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Unter Aufrührern und Schelmen

Erstes Kapitel,

ein Märztag auf dem Meere, und was sich dabei zutrug

Das Mittelmeer wogte um die Flanken der kleinen Yacht; der scharfe Frühlingswind bedeckte es in dem Grade mit Schaum, daß es aussah, als hätte es auf die Wellen geschneit. Der Himmel darüber schien von weißem Lichte erfüllt, darüber schwebten große dünne Wolken, die selbst so weiß waren, als wären sie mit Chlor gebleicht. Die Yacht »Der Storch« pflügte mit kurzen Stößen zwischen Himmel und Erde dahin.

Es war erst sieben Uhr morgens, als die ersten Passagiere sich auf Deck zeigten. Es war der hinkende Graf von Punta Hermosa und sein alter Freund Señor Esteban, die die Treppe von der Passagierabteilung heraufkamen und mit vorsichtigen Schritten über das schwankende Deck zum Kiel hingingen.

Der Graf ließ sich auf einer Deckkiste nieder, die da angebracht war, und winkte seinem Freunde, seinem Beispiel zu folgen.

»Hier können wir ungestört plaudern, Paqueno,« sagte er. »Niemand hört uns, als die Möwen, und die verstehen vermutlich nicht spanisch.«

»Ein schöner Morgen, Hoheit! Schade nur, daß die See so unruhig ist.«

Der Großherzog lachte.

»Wie steht es mit Ihrem Magen, Paqueno? Ist er ebenso sensibel wie auf unserer Herreise?«

»Augenblicklich, Hoheit, fühle ich mich etwas besser. Die Luft hat mir gut getan.«

Der alte Señor Paqueno suchte seine Stimme so munter als möglich zu machen, aber sein bleiches Antlitz verriet, daß es nicht allzu gut mit ihm bestellt war.

»Unsere Herreise,« fuhr der Großherzog fort, »ja, das war eine Tour! Ich hoffe, die Rückfahrt wird besser. Wir haben es ja sehr bequem an Bord. Aber eines muß ich gestehen.«

»Was denn, Hoheit?«

»Daß unser Gastgeber und seine Frau, die übrigens die Liebenswürdigkeit selbst sind, mir etwas mystisch vorkommen. Ein Journalist, der die Mittel hat, sich eine eigene Yacht zu nehmen, um sich eine Schundrevolution in Minorca anzusehen.«

»Die Zeitung zahlt natürlich, Hoheit.«

»Möglich, aber seit wann interessieren sich denn die Zeitungen so sehr für uns, Paqueno? Und dann seine Frau! Die muß doch zehn Jahre älter sein als er.«

»Vielleicht hat er sie des Geldes wegen geheiratet, Hoheit.«

»Tja, das kann ja sein. Nun ja, wenn sie nicht so alt wäre, würde sie übrigens ganz gut aussehen. Es ist auf jeden Fall eigentümlich, daß sie so mit ihm mitfährt. Zuerst hat er doch gar nichts davon erwähnt.«

»Vielleicht hat sie sich erst in letzter Minute entschlossen. Wenn ich etwas über Professor Pelotard und seine Frau sagen darf, so glaube ich eher, daß der Professor unter dem Pantoffel steht.«

Der alte Paqueno lachte leise, aber verstummte sofort bei einem plötzlichen Schlingern des Bootes.

»Ja, da können Sie recht haben, Paqueno, Madame sieht aus, als wüßte sie, was sie will, und ihr Mann, als müßte er es auch wissen, obgleich es ja auch Artigkeit von seiner Seite sein kann ... Aber das Mystischeste steht noch aus, Paqueno.«

»Was denn, Hoheit?«

»Daß er Marcovitz kennt! Wie zum Teufel erklären Sie sich das? Marcovitz! Bei Gott, ich wäre fast ins Wasser gefallen, als ich den Professor seinen Namen rufen hörte. Und haben Sie bemerkt, Paqueno, Marcovitz wurde ganz still, als der Professor gerufen hatte: Fahren Sie über London! Das kann er doch! Höchst mystisch! Und was, zum Teufel, sagen Sie mir, Paqueno, was für einen Grund kann Marcovitz haben, nach Minorca zu fahren? Man glaubt doch, daß ich tot oder von den Rebellen eingesperrt bin. Was für ein Interesse kann Marcovitz daran haben, hinzufahren? Mystisch, sehr mystisch!«

