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Fünftes Kapitel,

worin ein Fahrzeug Minorca verläßt

Es war gegen sechs Uhr am Abend des 28. Februar, und die Glocken in Mahons Kathedrale dröhnten schwer, als man zwei in weite Mäntel gehüllte Gestalten das großherzogliche Schloß verlassen sehen konnte.

Sie durchquerten mit raschen Schritten den Schloßhof und gingen dann schweigend dem Hafen zu.

Der eine dieser Wanderer war klein und trug eine Reisetasche, der andere, der riesengroß war, hinkte leicht. In der Hand hielt er einen Handkoffer von bescheidenen Dimensionen.

Der Kleinere brach das Schweigen:

»Hoheit hätten Auguste den Handkoffer tragen lassen sollen. Hoheit überanstrengen sich ...«

»Unsinn, Paqueno, mit diesem Köfferchen! Wo ich so viele Jahre hindurch die Sorgen des Staates und ein belastetes Gewissen getragen habe. Überdies erregt es Aufsehen, wenn wir zu zahlreich auftreten. Ich will nicht, daß jemand etwas von meiner Abreise erfährt.«

»Aber wollen Hoheit nicht mich ...«

»Lieber, guter, alter Esteban, seien Sie so freundlich und machen Sie sich keine Sorgen. Meine großherzogliche Würde leidet nicht darunter, wenn ich einen Handkoffer trage. Schade nur, daß er kein Gold enthält. In diesem Falle könnte ich die stärkste Festung einnehmen.«

Der Großherzog verstummte und fügte hinzu:

»Niemand wird nämlich leugnen können, daß ich ein erstklassiger Esel bin und immer war.«

»Daß dieser Isaacs in London auch nein sagen mußte,« murmelte Señor Paqueno, offenbar seinen eigenen Gedankengang fortspinnend. »Wir haben ihm doch so gute Bedingungen geboten.«

»Zu feine Firma, Paqueno.«

»Aber er hat doch Serbien geliehen, Hoheit.«

»Daraus folgt noch nicht, daß er uns leihen will. Wir haben weder Morde noch Revolutionen gehabt. Nun müssen wir unsere Hoffnung darauf setzen, daß es mir persönlich gelingt, Marcovitz zu überreden oder anderswo Geld aufzutreiben. Kann ich das nicht, dann ist diese Reise verfehlt, und wir können uns aufhängen. Auf welcher Seite des Hafens lag doch das Boot, Paqueno?«

»An der Ostseite, Hoheit, hier unten. Ich fürchte, wir werden eine schlechte Überfahrt haben.«

Der Großherzog sah zum Himmel auf. Trotz der frühen Stunde war es stockfinster. Die Wolken jagten über das Firmament, sie bedeckten es ganz, und wenn sich eine Spalte bildete, so wirbelten die Sterne vorbei wie die Funken eines Induktionsapparates. Die Stadt Mahon schien ausgestorben; das Gaswerk, das seit drei Wochen untätig war, ließ die Straßen in Dunkelheit, und kein Mensch ließ sich blicken.

»Schon recht, je weniger Leute uns sehen desto besser,« murmelte der Großherzog. »Sie verhalten sich immer ruhiger, wenn sie glauben, daß ihr guter Herrscher über sie wacht. Übrigens, weiß Gott, von der unruhigen Sorte sind sie überhaupt nicht.«

Señor Paqueno, der seinen Kneifer aufgesetzt hatte, blickte mit vorgestrecktem Kopfe durch das Dunkel des Gäßchens, das sie durchschritten. Es führte gerade zum Hafen hinunter, dessen Wasser man aus der Ferne glucksen hörte. Wo das Gäßchen aufhörte, sah man die dunkle Silhouette einer Schiffstakelung, die sich vom Horizont dahinter abzeichnete. Plötzlich flammte eine Laterne an einem der Maste auf, und Señor Paqueno zupfte seinen Herrn am Ärmel.

»Da liegt das Fahrzeug, Hoheit,« sagte er. »Joaquins Vetter hat versprochen, um diese Zeit eine Laterne anzuzünden.«

Der Großherzog und er beschleunigten den Schritt und waren bald am Hafenkai angelangt. Eine kleine Fischerbarke schaukelte sich heftig auf und nieder und riß ungeduldig an den Stricken. Ein untersetzter Mann in Schifferkleidern kam auf den Großherzog und seinen Begleiter zu, musterte sie und grüßte dann ehrfurchtsvoll.

»Alles ist fertig, Hoheit,« sagte er.

