Elfrida hatte er lange schon satt. Seine knochige Brust war ausgefüllt von einem einzigen Gefühl: dem Haß auf Ankarö!

Valfrid hatte die Verwandlung seiner Mutter zuerst mit froher Überraschung betrachtet, bald aber nahm ein wachsender Widerwille in ihm überhand. Denn rasch wurde ihm klar, woher diese Erneuerung kam. Zwar ließ sich nichts Böses über den Norweger sagen. Solange er in der Kate neben Valfrids Kammer wohnte, hatte, wenn Janne fort war, niemals bei Nacht die Haustür geknarrt. Immerhin hatte Valfrid gewisse Anzeichen nicht übersehen, die in diese Richtung deuteten, und er war erfahren genug, zu wissen, daß ein angefangener Liebeshandel selten aufhört, ehe alles in die Brüche gegangen ist. Das Wesen seiner Mutter dünkte ihn ein Verrat ebensosehr an seinem Vater wie an seinem Stiefvater. Und mit immer größerem Widerwillen betrachtete er die Frau, in der er bisher einen überirdisch reinen, wenn auch tränenreichen Engel mit gebrochenen Flügeln zu sehen gemeint hatte. Und er kam nun zu demselben unvernünftigen Schluß wie Janne früher – er wälzte die Schuld auch für diese Sache auf Ankarö. Denn wenn die da drüben damals den Vater nicht hätten sterben lassen ... Aber jetzt nahm das Unglück kein Ende mehr.

Ja, die arme Mutter und der Norweger ... Zum Glück wohnte der Mann jetzt seit einer Woche drüben im Dorf, denn er hatte Befehl bekommen, in größerer Nähe von Post und Telegraph zu bleiben. Aber es war sonderbar, wie oft jetzt die Mutter dort etwas zu besorgen hatte; nicht allein Janne sein Essen an den Arbeitsplatz zu bringen, sondern auch noch allerlei anderes. Sie, die früher niemals ins Dorf gefahren war ... Pfui Teufel, so ein falsches Spiel!

Das Fernrohr auf dem Stein verläßt das dunkle Wrack und wendet sich gegen Norden. Sein rundes Gesichtsfeld gleitet über die Wasserfläche hin, auf der sich unnatürlich viele kleine spitzige Wellen kräuseln, und landet in einem Gewimmel von blitzenden Sonnenstrahlen und umherfliegenden Seevögeln, einige näher, so daß Valle die schweren Körper vor der Linse vorüberstreichen sieht, andere aber nur als wellige Dunststreifen gegen den Horizont und den Himmel. Jetzt fängt das Fernrohr etwas ein, was aussieht wie ein langer Schnee- oder Schaumstreifen auf dem Wasser. Das sind Hunderte von Eiderenterichen, die in einer langen Reihe liegen und sich auf dem Fjord treiben lassen. Ei, ei, ist der Hochzeitstanz jetzt zu Ende?

Einen Augenblick erscheint Kopparkläppen im Rund des Fernrohrs. Dort irgendwo verläuft die unerträgliche neue Grenze; jetzt ist er auf dem Gebiet des Feindes. Aber der Lichtkreis macht weiter den bekannten Weg; er wandert über Lekatten nach dem Mößgrund, wird mittendurch von einer hohen Feuerbake, unten rot und oben weiß, durchschnitten, nimmt undeutlich den Signalmast auf dem Hügel, das Wohnhaus, die Landungsstege mit hinein. Ein großes Motorboot strebt dort dem Hafen zu; Valle meint zu sehen, daß es reichlich aus dem Auspuffrohr qualmt – aha, zuviel Öl, jawohl! Ist das der Junker mit Tuva, die nach den Zugnetzen gesehen haben – habt ihr viele Fische bekommen aus eurem königlichen Wasser, ihr Schutzbefohlenen Karls des Elften? Die beiden gelten schon lange als Brautpaar, obgleich die Verlobung niemals bekanntgegeben worden ist. Was ging ihn das an? Keinen Pfifferling!

Valfrids eine Stiefelspitze stößt heftig in die Rollsteine hinein, zwischen denen er mit dem Fernrohr liegt. Er kann darauf schwören, daß ihn diese Sache nicht das allermindeste angeht.