»Ach, Hoheit, alles, was nunmehr geschieht, ist in meinen Augen mystisch. Dieser Börsencoup, für den wir keine Erklärung finden können ... Unsere ganze Staatsschuld von einem Unbekannten aufgekauft ... Und dann im nächsten Augenblick Revolution auf der Insel und seine Spekulation zunichte gemacht ...«

»Sie haben recht, Paqueno, die Mysterien überstürzen sich geradezu. Seit Jeronimo dem Glücklichen hat sich in Minorca nicht soviel zugetragen. Ich kann mir denken, daß dieser Börsenspekulant augenblicklich nicht schlecht fluchen wird! Ich hätte gern alles gegeben, was ich habe, was allerdings nicht viel ist, um sein Gesicht zu sehen, als er das Telegramm von der Revolution las! Ja, um nur eine Ahnung zu haben, wer er ist. Der würde mir Glück auf die Reise wünschen, wenn er wüßte, daß ich auf dem Wege nach Minorca bin, um die Aufständischen zu züchtigen.«

»Ach, möchten sich Hoheit doch durch diese Reise nur nicht in zu große Gefahren stürzen!«

»Ach was, alter Esteban, damit werden wir schon fertig werden – beim heiligen Urban von Majorca, sehen Sie, sehen Sie doch!«

Der Großherzog verstummte plötzlich, legte seine Hand auf Señor Paquenos Schulter und starrte an ihm vorbei nach dem Treppenaufgang der Passagierabteilung. Sah er richtig oder war es eine Halluzination? Oder hatte er am Abend vorher geträumt, als er in Professor Pelotards Frau eine Dame von vierzig bis fünfundvierzig Jahren gesehen hatte, die sich für ihr Alter etwas zu jugendlich kleidete? Entweder hatte er damals geträumt, oder war dies ein neues Mysterium zu all den anderen; denn dort auf der obersten Stufe der Treppe, von dem weißen Frühlingsmorgenlicht beleuchtet, stand, die Hand auf dem Geländer, den einen Fuß vorgestreckt, um ihn auf das Deck zu setzen, Madame Pelotard. Aber eine Madame Pelotard, die nicht mehr an die erinnerte, die er gestern gesehen, als der Frühling an den Winter erinnerte, als dieser frische Märzmorgen an einen Novemberabend. Sie stand da schlank und geschmeidig, mit einem Gesicht, das ebenso jung und frisch war wie das Morgenlicht, und mit blauen Augen, die so strahlten wie das Mittelmeer rings um sie. Der Wind, der die Wellen tanzen ließ und an dem Takelwerk der kleinen Yacht zerrte, legte ihr Kleid eng um die plastische Linie ihres Körpers und hatte in einer Minute ihr Haar unter der Sportmütze zerzaust. Nun erblickte sie den angeblichen Grafen von Punta Hermosa und seinen Freund und kam mit einem munteren Lächeln auf sie zu. Sie bewegte sich auf dem Verdeck, als wäre sie seit ihrer Kindheit über Schiffsplanken gegangen.

»Welch entzückender Morgen! Haben Sie gut geschlafen, meine Herren?«

»Vortrefflich, Madame,« sagte der Großherzog, der sich mit einer Verbeugung erhoben hatte. »Und Sie selbst? Wollen Sie uns das Vergnügen machen, sich hier bei uns niederzulassen?«

»Danke,« sagte sie und setzte sich auf die Deckkiste. Der Großherzog starrte sie gegen seinen Willen an und verschlang jede Bewegung, die sie machte, mit den Blicken. Plötzlich lächelte sie ihn ein bißchen spöttisch an, und er versuchte stammelnd, sein Versehen zu entschuldigen.

»Madame,« sagte er, »ich muß um Verzeihung bitten, daß ich Sie so angaffe – aber aufrichtig gesagt, habe ich noch nie eine so wunderbare Wirkung einer Seereise gesehen.«

»Wieso?«

Er zauderte, unsicher, was er sagen sollte, sie sah es und fing zu lachen an.

»Sprechen Sie nur gerade heraus,« sagte sie. »Sie wollten vielleicht sagen, daß ... daß ich etwas verjüngt aussehe?«

»Ja, Madame, mehr als etwas,« sagte er, aber brach ab, ängstlich, sie durch allzu großen Eifer zu verletzen.

