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Siebentes Kapitel,

worin bewiesen wird, daß, wer der Szylla entgangen ist, noch nicht seine Rechnung mit der Charybdis gemacht hat

Ohne ein Wort über das zu sagen, was er gesehen hatte, sprang Philipp in das Boot und ergriff die Ruder. Don Ramon auf der Bank vor ihm saß ebenso stumm wie er, behutsam die schlanke Gestalt der Großfürstin mit beiden Armen umschließend. Er schien weder die Hast bemerkt zu haben, mit der Herr Collin aus dem Schuppen gestürzt war, in den er die Bahre getragen hatte, noch die rasende Geschwindigkeit, mit der er jetzt vom Ufer fortruderte. Was Philipp betrifft, so hatte sein Hirn nur Raum für zwei Dinge: die Hand, die ihn dort drinnen gestreift hatte, kalt, klebrig, starr, und das arme, entstellte Gesicht, das plötzlich auf ihn herabgestarrt hatte. Er ließ die Ruder das Wasser peitschen; das Boot flog durch den grauen Nebel dahin, ohne daß er daran dachte, welche Richtung es nahm, und es waren wohl zehn Minuten vergangen, bevor seine Erregung von einem etwas normaleren Gemütszustand abgelöst wurde.

Dann wich so allmählich der ärgste Schrecken aus seinem Kopfe; er ließ die Ruder ruhen und wischte sich den Schweiß von der Stirne. Der Großherzog schien es ebensowenig zu bemerken, daß das Rudern aufhörte, wie daß es begonnen hatte.

»Hoheit!« sagte Philipp.

Don Ramon rührte sich nicht.

»Hoheit!« wiederholte Philipp mit erhobener Stimme. »Haben Hoheit eine Ahnung, wo die Yacht liegt?«

Endlich fuhr Don Ramon auf. »Die Yacht,« murmelte er, »ja, die Yacht, ... nein, Professor, straf mich Gott, wenn ich das weiß.«

»Wir müssen rufen,« sagte Philipp.

Er richtete sich im Boot auf und hielt die Hand vor den Mund.

»›Storch‹, ahoi! Kapitän Dupont!!«

Keine Antwort kam auf seinen Ruf.

»Ahoi, Kapitän Dupont! Ahoi, ›Storch‹!«

Es blieb ebenso stumm nach diesem Ruf wie nach dem ersten. Philipp wiederholte ihn noch einmal, das Ergebnis war dasselbe. Nichts war zu hören, nichts in dem Nebel zu sehen.

Philipp warf einen Blick auf den Großherzog: das war wirklich gemütlich! Sollte Kapitän Dupont abgesegelt sein, oder war ihm zulande etwas passiert? Plötzlich kam ihm eine Idee.

Aus der Tasche zog er einen der Revolver, die er von den Abenteuern des Abends bei sich hatte. Ihn gerade in die Luft richtend, gab er einen Schuß ab. Dann noch einen.

Die Wirkung war augenblicklich, aber eine ganz andere, als er sich gedacht hatte.

Bevor noch das dumpfe Echo der Revolverschüsse verklungen war, wurde der Nebel rings um sie von einem milchweißen Lichtkeil gespalten, der rasch über das Wasser hin und her zu fegen begann. Ein Scheinwerfer! Ein Scheinwerfer!! Dann kam ein Ruf in einer fremden Sprache, ein Augenblick der Pause, und dann ein dumpfer Schuß. Im nächsten Moment hatte der Lichtkeil ihr Boot gefunden, und sie suchten mit geblendeten Augen zu erforschen, woher er kam. Das Boot, sich selbst überlassen, begann zu treiben.

Philipp griff rasch nach den Riemen und begann zu rudern, um aus dem Lichtkreis herauszukommen. Kaum hatte er drei Ruderschläge gemacht, als ein neuer Schuß über ihren Köpfen knallte und eine Stimme in leidlichem Spanisch rief:

»Stopp, ihr dort, wenn ihr nicht erschossen werden wollt! Wer seid ihr, und was sollen diese Schüsse bedeuten?«

»Schüsse,« rief Philipp zornig zurück. »Wer schießt mehr, Sie oder ich? Ich habe eine Yacht hier im Hafen liegen und versuche den Kapitän zu alarmieren.«

»Sie lügen!« rief die Stimme über ihnen. »Hier ist nicht der Hafen. Rudern Sie sofort hierher, und lassen Sie sich inspizieren. Sofort, sonst schieße ich ... Irgend so ein verfluchter Rebell,« hörte Philipp ihn hinzufügen, offenbar zu einer anderen Person.