»Schön, mein vortrefflicher Domingo. Du bist der Vetter meines Ehrenkochs Joaquin?«

»Jawohl, Hoheit ...«

»Majorcaner? Ach, diese Majorcaner!«

»Hoheit, ich bin in Majorca geboren wie mein Vater und Joaquin, aber im Herzen bin ich ein guter Minorcaner.«

»So wie sie, das scheint in der Familie zu liegen. Du solltest seinem Beispiel folgen und in meine Dienste treten, um deine Gesinnung zu dokumentieren. Dein Vater wollte nicht einmal Hoflieferant werden.«

»Hoheit ...« Der Mann wand sich.

Der Großherzog brach in Lachen aus.

»Nun, nun, Domingo, ich scherze nur. Es ist Joaquins eigene Schuld, daß er mich nicht verlassen will. Augenblicklich erweisest du mir den größten Gefallen, wenn du uns so bald als möglich nach Barcelona bringst.«

»Sofort, Hoheit, sofort. Wir können in zehn Minuten fahren.«

Nach einer tiefen Verbeugung sprang der Mann an Bord. Offenbar war er mehr als erstaunt über die Passagiere, die seine einfache Schute an diesem Abend befördern sollte. Als er am Vormittag im Hafen von Minorca landete, hatte ihn sein Vetter, der Koch des Großherzogs, aufgesucht, ihn beiseite genommen und ihm diesen Vorschlag gemacht, der ihn anfangs mit tiefstem Mißtrauen erfüllt hatte und dann mit einer Verwunderung, die sich noch nicht gelegt hatte. Was in aller Welt wollte der Großherzog in Barcelona? Oder richtiger, warum fuhr er mit ihm, Domingo, hin, in einer simplen Fischerbarke? Flüchtete er aus Minorca? Joaquin hatte alle diese Fragen mit der kategorischen Versicherung beantwortet, daß das die Sache Seiner Hoheit sei, die niemand anderen etwas angehe – Seine Hoheit wünschte unter keiner Bedingung, daß seine Abreise bekannt wurde; und nach noch einigem Hin- und Herreden war Domingo auf den Vorschlag eingegangen, obgleich Barcelona eigentlich von seiner Route ablag, die sich auf die balearischen Inseln beschränkte.

Und so empfing er nun am Abend den Großherzog und Paqueno, höchst mystifiziert und halb überzeugt, daß der arme Herzog seiner Stellung müde geworden war und wie so mancher Minorcaner vor ihm seine heimatliche Insel verließ, um anderswo sein Glück zu probieren.

Der Herzog und Paqueno sprachen mit gedämpfter Stimme auf dem Kai, während Domingo und seine zwei Matrosen die letzten Vorbereitungen zur Abfahrt trafen.

»Heute ist der 28.,« sagte der Großherzog. »Wie lange braucht dieser Domingo bis Barcelona?«

»Wir werden übermorgen früh dort sein, Hoheit, wenn alles gut geht.«

»Hm, da haben wir also zwölf Tage vor uns. Am 13. verfällt die Schuld, Paqueno?«

»Ja, Hoheit, am 13.«

»Zwölf Tage, oder wenn wir die Reise nach Paris abrechnen, kaum elf. Wir müssen hoffen, Paqueno, daß es glückt, bei Marcovitz oder anderswo.«

»Wir müssen es hoffen, Hoheit, denn sonst ...«

»Sonst, mein armer Esteban, bin ich mit der Aufgabe fertig, die mein Großvater und Vater begonnen haben.«

»Was für eine Aufgabe, Hoheit?«

»Ihr Leben zugrunde zu richten, mein alter Esteban.«

»Aber Hoheit!« Der alte Paqueno faßte mit seiner zitternden Hand die des Großherzogs. – »Hoheit ... Ach, wenn Hoheit doch Punta Hermosa diesem Bekker verkauft hätten ...«

»Paqueno, Paqueno, das nie!« – Der Großherzog klopfte mit einem leichten Lächeln seinem alten Freund auf die Schulter. – »Dem nie, der soll sich Pech und Schwefel anderswo verschaffen.«

Señor Paqueno seufzte schwer, und plötzlich ertönte Domingos Stimme:

»Alles klar.«

Der Großherzog half dem alten Señor Paqueno über die Brüstung und warf die Reisetasche hinein. Dann wendete er sich an Domingo.

»Ich komme schon, Domingo. Denke daran, daß du Cäsar und sein Glück an Bord hast.«

Er sprang hinüber, das Schiffsdeck zitterte unter seinem hünenhaften Körper.

Domingo und der Matrose machten das Boot los, langsam glitt die kleine Schute dem Kai entlang, von dem sie mit ein paar Pfählen abzustoßen suchten. Es war jedoch Gegenwind, und sie kamen nicht vorwärts. Plötzlich erhob sich ein günstiger Windstoß. Sie kamen vom Kai los und begannen durch den Hafen zu gleiten.