Sie lächelte wieder.

»Es ist nicht so wunderlich, wenn Sie das bemerken,« sagte sie. – »Ich habe eben eine Teintkur durchgemacht, sehen Sie, und die Behandlung ist heute zu Ende.«

Sie sah so vollkommen glaubwürdig aus, als sie diese phänomenale Lüge vorbrachte, daß der Großherzog sich verbeugte.

»Ihre Kur hat einen wunderbaren Effekt gehabt, Madame; Sie sind um zwanzig Jahre jünger. Darf ich fragen, wie M. Pelotard sich befindet?«

»Danke, gut, glaube ich.« Ihr Ton war ausweichend, beinahe kurz.

»Sie haben sich erst in letzter Minute entschlossen, ihn zu begleiten?«

»Ja ... in letzter Minute ... seine Abreise kam ja so plötzlich.«

»Ein Korrespondent wie Ihr Mann muß natürlich jeden Augenblick bereit sein zu starten. Darf ich fragen, für welche Zeitung Ihr Mann schreibt?«

»Zeitung ... ich weiß nicht ... ich glaube ... ach ja, für den ›Financial Leader‹!«

»Financial Leader!« wiederholte er verständnislos mit großen Augen. »Für ein Börsenblatt?«

»Nun ja ... das heißt, auch für andere ... für ein Syndikat.« Die angebliche Madame Pelotard verwirrte sich im Sprechen immer mehr und mehr. Der Name »Financial Leader« war ihr plötzlich vom Frühstück vor zwei Tagen wieder eingefallen, und sie hatte danach gegriffen wie ein Ertrinkender nach dem Strohhalm, ohne daran zu denken, daß es eine Börsenzeitung war und daß solche gewöhnlich keine Kriegskorrespondenten entsenden. Sie errötete und warf einen halb entschuldigenden, halb forschenden Blick auf den Großherzog. Dieser wußte nicht, was er glauben sollte, und schwieg. Der »Financial Leader«! Ein Syndikat! Sie schien ja gar nicht zu wissen, für welches Blatt ihr Mann schrieb! Die kleine Szene wurde von dem alten Señor Paqueno unterbrochen, der plötzlich aufstand und mit einer gemurmelten Entschuldigung so rasch über das Deck enteilte, als seine Beine ihn tragen wollten. Der Großherzog konnte nicht umhin zu lächeln, aber Madame Pelotard betrachtete ihn mißbilligend und warf dem alten Finanzminister, der jetzt die Treppe hinunter verschwand, einen mitleidigen Blick nach.

»Armer Señor Esteban,« sagte sie. »Der wünscht wohl, daß wir schon in Minorca wären!«

»Sie haben recht, Madame, Umwälzungen auf festem Lande erschrecken ihn weniger als zu Wasser. Augenblicklich sehnt er sich sogar nach Minorca.«

Sie betrachtete ihn lebhaft interessiert.

»Augenblicklich? Sonst nicht?«

»Sonst ist es sein Traum, in Barcelona ins Kloster zu gehen.«

»Ins Kloster gehen, wie seltsam! Ist er denn Mönch?«

»Nein, er ist Finan ... er war viele Jahre beim Großherzog von Minorca angestellt.«

»Beim Großherzog! Was Sie sagen! Da kennt er also den Großherzog? Sie auch – kennen Sie ihn auch?«

Er betrachtete sie erstaunt; ihr Ton war ja voll Eifer.

»Den Großherzog? Ja gewiß, Madame, er ist einer meiner besten Freunde.«

»Don Ronald, nicht wahr?«

»Ramon, Madame. Der arme Don Ramon! Der hat jetzt nichts zu lachen!«

»Ja, der arme, arme Don Ramon! Ich bedaure ihn, ich bedaure ihn so sehr! Aber sagen Sie, Sie glauben ... Sie glauben doch nicht, daß ihm etwas zugestoßen ist? Daß er von diesen Schurken ermordet worden ist?«

»Tja, Madame, das ist schwer zu sagen. Man weiß ja nicht, wie weit das unterdrückte Volk gegangen ist. Vielleicht haben sie ihre jahrhundertelangen Verunrechtungen durch einen Stilettstoß quittiert ... Sie haben ja gelesen, was die Zeitungen darüber sagten? Es ist zu hoffen, daß man Milde walten ließ, aber wäre das Gegenteil der Fall, so könnten wir dem Volk nicht allzu unrecht geben, war eine der Bemerkungen, die ich las.«