Philipp und der Großherzog starrten sich mit derselben Frage in den Augen an. Träumten sie? Waren sie wach? Sie waren nicht im Hafen? Ein Scheinwerfer! Ein fremdes Fahrzeug – vermutlich ein Kriegsschiff! Die Lügen des Großherzogs schienen in einer Weise in Erfüllung zu gehen, die alle Erwartungen übertraf! Ihr Erstaunen hatte noch nicht viele Sekunden gedauert, so knallte wieder ein Schuß und eine Kugel schlug kaum einen Meter von ihnen im Wasser ein!

»Um Gottes willen, rudern Sie, Professor!« sagte Don Ramon. »Das ist ja ärger als eine Tollhausfantasie.«

Ohne zu antworten, riß Philipp die Ruder an sich und schleuderte das Boot in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Sein Gehirn, das nicht zu den unempfänglichsten gehörte, weigerte sich, diesem Phänomen Wirklichkeit zuzusprechen; es mußte ein Traum sein. Plötzlich sah er einen Riesenschatten im Nebel über seinem Kopfe auftauchen und hörte dieselbe Stimme wie früher rufen:

»Stopp! Wartet da, wo ihr seid!«

Einige Augenblicke vergingen, dann streckte sich ein Bootshaken aus der grauen, glattgepanzerten Seite des Fahrzeugs neben ihnen aus; ihr Boot wurde langsam zu einer Plattform an der Schiffsseite dicht über der Wasserlinie herangezogen, und er sah zwei Menschen in Uniform. Das Licht war unbestimmt, er konnte ihr Aussehen nicht unterscheiden. Der eine, der sehr groß war und vermutlich derjenige, der vorhin gerufen hatte, murmelte seinem Kameraden etwas in einer fremden Sprache zu, dann sagte er auf Spanisch:

»Euer Glück, daß ihr gehorcht habt ... Teufel, wie ihr ausseht! Seid ihr Rebellen? Kommt an Bord und gebt Rechenschaft.«

»Mit welchem Rechte verlangen Sie das?« fragte der Großherzog hitzig.

»Mit dem Rechte des Stärkeren. Außerdem als Wächter von Gesetz und Ordnung hier.«

»Sauberer Wäch...« begann Don Ramon, aber verstummte, als Philipp ihn am Ärmel zupfte. »Wollen Sie die Güte haben, mir bei dieser Dame behilflich zu sein? Sie ist krank.«

»Eine Dame! Ein Picknick um diese Tageszeit!« Der fremde Mann in Uniform fügte noch einige Worte hinzu, die vermutlich ein erstaunter Fluch waren; und plötzlich zuckte Philipp zusammen, denn er hatte die Sprache erkannt. Russisch! Beim Zeus, russisch! Dann beugte sich der Uniformierte herab, und mit einer Behutsamkeit, die von seiner früheren brüsken Art abstach, half er Don Ramon und der Großfürstin, die sich noch in einer Art Betäubung an den Großherzog klammerte, die Landungstreppe hinauf. Don Ramons Haltung wurde etwas milder, und er dankte mit einer Neigung des Kopfes, indem er, stark hinkend, mit seiner Last die schmale Eisentreppe zu erklimmen begann.

»Ihr Freund ist verwundet, Señor?« fragte der Mann in der Uniform Philipp.

»Ja,« erwiderte Philipp kurz. »Darf ich fragen, ob Sie uns lange an Bord zu behalten gedenken?«

»Bis ich Ihnen einige Fragen gestellt habe.«

»Viele?«

»Es kommt darauf an.«

»In diesem Falle würden Sie nur Ihre Pflicht als Offizier und Gentleman tun, wenn Sie dafür sorgten, daß die junge Dame, die mein Freund trägt, ordentlich gepflegt wird. Sie ist krank – fiebert. Haben Sie einen Arzt an Bord?«

»Ja, Sie haben recht. Ich werde sogleich dafür sorgen.«

Philipp und die beiden Offiziere – denn das waren sie offenbar – eilten die Treppe hinauf, und Philipp wechselte einige Worte mit dem Großherzog. Ohne etwas zu sagen, folgte Don Ramon, noch immer die Großfürstin in den Armen, dem kleineren der beiden Offiziere, dem der andere eine Order gegeben hatte. Drei Minuten später kehrten sie allein zurück.