Im selben Augenblick tauchte ein Mann auf dem Kai auf. Er war dick und untersetzt und lief so rasch ihn die Beine tragen wollten. Als er näher herangekommen war, hörte man ihn rufen:

»Domingo! Domingo! Ich habe etwas abzugeben. Steure zum Molo, Domingo!«

Der Herzog erkannte die Stimme; es war sein Koch Joaquin. Er war äußerst erstaunt, aber wollte nicht zurückrufen, da er befürchtete, daß jemand anderer seine Stimme erkennen könnte. Domingo sah ihn fragend an, um sich Order zu holen, er nickte bejahend, und während der Mann fortfuhr, dem Kai entlangzulaufen, drehte der kleine Schiffer seine Schute in elegantem Bogen dem Molo zu. Als sie etwa drei oder vier Meter von der Stelle entfernt waren, die Joaquin erreicht hatte, erhob Joaquin den Arm und warf etwas hinüber, das mit leichtem Aufplumpsen auf das Verdeck fiel. Im selben Augenblick verfing sich der Wind in die Schute, und sie flog durch den Hafenarm hinaus ins Meer. In ein paar Sekunden war Joaquin nur mehr ein kleines Pünktchen, dann verschwand er völlig in der Dunkelheit.

Der Herzog hatte sich beeilt, das Hinübergeworfene aufzuheben, es war Joaquins Mütze, in aller Eile mit einer Schnur umwunden, er löste sie auf und fand in der Mütze einen Stein, und um diesen gewickelt ein blaues Papier.

»Paqueno,« rief er, nachdem er es gegen das Skylight der kleinen Kajüte gehalten hatte. »Ein Telegramm an Sie!«

»Ein Telegramm, Hoheit! ...« Der alte Finanzminister kam vorsichtig über das schwankende Verdeck heran und versuchte das Telegramm zu öffnen. Aber die Schute schwankte zu sehr, und es war zu dunkel; der Großherzog faßte ihn unter den Arm, öffnete die Tür zu der Treppe, die in die Kajüte hinunterführte, und half ihm behutsam die Stufen hinunter. Dann folgte er selbst nach.

Mitten in dem kleinen Raum unter der qualmenden Hängelampe fand er seinen alten Freund mit weitgeöffnetem Munde und verglasten Augen dastehen. Sein Blick suchte das Antlitz des Großherzogs, starr wie der eines Sterbenden, und seine Lippen versuchten sich zu regen, aber brachten keinen Laut hervor. Es zuckte in den Falten um seine Augen. In der Hand hielt er das geöffnete Telegramm, sie zitterte so, daß das blaue Papier raschelte.

Voll Angst stürzte der Großherzog auf ihn zu, im selben Augenblick bewegten sich endlich die Lippen des alten Finanzministers, und mit bebenden Fingern reichte er seinem Herrn das Telegramm.

»V ... von unserem Agenten, P ... Perez in Barcelona,« stammelte er mit kaum verständlicher Stimme. »Seine Korrespondenzchiffre steht vorne. Lesen Sie, Hoheit, lesen Sie ...«

Der Großherzog riß das blaue Papier an sich, und was er las, war dieses:

Barcelona, 28. Februar, 16 Uhr 10.

Paqueno, Finanzminister, Mahon, Minorca.

Zp. 99. Heute zwischen 10 und ½11 Uhr vormittag wurden durch Coup an den Börsen Paris, Madrid, Rom 80 Prozent der gesamten Staatsschuld des Herzogtums Minorca für unbekannte Rechnung aufgekauft. Kurs 42½. Große Bestürzung herrscht in nächst berührten Finanzkreisen; habe Telegramm von Huelvas, Altenstein, Apelmann, sehr aufgeregt, wünschen Erklärung. Telegraphiere Ihnen morgen Näheres.

Ersuche Mitteilung, falls Sie dahinterstecken oder Erklärung geben können; erwarte Verhaltungsmaßregeln gegen Huelvas, Altenstein, Apelmann.

Perez, Agent.

Der Großherzog las das Telegramm zweimal, und dann noch einmal, ließ es sinken und starrte Señor Paqueno an.

»Ein Coup in unseren Staatspapieren, Paqueno!« sagte er. »Ein Coup in unseren Staatspapieren! Achtzig Prozent für unbekannte Rechnung eingekauft – Altenstein und Konsorten fluchen telegraphisch ... beim heiligen Urban! ...«

Die Schute schwankte bei einem heftigen Windstoß, der den Herzog gegen die Bank schleuderte, auf der der alte Paqueno mit verständnislosen Augen und erstarrten Lippen zusammengesunken war. Don Ramon betrachtete ihn mechanisch, während er sich am Kajütentisch festhielt, um sich zu stützen.

»Beim heiligen Urban von Majorca!« murmelte er, »ein Börsencoup in den Papieren des Herzogtums Minorca – da haben wir nicht mehr weit zur Revolution.«


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