»Die Zeitungen! Die Zeitungen!« Sie sprang rot vor Erregung auf. – »Was frage ich nach den Zeitungen? Daheim in meinem Lande ... Ich finde, sie schreiben entsetzlich, gewissenlos! Hat man Don Roland ermordet, so müßte Europa ganz Minorca in Trümmer schießen!«

»Madame, Madame, Sie sind ja royalistischer als der König selbst! Don Ramon, den Sie beharrlich Roland nennen, war schließlich ein fauler Müßiggänger, ein Parasit seines armen Volkes, und ...«

»Kein Wort weiter! Er war ein feiner und edler Mann, davon bin ich überzeugt, und wenn er sein Leben lang vom Unglück verfolgt wurde, so müssen wir ihn bedauern und nicht ihn noch verleumden wie die elenden Zeitungen. Sie, der Sie ihn kennen und sagen, daß er Ihr Freund ist, sollten mir recht geben, anstatt es mit jenen zu halten.«

» Mon dieu, Madame, ich gebe Ihnen gern in allem Möglichen recht. Wie gesagt, er war ja mein Freund, und er hatte ja auch manche gute Eigenschaften. Er setzte mir oft einen vortrefflichen Kognak vor, und ...«

»Sie sind abscheulich,« rief sie, »abscheulich! Setzte Ihnen Kognak vor! Und hatte gute Eigenschaften, war Ihr Freund – warum sprechen Sie so? Das ist ja ganz, als ob Sie glaubten, daß er ... daß er tot ist.«

»Madame, ein abgesetzter Fürst ist so gut wie tot.«

»Ein abgesetzter Fürst! Er ist also nicht mehr Ihr Freund, weil er nicht regiert und Ihnen keinen Kognak vorsetzen kann! Das ist schön! Das ist wirklich schön!«

»Ach, Madame ...«

»Dann sind Sie nichts anderes gewesen als ein Augendiener! Das hätte ich Ihnen nicht zugetraut. So sehen Sie nicht aus. Ich begann, schon seiner Freunde wegen, gut von Don Raoul zu denken, als Sie vorhin sagten, daß Sie sein Freund sind.«

»Sie sind ebenso liebenswürdig gegen mich, Madame, wie gegen den armen Don Ramon, den Sie nun schon alles auf R genannt haben außer Ramses. Ich versichere Ihnen, daß ich Ihnen eigentlich in allem, was Sie sagen, ganz recht gebe. Niemand kann Don Ramon lieber haben als ich. Ich glaube kaum, daß jemand mehr Nachsicht mit seinen schwachen Seiten gehabt und seine guten mehr geschätzt hat.«

»Jetzt gefallen Sie mir wieder, das ist hübsch von einem Freunde gesagt ... Aber sagen Sie doch, wenn Sie ihn kennen und Minorca kennen ... was glauben Sie, daß sie mit ihm angefangen haben? ... Weil sie das Telegraphenkabel abgeschnitten haben! Das ist ja ganz, als ob sie Angst hätten, daß man erfährt, was sie getan haben ... als ob sie ihn wirklich get–«

»Ach, Madame, das mit dem Telegraphenkabel ist von keinerlei Bedeutung. Wenn das Telegraphenkabel in Minorca aufgehört hat zu funktionieren, so ist es mit so vielen anderen Dingen ebenso. Es kann ja Altersschwäche sein. Oder vielleicht haben es die Aufständischen abgeschnitten, damit Don Ramon nicht um Hilfe telegraphieren kann!«

»Nicht wahr? Ach, und denken Sie sich, daß niemand in Europa ihm zu Hilfe kommen wollte! Daß niemand ihm beigesprungen ist! Das ist schmachvoll, unverantwortlich. Wenn mein Bru ... wenn irgend jemand ... Glauben Sie, daß diese Schurken ihn für Geld ausliefern würden? Daß man ihn freikaufen könnte, wenn er gefangen ist? Ich habe daran gedacht ...«

»Sie haben daran gedacht? Sie sind die weitherzigste junge Dame, die ich je getroffen habe! Aber ich fürchte, es würde Ihnen schwer fallen, ihn freizukaufen, wenn er gefangengehalten wird. Niemand wollte Geld für ihn riskieren, solange er regierte, und nun er gestürzt ist, wird erst recht keiner darauf erpicht sein.«