»Nichts Böses, das nicht auch etwas Gutes im Gefolge hätte,« murmelte Don Ramon Philipp auf französisch zu: »Armes Kind, jetzt hat sie doch wenigstens Pflege.«

»Sie sprechen französisch?« fragte der größere der beiden Offiziere rasch. »Seien Sie ganz ruhig, ich habe nicht gehorcht. Ich glaubte es nur zu hören.«

»Ja,« erwiderte der Großherzog, jetzt durch seine Art ganz besänftigt, »wir sprechen französisch.«

»So? Vortrefflich. Können Sie mir also sagen, was hierzulande vorgeht?« Er nickte in der Richtung nach Minorca. »Dauert die Revolution noch an? Es ist so verteufelt still.«

»Die Revolution«, sagte Don Ramon ruhig, »wurde heute abend abgeschlossen. Darum ist es so still.«

»Heute abend abgeschlossen! Mille diables! Woher wollen Sie das wissen? Stehen Sie da und machen Sie sich über mich lustig?«

»Keineswegs. Die Revolution wurde heute abgeschlossen, und ich weiß es, weil wir, ich und mein Freund hier – ich sollte eigentlich sagen, mein Freund und ich – sie abgeschlossen haben.«

» Mille diables! Sie müssen verrückt sein! Sie und Ihr Freund? Wer zum Teufel ist Ihr Freund? Und wer sind Sie?«

»Mein Freund, Monsieur, ist Professor Pelotard aus Schweden, und ich bin der Großherzog von Minorca.«

Es lag vielleicht mehr als eine Unze Selbstgefälligkeit und nicht sowenig Effekthascherei in Don Ramons Stimme, als er dies sagte, aber der Effekt, den er durch seine Antwort beabsichtigt hatte, wurde weit von dem übertroffen, den sein Gegenüber durch seine erzielte.

Ohne einen Augenblick des Zögerns führte er die Hand an den Mund, ein kurzer, scharfer Pfiff aus einer Signalpfeife ertönte, und während man aus der Entfernung Schritte hörte, die herankamen, sprach er die folgenden erstaunlichen Worte:

»Sie sind der Großherzog von Minorca? Ausgezeichnet! Dann schwöre ich, daß Sie in einer halben Stunde am höchsten Mast hängen werden!«

Don Ramon und Philipp machten jeder einen Schritt zurück, und während sie einander anstarrten, hatte Philipp dasselbe Gefühl wie vorhin, als er durch den Nebel ruderte. Das ist ein Traum, das ist nicht möglich, diese Worte sind nie gesprochen worden! Sie sind der Großherzog von Minorca, dann werden Sie in einer halben Stunde am höchsten Mast hängen! Wahrhaftig, der arme Don Ramon begann etwas zu häufige Erfahrungen dieser Todesart zu haben ... Aber es war ja unmöglich, sie hatten sich verhört, sie träumten! ... Dann, ebenso rasch wie dieses überwältigende Gefühl eines Alptraumes kam das Wort, das Philipp daraus herausriß.

Die Schritte waren rasch näher, bis auf sie zugekommen; in dem undeutlichen Lichte sah Philipp einen neuen Offizier in den Farben der russischen Marine, er salutierte, und dann folgten die Worte, die ihm die Erklärung des Ganzen gaben. Der lange Offizier sagte neben ihm auf französisch, vermutlich in der Absicht, daß sie es verstanden:

»Barinsky, lassen Sie sofort Herrn Marcovitz wecken und sagen Sie ihm, er möge in meine Privatkajüte kommen.«

Marcovitz! Marcovitz! ertönte es in Philipp. Marcovitz! Dann wendete sich der lange Offizier an ihn und den Großherzog und sagte kurz:

»Kommen Sie mit! Sie tun am besten, kein Aufhebens zu machen.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er ein paar Schritte voraus. Der Großherzog, der, seit er den Namen gehört, den der lange Offizier ausgesprochen, wie gelähmt dastand, steckte rasch die Hand in die Tasche, in der er seinen Revolver trug, und es trat ein Ausdruck der Verzweiflung in seine Augen, den Philipp verstand und billigte. Aber ehe noch Don Ramons Hand die verhängnisvolle Tasche erreicht hatte, fühlte er sein Handgelenk von Philipps Fingern umschlossen. Philipps Hand zog ihn vorwärts, dem langen Offizier nach, und Philipps Stimme flüsterte in sein Ohr:

»Rasch, Hoheit, rasch! Hier ist meine Brieftasche! Geben Sie mir Ihre eigene! Verwenden Sie meine Brieftasche, aber erst in letzter Minute! Was Sie brauchen, ist darin! Und leugnen Sie alles, aber spielen Sie Ihre Rolle gut!«

Don Ramons Hand, die noch kämpfte, um die Tasche mit der kleinen Waffe zu erreichen, hielt inne, und mit Augen, die vor Staunen ganz starr waren, befolgte er mechanisch die Weisung, die er gehört, aber von der er kein Wort verstanden hatte. Ehe er noch eine einzige der Fragen gestellt hatte, die ihm auf der Zunge brannten, hatte sich der lange Offizier, der im Nebel vor ihnen nur undeutlich sichtbar war, umgedreht und gerufen:

»Na, kommen Sie? Beeilen Sie sich, es ist am besten für Sie selbst!«

Philipp bat den Großherzog durch einen Blick zu schweigen und erwiderte artig:

»Wir kommen, so rasch wir können. Sie wissen, daß Seine Hoheit verwundet ist!«

Der lange Offizier murmelte etwas Unhörbares; in der nächsten Sekunde standen Philipp, der Großherzog und er in einer spartanisch möblierten Kajüte; das Licht fiel auf sein Gesicht und Philipp zuckte zusammen und verschluckte einen kernigen schwedischen Fluch!

Denn! ...

Aber bevor er noch die Gedanken zu Ende denken konnte, die in seinem Innern emporwirbelten, wurde die Kajütentür aufgerissen, und ein dicker, untersetzter Mann kam hereingestürzt. Er war vor Erregung ganz rot im Gesicht, seine Kleider waren offenbar in größter Eile angelegt und aus seinem offenen Munde drang ein zischender, dicker Laut, halb Befriedigung, halb Gemütserregung. Er war von dem Offizier begleitet, den sie schon vorher auf dem Verdeck gesehen hatten. Der Großherzog warf einen Blick auf den dicken Mann und wurde bleich wie der Tod. Dieser begann zu gestikulieren und in einem Dialekt, in dem die Worte sich überstürzten, zu reden, bis er vor einer Geste des langen Offiziers verstummte.

»Still, Marcovitz!« schrie dieser. »Warten Sie, bis die Reihe an Sie kommt!«

Er wendete sich an den Großherzog und sagte kurz:

»Kennen Sie diesen Mann?«

Don Ramon warf blitzschnell einen Blick auf Philipp, der rasch ermunternd nickte.

Don Ramons Züge bekamen ihren gewöhnlichen, ruhigen, selbstzufriedenen Ausdruck wieder, und er erwiderte in ebenso knappem Tone wie der lange Offizier:

»Nein, ich habe ihn nie gesehen. Darf ich Sie bitten, mir zu sagen, was der Zweck dieses Verhöres ist?«

»Sie werden es sofort erfahren,« sagte der lange Offizier in demselben brüsken Tone. »Bevor wir fortfahren, frage ich Sie noch einmal, ob Sie bei Ihrer Behauptung von vorhin bleiben. Sie sind der Großherzog von Minorca?«

»Der bin ich, und ich bin es nicht gewohnt, von einem fremden Offizier in meinem eigenen Lande einem Verhör unterzogen zu werden.«

»Sie täuschen sich, wenn Sie glauben, daß Sie in Ihrem eigenen Lande sind. Sie sind in Rußland, da Sie sich an Bord eines russischen Panzerkreuzers befinden, und hier befehle ich. Sie kennen also diesen Mann nicht?«