Er war mit Tuva während der letzten Jahre nur selten zusammengetroffen und hatte dann kaum mehr als ein paar gleichgültige Worte mit ihr gewechselt. Aber er glaubte dabei zu bemerken, daß sie nicht besonders vergnügt aussah. Bekommt man ein schlechtes Gewissen davon, daß man unter Schuften lebt, oder steckt das Böse vielleicht an? Sie war ja ihres Vaters Augapfel, sonst aber wahrhaftig keine Zimperliese, so klein und zart sie auch aussah. Meist war sie mit dem Leuchtturmwächter, dem dicken Schandkerl, auf See; auf allen seinen Ausflügen mußte er sie mit im Boot haben, ob er Fische fing oder Seehunde schoß oder Lotsenarbeit hatte. Na ja, überdies gehörte sie zu dem Ankaröpack und war ihm gleichgültiger als eine junge Katze, das konnte er beschwören. Aber dem Alten wollte er es schon noch eintränken.

Eigentlich war er einmal nah daran gewesen, sich mit dem Junker auszusöhnen, damals auf dem Marsch nach Åbo, den sie als Kriegskameraden gemacht hatten. Lange zogen sie dahin und belauerten einander; aber bei der ernsten Lage, in der sie beide steckten, fiel allmählich der alte Groll von ihnen ab. Während jenes Marsches hatte der Junker ganz unleugbar zu den tüchtigsten gehört: er quasselte weder von Mädchen, noch meckerte er sein widerliches stoßweises Gelächter von früher. Und damals bei Lohm, das einzige Mal, wo sie auf härteren Widerstand gestoßen waren ...

Valfrid legte den Finger auf die rote Narbe über seinem linken Auge. Ein ehrenvolles Andenken an einen Schuß oder einen Säbelhieb ist sie nicht, nichts zum Bewundern für die Weiberleute, oder um auf dem Fischerfest am Bysund zu prahlen. O nein! In der großen Eile bei Lohm war er auf dem brüchigen Frühlingseis ausgeglitten und so hart vornüber auf den Verschluß einer Kugelspritze gefallen, daß er das Bewußtsein verloren hatte. Und wer war es gewesen, der ihn in eine geschützte Felskluft schleppte und gleich darauf Blei aus der Spritze sausen ließ? Ja, verteufelt ritterlich hatte sich der Junker damals benommen! Allerdings, als sie beide wieder daheim waren, ging der eingepeitschte alte Tanz von neuem los, und wieder waren es die Ankaröer gewesen, die den Anstoß gaben.

Was soll das heißen, das Netz anderer in tiefes Wasser zu bugsieren, wenn es an dem Platze liegt, wo es immer gelegen hat? Das hatte im letzten Herbst dies Ankaröpack ganz unerwartet gemacht, schon bevor etwas von einem Richterspruch und von neuen Wassergrenzen verlautete, bei denen nicht einmal Gott Vater hätte sagen können, wo sie liefen. Allerdings war kurz nachher ein nagelneues Zugnetz der Ankaröer von der See verschlungen worden, und so war das Spiel eine Weile weitergegangen, Netz um Netz, Masche um Masche. Der Unterschied war nur, daß die eine Seite offen und bei Tageslicht ausführen konnte, was die andere bei Nacht zu tun genötigt war. Und jetzt im Frühjahr hatte der Tveholm kein Geld mehr, diesen Krieg weiterzuführen. Nun mußte etwas anderes ausgedacht werden.

Valfrid richtet sich auf und schiebt die drei Teile des Fernrohrs ineinander. Hinter dem Hügel, drüben bei den Uferschuppen, flattert eine Reihe von Netzen im Wind, die dort an ihren Stangen zum Trocknen hängen. Er will sie wieder mit Senksteinen versehen und dann einige Barschnetze lohen, die während des Winters ausgeblichen sind. Ob wohl die Mutter den Waschkessel mit kochendem Rindenwasser bereit hatte? Aber zuerst mußte er ja hinaufklettern und nachsehen, ob neue Säger-Eier da waren. Die Säger sind um diese Jahreszeit die Leghühner aller armen Leute in den Schären.

Wie große Telephonkasten hängen in den Erlen am Strand um den ganzen Holm herum die Nistkasten der Säger, das finstere Auge des Fluglochs gegen die See gerichtet. Valfrid tritt zum nächsten Baum und schlägt mit einem Stock ein paarmal kräftig gegen den Stamm. Das plumpe Weibchen dort oben streckt den Hals heraus, wirft sich mit ausgebreiteten Flügeln in die Luft und fliegt schreiend dicht über der Wasserfläche gen Norden. Valle bleibt stehen, schaut ihm nach und vergißt, über die gestutzten Äste zu dem Nistkasten hinaufzuklettern.

Merkwürdig, wie weit der Vogel fliegt! Valle muß von neuem das Fernrohr benutzen. Wie ein finsterer Unglücksrabe irrt der Vogel über die weite Wasserfläche hin, macht eine Schleife gegen die »Morgengabe«, als wolle er niederstoßen, steigt aber wieder und steuert auf Ankarö zu.

»Nimm meine Verwünschungen mit!« denkt Valle.


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