»Sagen Sie mir ...,« sie zögerte, »wie sieht er denn aus? Gut, nicht wahr?«

»Tja, ich weiß nicht, was ich sagen soll, Madame. Gut kann man kaum sagen. Er hinkt doch, wie Sie wissen!«

»Hinkt! Wie schadet das? Das tun ja so ...«

Sie unterbrach sich rasch und betrachtete ihn entschuldigend. »Ich ... ich habe gehört, daß er sehr stattlich und fein gebildet sein soll ...«

»Von wem denn, wenn ich fragen darf?«

»Von M. Pelotard.«

»Von Ihrem Mann? Kennt Ihr Mann denn den Großherzog?«

»Ich ... ich weiß nicht. Ich glaube nicht. Mir scheint, er fährt das erste Mal hierher ...«

»Sie wissen nicht? Sind Sie nicht besser über die Angelegenheiten Ihres Mannes orientiert, Madame?«

»Er kann doch dort gewesen sein, bevor wir ...«

»Bevor Sie geheiratet haben, ich verstehe. Sind Sie schon lange verheiratet, Madame, wenn ich mir die Frage erlauben darf?«

Zur großen Verwunderung des Großherzogs war die Antwort auf diese Frage ein tiefes Erröten, das sich plötzlich über das ganze Gesicht Madame Pelotards vom Kinn bis zum Haaransatz verbreitete. Befürchtend, daß er eine Dummheit gesagt hatte, aber ahnungslos, wie er sie gutmachen sollte, stammelte er:

»Ah, ich verstehe ... ist es möglich ... ist das Ihre Hochzeitsreise?«

Was er im nächsten Augenblick von Madame Pelotard sah, war ihr wohlgeformter Rücken und zwei kleine Lackschuhe, die ihre Trägerin im Eilmarsch über das Verdeck zur Passagiertreppe trugen; eine Sekunde später sah er nicht einmal dies. Madame Pelotard war, ohne irgendwelche Gründe für ihr Betragen anzugeben, ohne ein Wort der Erklärung und ohne sich ein einziges Mal umzudrehen, verschwunden.

Wahrhaftig, die Yacht »Der Storch« barg mehr Mysterien, als ihn seine registrierte Tonnenzahl berechtigte. Warum in aller Welt muß eine junge Frau, die am Tage vorher wie vierzig aussah, und durch eine wunderbare Teintkur das Aussehen einer Zwanzigjährigen bekommen hat, erröten, wenn man sie höchst achtungsvoll fragt, wie lange sie verheiratet ist? Erröten und dann entfliehen wie die keusche Diana! Und diese Frau, die mit einem Journalisten verheiratet ist, der für Zeitungen arbeitet, die sie nicht kennt, sowie für ein Börsenblatt, das Kriegskorrespondenten entsendet – diese Frau ist voll Unruhe über das Schicksal, das einen Großherzog getroffen hat, den sie nie gesehen, und dessen Namen sie in aufreizender Weise verdreht! Ist von Unruhe für ihn erfüllt, wagt sich nicht die Möglichkeit zu denken, daß er tot ist, findet, daß seine Untertanen, von ihr Schurken tituliert, samt und sonders erschossen werden sollen, wenn sie ein Haar auf seinem Kopf gekrümmt haben, und verhört (ohne es zu wissen) eine halbe Stunde lang ihn selbst über sich selbst.

Wahrhaftig, der Kopf kann einem um Geringeres schwindeln. Um viel Geringeres!

Ehe noch diese Gedanken, die einander mit der Geschwindigkeit eines elektrischen Stromes in einem Kupferdraht ablösten, Don Ramons Kopf durchkreuzt hatten, sah er plötzlich den Gatten der Dame, die ihn so intrigierte, die Treppe hinaufkommen, über die sie soeben verschwunden war, und mit einem ruhigen Nicken auf ihn zuschreiten.