»Nein,« erwiderte der Großherzog ebenso kalt wie früher mit einem verachtungsvollen Blick auf Herrn Marcovitz. »Ich habe ihn noch nie gesehen.«

»So, er hat mich noch nie gesehen! Er kennt mich nicht! Beim lebendigen Gott, das ist großartig! Und meine 300 000 Pesetas – die kennt er auch nicht, was? Die hat er auch nie gesehen ...«

»Schweigen Sie, Marcovitz!« brüllte zum zweiten Male der lange Offizier. »Warten Sie, bis Sie an die Reihe kommen, habe ich Ihnen schon gesagt, und hüten Sie sich, dem, was ich sage, zuwiderzuhandeln. Sie sind in Rußland, Marcovitz, nicht in Frankreich. Sie verstehen den Unterschied?«

Der kleine Mann, der sofort verstummt war, sah ihn mit Augen an, in denen die ererbte Angst von Generationen zu lesen war. Eine Strähne seines schütteren Haares löste sich und fiel ihm ins Gesicht. Der lange Offizier, der ihn schweigend fixiert hatte, wendete sich nun wieder dem Großherzog zu:

»Dieser Mann«, sagte er mit einer Kopfbewegung nach Herrn Marcovitz, »kam in Marseille an Bord, gerade als ich den Befehl des Bootes übernommen hatte, und bat um eine Audienz. Ich schlug sie ihm ab, bis er mir durch meinen Adjutanten eine Geschichte erzählen ließ, von so unerhörter Art, daß ich sie zuerst nicht glauben wollte, dann mußte ich mich aber aus Rücksicht für Rußlands kaiserliches Haus doch überzeugen, ob sie wahr sei oder nicht ... Eine Großfürstin von Rußland stand vor zwei Jahren im Begriffe, sich mit dem Großherzog von Minorca zu verloben, doch die Verlobung scheiterte an dem Widerstande ihres hohen Vaters. Die Prinzessin, die sich merkwürdigerweise in besagten Großherzog verliebt hatte, obgleich sie ihn nie gesehen, war von romantischem und überspanntem Naturell. Eines schönen Tages schrieb sie insgeheim einen Brief an ihn, der voll von jenen unvorsichtigen Ausdrücken war, die ein junges Mädchen bei solchen Anlässen so leicht anwendet ... Es wäre seine Pflicht gewesen, den Brief zurückzusenden, er tat es nicht. Seine Lage, die schon von seiner Thronbesteigung an prekär gewesen war, war für den Augenblick verzweifelt, und ... und nun kommt Marcovitz' Geschichte. Für den Augenblick war seine Lage so verzweifelt, daß er sich durch einen Zwischenträger an diesen Marcovitz wendete, dessen Adresse er durch dritte Hand erhalten hatte und – den Brief der jungen Prinzessin bei Marcovitz verpfändete, der ein Geschäft in dieser Branche betreibt ... Er verpfändete ihn für 300 000 Pesetas, die heuer gerade um diese Zeit zu bezahlen gewesen wären. In Minorca brach die Revolution aus. Das Telegraphenkabel wurde abgeschnitten, und Marcovitz konnte sich keine Gewißheit über das Schicksal des Großherzogs verschaffen. Er hatte den Verdacht, daß die Revolution ein Bluff sei, um die Gläubiger des Großherzogs zu prellen, und er fürchtete, seine 300 000 zu verlieren. Zufällig befand er sich in Marseille, von wo er vergebliche Versuche machte, nach Minorca hinüberzukommen, als er erfuhr, daß ich auch da weilte. Er suchte mich auf und erzählte seine Geschichte. Im Hinblick auf das kaiserliche Haus von Rußland ließ ich ihn an Bord kommen, und wir begaben uns nach Minorca, wo wir seltsamerweise sofort nach der Ankunft den Besuch des Großherzogs erhalten, der behauptet, die Revolution soeben erstickt zu haben ... Habe ich mich deutlich ausgedrückt? Und wollen Sie mir sagen, was Sie zu erwidern haben?«

Don Ramon, der äußerlich unberührt die Erzählung des langen Offiziers angehört hatte, warf wieder einen blitzschnellen Blick auf Philipp. Philipp allein las die Angst, die ihn erfüllte, wieder nickte er rasch aufmunternd, und Don Ramon sagte kalt:

»Bevor ich antworte, möchte ich eines fragen: ist es die Regel, daß ein Offizier der russischen Marine augenblicklich eine Geschichte glaubt, die ein Mann von Herrn Marcovitz' allbekanntem Beruf ihm auftischt?«

Der lange Offizier errötete leicht bei seinem Ton und sagte etwas artiger:

»Hoheit können überzeugt sein, daß dies nicht der Fall ist. Hätte Marcovitz seine Geschichte erzählt, ohne Beweise vorzulegen, ich hätte ihn sofort krummschließen und erschießen lassen.«

»Aber er hat nicht ohne Beweise erzählt,« schrie der kleine Mann. »Er hat nicht ohne Beweise erzählt! Marcovitz lügt nicht, er nicht. Hoheit leugnen! – er verbeugte sich mit ironischer Untertänigkeit vor Don Ramon –, daß Hoheit mich kennen! Wollen Hoheit auch leugnen, daß Hoheit dies kennen?!«

Mit einer raschen Bewegung zog er zwei oder drei zusammengelegte Briefbogen aus der Tasche, entfaltete sie und hielt sie Don Ramon vors Gesicht. Für einen Augenblick drehte sich alles um den Großherzog, und seine Augen suchten verzweiflungsvoll Philipp Collin, dann wendete er sie den Papieren zu, die Marcovitz ihm vorhielt, und er fuhr auf, wie aus einem Traum. Was sollte das bedeuten? Sah er recht? Diese Papiere ... Diese Papiere! Das war ja nur eine plumpe Fälschung! Es war ja kaum die Spur einer Ähnlichkeit weder mit seiner eigenen Handschrift noch mit der Handschrift des unglückseligen Briefes von ihr! Wie um sich zu überzeugen, ob er wachte, heftete er wieder den Blick auf Herrn Collin. Er sah, wie dessen Augenbrauen sich hoben und seine Lippen rasch ein Wort formten. In der nächsten Sekunde verstand er, was für ein Wort es war! B-r-i-e-f-t-a-s-ch-e! Mit fieberhafter Hand riß er die Brieftasche heraus, die er vor einigen Minuten von Philipp für seine eigene bekommen hatte; eine Sekunde, und er hatte sie geöffnet; noch eine Sekunde, und seine Augen waren beim Anblick dessen, was sie sahen, dessen, was zu oberst in der Brieftasche des Professors lag, nahe daran, aus ihren Höhlen zu treten: der Brief! ... Ihr Brief! Dieser kleine leichte Brief, der nun einen Monat lang, seit sein Gewissen aus seiner Betäubung erwacht war, mit dem Gewicht eines Granitblocks auf diesem Gewissen gelastet hatte! War es möglich? Oder war alles nur ein Traum – ein schöner Traum? Er schloß die Augen, und nach einer Zeit, die ihm selbst unendlich lange schien, während sie tatsächlich nur einige Sekunden dauerte, hatte er den Brief aus der Brieftasche gerissen, Marcovitz beiseite gestoßen und sich mit blitzenden Augen dem langen Offizier zugewendet:

»Wollen Sie so gut sein, mir zu sagen, was das ist?«

Der lange Offizier nahm den Brief, den der Großherzog ihm reichte und sah ihn an. Dann murmelte er:

»Es kann ein Brief von meiner ... von der betreffenden Prinzessin sein. Aber Marcovitz hat auch einen Brief mit ihrer Handschrift – und andere Papiere mit der des Großherzogs.«

»Marcovitz! Sie glauben einem elenden Wucherer mehr als dem Großherzog von Minorca! Wahrhaftig, ein Offizier, der ...«

»Erregen Sie sich nicht! Ich schätze Herrn Marcovitz ebenso hoch ein, wie Sie es tun – aber es scheint mir so unglaublich, daß er es gewagt haben sollte, eine solche Geschichte auszuhecken ... er weiß doch, was er riskiert ...«

Der lange Offizier sah Marcovitz an, ohne seinen Satz zu beenden. Dieser war beim Anblick des Briefes des Großherzogs bleich wie der Tod geworden. Bei den Worten des langen Offiziers begann er plötzlich an allen Gliedern wie Espenlaub zu zittern, und eine Wortflut strömte über seine Lippen:

»Aber ich versichere ... ah, das ist unerhört ... er betrügt Eure Hoheit ... er betrügt Eure Hoheit! Mein Brief ist der echte, der echte Brief ... seiner ist falsch ... er will betrügen, betrügen!«

Seine Stimme ging in einen schrillen Schrei über, bis der lange Offizier, den er Eure Hoheit tituliert hatte, ihn durch eine einzige kleine Geste seiner Hand verstummen ließ – eine Bewegung des Zeigefingers um den Hals.