»Guten Morgen, Graf! Wie geht es? Sie sind matinal. – Ich hörte eben von Madame Pelotard, daß Sie beide schon eine lange Konferenz hier auf Deck hatten.«

»Ja, eine Konferenz, die von Madame in einer Weise abgebrochen wurde, die mich annehmen läßt, daß ich sie tief verletzt haben muß. Monsieur, ich bitte Sie zu glauben, daß ich untröstlich wäre, wenn es sich so verhielte! Ich kann nur sagen, daß ich mir nicht bewußt bin ...«

»Aber ich bitte Sie, Graf, beruhigen Sie sich, es ist nicht so gefährlich! Madame fand (unter uns gesagt) den Seegang etwas zu stark. Sie sagte es mir eben jetzt.«

»Den Seegang! Aber Madame scheint doch auf dem Meere geboren zu sein.«

»Ach, Sie wissen, das Meer und das Weib sind zwei Dinge, die gleich unberechenbar sind.«

Der Großherzog beeilte sich, dies aus vollstem Herzen zuzugeben.

»Sie könnten sagen, unbegreiflich, Professor, ohne zu übertreiben. Aber was Ihre Gemahlin betrifft, so ist bei ihr diese Unberechenbarkeit noch bemerkenswerter als bei anderen Frauen.«

»Wieso?«

»Sie gilt nicht nur ihrem Inneren wie bei jenen, sondern auch dem Äußeren. Sie stellten mich gestern einer vierzigjährigen Madame Pelotard vor, ich fand heute eine Zwanzigjährige wieder.«

»Ach, Graf, die Beleuchtung, Sie wissen doch! Und die Seeluft!«

»Die Seeluft? Ich glaubte, Madame hätte eben eine Teintkur abgeschlossen?!«

»Ja ... ja, natürlich! Das hätte ich beinahe vergessen. Ja allerdings, eine Teintkur, die heute beendigt ist.«

»Sie sagte es mir. Hingegen wollte sie mir nicht sagen, für welche Zeitung Sie schreiben. Ich hatte beinahe den Eindruck, als wüßte sie es nicht recht.«

»Ah, mon Dieu, Graf, Sie können doch nicht verlangen, daß so etwas eine Dame interessiert.«

»Nein, vielleicht nicht. Hingegen interessiert sich Madame Pelotard offenbar sehr für das Ziel unserer Reise. Sie fragte mich nach besten Kräften über Minorca aus.«

»Ja, sie interessiert sich sehr für Minorca.«

»Und noch mehr für den Großherzog! Professor, es ist Ihr Glück, daß er abgesetzt ist! Wenn er am Leben wäre und das Interesse Ihrer Frau erwidern würde, so könnte es schon geschehen, daß Sie Minorca ohne sie verlassen müßten.«

»Sie glauben, daß Madame Pelotard sich so lebhaft für den Großherzog interessiert?«

»Es machte mir beinahe den Eindruck.«

»Und glauben Sie, daß der Großherzog ihr Interesse erwidern würde?«

Es lag ein spöttischer Unterton in Philipp Collins Stimme, der den angeblichen Grafen von Punta Hermosa zuerst intrigierte und dann reizte. Wenn der Gedanke nicht so absurd gewesen wäre, er hätte beinahe glauben können, daß Herr Pelotard etwas wußte – ja mehr: daß der Professor dastand und sich über ihn lustig machte! Ohne sich zu beherrschen, rief er:

»Das ist etwas, wovon ich überzeugt bin, mein bester Professor.«

Philipp drehte den Kopf, anscheinend um zu sehen, ob der Matrose am Steuer noch immer seine Obliegenheiten versah. Dann wendete er sich zum Großherzog um.

»Wir wären gestern abend beinahe fünf geworden,« sagte er. »Ohne Kapitän Duponts antisemitische Veranlagung hätten wir vielleicht nicht ausweichen können.«

»Sie kennen den Herrn auf dem Kai?« Der Großherzog konnte trotz aller Bemühungen seine Stimme nicht so gleichgültig machen, als er gewünscht hätte.

»Kennen? Ein wenig. Und Sie, Graf, Sie erkannten ihn doch zum mindesten!«

Der Großherzog machte eine rasche Bewegung, um ein Tauende fortzuschieben, das ohnehin ganz richtig lag.

»Wenigstens haben Sie ihn lange genug betrachtet,« fuhr Philipp unbarmherzig fort.

Der Großherzog zuckte die Achseln.

»Die Episode war ja eigentümlich,« sagte er, aber hatte dabei das Gefühl, daß seine Stimme nichts weniger als überzeugend klang. Und wieder kam ihm ein Gedanke, der mit jedem Male, wo er auftauchte, immer absurder erschien: dieser Professor weiß etwas! Er weiß etwas. Er wurde ärgerlich auf sich selbst, dann auf den Professor. Was war das für ein Herumtasten in Heimlichkeiten! Er wendete sich dem Professor zu und sagte beinahe brutal:

»Ihre Zeitung muß sich aber schon sehr für Revolutionen interessieren, wenn sie es sich eine eigene Yacht kosten läßt, um Nachrichten über die Revolution in Minorca zu haben!«

»Ja,« sagte Philipp gedankenvoll, »allerdings. – Aber Sie wissen ja, daß Minorca in letzter Zeit sehr in den Vordergrund getreten ist. Es sind ja nur ein paar Tage seit jenem Börsencoup in Minorcas Staatspapieren.«

»Nun, und was wissen Sie davon?« Die Stimme des Großherzogs war beinahe hohnvoll.

»Nichts, Graf. Man weiß nichts davon.«

»Ja, ja, so ist die Presse. Sie weiß nichts, aber das hindert sie nicht, über alles zu schreiben.«

»Sie tun uns unrecht,« sagte Philipp ebenso gelassen wie bisher. »In meiner Zeitung zum Beispiel ist es Regel, daß, wer über eine Sache schreibt, genau über alles informiert sein muß, was den Gegenstand betrifft.«

»Dann sind Sie wohl mit Details über Minorca gespickt?«

»Hm, ja. Ich glaube, ich weiß so ziemlich das meiste über Minorca ... Aber Pardon, war das nicht der Gong? – Es ist Zeit, zum Frühstück hinunterzugehen.«

Beinahe unwillig folgte der Großherzog seinem Gastgeber zu der Treppe, die zu dem kleinen Speisesaal hinunterführte; die Augen auf ihn geheftet, sagte er langsam:

»Lassen Sie doch etwas von dem hören, was Sie wissen!«

Philipp Collin warf einen raschen Blick auf ihn, frappiert von dem Tonfall, und bemerkte den Ausdruck in seinen Augen. Er wußte nun, daß er nicht mehr sagen durfte, wenn er sich nicht verraten wollte. So zuckte er denn die Achseln:

»Ach, Graf, das wäre zu weitläufig, jetzt vor dem Frühstück. Ich weiß wenigstens eines, daß Minorca bei unserer Mahlzeit durch etwas repräsentiert sein wird, worauf es allen Grund hat, stolz zu sein.«

»Und zwar?« rief der Großherzog mit einem durchdringenden Detektivblick auf Herrn Collin.

»Seinen Hummer,« sagte Philipp artig und winkte ihm voranzugehen.

 

Es war ungefähr fünf Uhr nachmittag, als Herr Philipp Collin die Treppe, die zur Kajütenabteilung führte, heraufkam und nach einer kurzen Promenade über das Verdeck der kleinen Yacht zu Kapitän Dupont hinaufging, der jetzt selbst am Steuerruder stand. Er zog sein Zigarrenetui heraus und bot dem wackeren Kapitän eine Zigarre an. Fleißig rauchend, besprachen die beiden Herren verschiedene Details der Reise; ob man direkt nach Mahon steuern oder auf einen kleineren Hafen der Insel Kurs nehmen sollte; und wie man sich bei einem eventuellen Zusammenstoß mit den Revolutionären zu verhalten hatte.

Es war nun gegen Abend wieder stürmisch geworden. Der Himmel war von jagenden grauen Wolken verhüllt, die in einiger Entfernung einen peitschenden Regen über das Meer ergossen; der Wind, der am Morgen eine frische und angenehme Frühlingsbrise gewesen war, war nun zu einem zornig heulenden Mistral angewachsen. Die kleine Yacht schaukelte tüchtig, und Philipp bedauerte innerlich den alten Señor Paqueno, der bei dieser Witterung Höllenqualen leiden mußte. Er selbst war ein guter Seemann und empfand keinerlei Unbehagen, ihn störte weder der Mistral noch die Wellen, wie er da an der Seite des Kapitäns auf der Kommandobrücke stand.

Die Dämmerung fiel rasch ein. In einiger Entfernung tauchte der schleppende Rauch eines großen Fahrzeugs auf.