»Marcovitz,« sagte er, »schweigen Sie! Vergessen Sie nicht, daß Sie an Bord eines kaiserlich russischen Panzerkreuzers sind und nicht in einer Pfandleiherbutike! Haben Sie recht, so wird Ihnen Recht – und haben Sie unrecht, dann tun Sie mir leid.«

Der kleine Mann hielt sofort inne, vor Angst blinzelnd. Der lange Offizier zog die Augenbrauen zusammen und betrachtete im Laufe einer Minute bald ihn, bald den Großherzog, mit einem Ausdruck tiefer Nachdenklichkeit. Dann wendete er sich an Don Ramon:

»Hoheit, Sie müssen entschuldigen, daß ich noch nicht weiß, was ich glauben soll. Ich kenne Sie nicht; ich kenne Marcovitz nicht; ich bin folglich unparteiisch. Der einzige Grund, weshalb ich Sie nicht schon um Entschuldigung gebeten habe, weshalb ich überhaupt Marcovitz Glauben schenkte, ist die Art von Marcovitz' Geschichte. Wie ich schon sagte, sie ist so wunderlich, daß ... Er weiß doch ganz genau, was er riskiert, wenn sie nicht wahr ist ...«

Bevor noch der lange Offizier seinen Satz abgeschlossen hatte, hörte er zu seinem Staunen jemanden sagen:

»Wenn Eure Hoheit gleich ins klare darüber kommen wollen, was an dieser Sache wahr, was nicht wahr ist, kann ich Eurer Hoheit sofort behilflich sein!«

Er wandte rasch den Blick vom Großherzog ab und dem Sprechenden zu, und sah zu seinem Staunen, daß es der Freund des Großherzogs, der sogenannte Professor war. Er betrachtete ihn mit gerunzelter Stirne; der Professor fuhr fort:

»Nichts ist tatsächlich einfacher als zu entscheiden, welcher Brief der echte ist. Die Briefschreiberin ist ja an Bord.«

»Die Briefschreiberin an Bord! Was meinen Sie?« brüllte der lange Offizier.

»Ich meine, daß die Dame, die mit Seiner Hoheit und mir an Bord kam und eben der Obhut des Schiffsarztes anvertraut wurde, dieselbe ist, die den vieldebattierten Brief geschrieben hat. Mit anderen Worten ...«

»Mit anderen Worten?! Heraus mit der Sprache!«

»Mit anderen Worten Großfürstin Olga Nikolajewna von Rußland.«

Wenn eine Bombe plötzlich in die Kajüte eingeschlagen hätte, in der die beiden Offiziere, Marcovitz, der Großherzog und Philipp standen, so hätte keine größere Bestürzung entstehen können als nach Philipps Worten. Die beiden Offiziere richteten sich jäh auf und griffen nach ihren Säbeln, wie um Herrn Collin für seine Kühnheit auf der Stelle niederzustoßen, während Marcovitz starr wie ein Toter dastand, die Augen unverwandt auf ihn geheftet. Endlich löste sich der Bann. Der lange Offizier warf Philipp einen furchtbaren Blick zu und schrie seinem Kameraden eine Order auf russisch zu. Dieser verschwand; und bei einem Schweigen, das beredter war als viele Bände, beobachtete der Lange jede Bewegung von Herrn Collin, wie um zu überwachen, daß er nach seinen unverschämten Worten nicht etwa entkam. Es dauerte wohl zehn Minuten, während deren Philipp es vermied, dem Blick des Großherzogs zu begegnen; dann hörte man endlich langsame Schritte, und die Tür zur Kajüte wurde geöffnet.


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