Plötzlich sah Philipp zu seiner Verwunderung Madame Pelotard und den angeblichen Grafen von Punta Hermosa die Stufen der Kajütenabteilung heraufkommen. Bei solchem Wetter! Seine Gattin und der Graf schienen jedoch ebenso abgehärtet gegen die Witterung zu sein wie er selbst. Sie gingen mehrere Male über das schwankende, stoßende Verdeck auf und ab; sie sprachen, und offenbar stellte Madame Pelotard dem Grafen Fragen, die dieser nicht zu ihrer vollen Zufriedenheit beantwortete, denn sie gestikulierte lebhaft und sprach jedesmal länger, während er sich kurz und ausweichend zu äußern schien. Ein paarmal sah Philipp, wie sie den Mund seinem Ohre näherte, während er den Kopf senkte; sie konnte sich offenbar nur schwer verständlich machen.

Philipp auf der Kommandobrücke schienen sie gar nicht zu bemerken. Dieser lächelte leise.

Plötzlich verdoppelte der Wind seine Heftigkeit, der Schaum erhob sich in einer einzigen weißen Kaskade, und die kleine Yacht begann sich so heftig umzulegen, daß Philipp sich an die Barriere der Kommandobrücke klammern mußte, um nicht zu fallen. Während er noch schwankend das Gleichgewicht wiederzugewinnen trachtete, sah er, wie seine vorgebliche Frau und der Graf rasch über das Verdeck der Kajütenabteilung zustrebten. Der Graf schien durch sein Hinken keineswegs behindert, denn er lief mit ebenso großer Sicherheit über das Verdeck wie nur irgendein Seemann, und Madame Pelotard gab ihm nichts nach.

Mit einem Male stieß sie jedoch einen Schrei aus und warf die Arme in die Luft; sie war über ein im Wege liegendes Tau gestolpert und hätte sich mit Sicherheit hart an der Reling angeschlagen, ja wäre vielleicht über Bord gefallen, wenn sich nicht im selben Augenblick die Arme des reckenhaften Grafen ausgestreckt und sie umfangen hätten. In der nächsten Sekunde lag sie, offenbar protestierend, und nicht ohne zu zappeln, in seiner Umarmung und wurde im Eilmarsch der Treppe zugetragen. Als sie diese erreicht hatten, placierte er sie wieder ehrfurchtsvoll auf das Verdeck; sie hielt sich an dem Treppengeländer fest und betrachtete ihn ein paar Sekunden mit seltsamen Blicken; dann streckte sie die Hand aus und sagte etwas, was vermutlich ein Dank war.

Der Graf von Punta Hermosa ergriff die dargebotene kleine Hand, drückte sie – und führte sie dann rasch an seine Lippen.

In der nächsten Sekunde verschwand sie die Treppe hinunter, und er folgte langsam nach ...

Herr Collin auf der Kommandobrücke lächelte wieder, aber wurde von Kapitän Dupont aus seinen Gedanken gerissen.

»Ein Kriegsschiff!« schrie ihm dieser ins linke Ohr. »Ein Kriegsschiff, Professor!«

Philipp sah in die Richtung, nach der er wies. Das große graue Fahrzeug, dessen schleppenden Rauch er vor einer Weile gesehen, war ihnen jetzt näher gekommen und zeichnete seine groteske imposante Silhouette gegen den Abendhimmel ab. Ohne sich um den Sturm oder Seegang zu kümmern, zog es ruhig seine Straße nach Marseille, woher Philipp und seine Yacht eben kamen. Der Schaum erhob sich in zwei weißen Wimpeln um seinen scharfen Bug.

Nach zehn Minuten war es so nahe, daß Philipp seine Flagge sehen konnte; sie war weiß-blau-rot. Ein russischer Panzerkreuzer also. Er nahm sein Fernglas und richtete es auf den Koloß. »Zar Alexander« glaubte er darauf zu lesen.

Dann ließ er das Glas sinken, nickte Kapitän Dupont zu und ging mit einem abermaligen Lächeln der Kajütentreppe zu, über die der Graf von Punta Hermosa und seine Gattin vorhin verschwunden waren.

Warum lächelte Herr Collin?

Weil ihm zumute war wie einem Boten der Vorsehung, zu deren Aufgaben es gehört, über Toren und Liebende zu wachen.

Und auch weil er jetzt zu hoffen begann, seine verlorenen fünfzigtausend Pfund wiedererlangen zu können.


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