Wilhelm Heinse
Ardinghello und die glückseligen Inseln
Wilhelm Heinse

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Zweiter Teil

Ardinghello wollte nun nicht länger in der Gegend bleiben: die Sonne war hinweg, die ihn an sich zog und um die er sich herumbewegte; aber auch für jetzt nicht wieder nach Venedig. Und wenn sich dort die Sachen aufs glücklichste setzten, so sah sein Geist in der Zukunft Dinge, die ihn folterten. Süßigkeit vollführter Rache, Gram, von Cäcilien geschieden zu sein, Kummer ihretwegen und Sorge für seine eigne Sicherheit wechselten in seinem Herzen plötzlich auf und ab wie ein Aprilwetter. Sich länger aufzuhalten war gefährlich, weil man unter den Papieren Mark Antons vielleicht Aufträge von Cosmus finden konnte: und sich gleich aus dem Lande zu machen schien verdächtig. Endlich entschloß er sich, nach Überlegung aller Umstände, noch einige Tage zu harren und inzwischen scharf auf seiner Hut zu sein. Es kam uns nicht wahrscheinlich vor, daß der Großherzog seinen und seines Vaters Tod schriftlich sollte verhandelt haben; und ein Vertrauter, wenn er auch noch da wäre, wie nicht zu vermuten, durfte bei Schlechtigkeiten von so üblem Erfolg keinen Lärm machen, zumal da er doch nicht sicher wäre und nur mutmaßen könnte.

Ardinghello stellte sich aufgeräumter an als je; und wenn in Gesellschaft die Rede auf die Begebenheit kam, so schwieg er entweder oder pries Mark Anton glücklich, daß er so gerad in voller Freude starb; und auch Cäcilien, daß sie so geschwind als möglich von dem harten Joche der Ehe sei ausgespannt worden.

Wir fischten dann auf dem See, gingen auf die Jagd und lasen noch dabei zu guter Letzt die schönsten Oden im Pindar, der seine Seele vom neuen mit hohem Taumel schwellte und in etwas seinen Sinn von der Gegenwart wegwandt. Die Romanze aller Romanzen auf die Insel Rhodos besonders entzückte ihn so, daß er sie bald auswendig konnte. Seine Phantasie kam wieder ganz in das Götterreich der Poesie hinein, die Spiele griechischer Jugend rissen sein Herz dahin, süße Liebe und solche Taten pries er allein ein würdig Frühlingsleben; alle seine Kräfte tobten und wurden ungestüm: er wollte fort in die Welt, in Bewegung, auf eine neue Bühne, und war nicht mehr zu halten.

Keine volle zwei Wochen nach Cäciliens Abreise brach er auf. Er schrieb vorher an seine Tante um einen Wechsel nach Genua; er gedachte von dort nach Frankreich zu schiffen und dadurch nach Spanien zu wandern, bis an die letzten Küsten von Portugal. Mir band er unterdessen Cäcilien aufs Herz und daß ich ihm von ihr bei jeder guten Gelegenheit Nachricht geben sollte. Sobald sie frei wäre, müßte vermittelt werden, daß wir alle drei zusammen eine Freundschaft ausmachten. Für unsre Heimlichkeiten bildeten wir uns eine jedem andern unergründliche Schrift und wollten bei den Hauptpunkten das Neugriechische gebrauchen. Seine Wiederkunft würde alsdenn von den fernern Umständen abhangen.

Seine Reise nach Genua nahm er sich vor zu Fuße zu tun, und so sollt es sein Leben lang durch alle schöne Gegenden geschehen; er hielt es für Torheit, sie anders zu machen, wenn man gesund und stark wäre und keine notwendige Eile hätte: die Natur von Land und Leuten könne man auf keine andre Weise so gut kennenlernen; und was die Straßenräuber beträfe, so sei man im Wagen der Gefahr weit eher ausgesetzt, und die ärgsten würden von Billigkeit zurückgehalten gegen ein harmloses Geschöpf, das ohne bürgerlichen Reichtum, wie sie, bloß menschlich einherschreitet.

Er ließ mir alle seine Habseligkeiten zurück und nahm nichts mit sich als einen wohlgespickten Beutel und ein Hemd und ein Paar Strümpfe außer denen, die er anhatte.

An einem Abend beurlaubte er sich von meiner Mutter, die weichmütig Tränen vergoß und ihn an ihre Brust drückte; er wurde von ihr geliebt wie mein Zwillingsbruder. Sie gab ihm ihren reinsten Segen und bat zu Gott, daß er sie erhören möchte, da er nicht länger bleiben wollte; und sagte ihm zuletzt, daß sie sich oft nach seinem Umgang sehnen würde. Ihr machten wir weis, daß er wieder in seine Heimat zöge.

Wir brachten die Nacht alsdenn beisammen zu, so recht wie klare Quellen von Leben, wo alle Blicke durchgehen; ich wünsche mir nie eine größre Seligkeit. Aber ach! was ist der Mensch? ein Punkt, zerfetzt und zerrissen vom Schicksal auf allen Seiten, und unaufhaltbar fortgetragen in den wilden Fluten der Dinge, wo er weder Anfang noch Ende sieht.

Gegen Morgen fuhr er auf, steckte die alte Handschrift von den Denkwürdigkeiten des Sokrates in die Tasche, die ich ihm fein und wohlgeschrieben mit auf den Weg gab, und die griechischen lyrischen Dichter von Heinrich Stephan; warf seine Zithar über die Schulter, daß sie stürmisch erklang, drückte mich noch einmal an sein Herz und küßte seine ganze Seele auf meine Lippen, und schoß von dannen. Ich erbebte wie von einem Todesschauer und sank wie ins Grab. O Elend und Jammer, hienieden ohne Freund zu sein! und Stolz und Jubel und Kühnheit, wo zwei ihr Wesen verdoppeln!

Meine Mutter und ich gingen darauf zu Ende Oktobers wieder nach Venedig, wo mein Vater aus Dalmatien schon angekommen war. Der Weg dahin erfüllte mich mit Traurigkeit. Gegend und Menschen und Gebäude hatten den vorigen Reiz verloren und standen da wie Schatten. Ich erkannte innig, daß zu allem Genuß zwei Herzen notwendig sind, die sich lieben.

Die Zärtlichkeit meines Vaters, meiner ältern Brüder und verwittibten Schwester, die ihn begleitet hatten, linderten und versüßten allein meinen Gram zu Hause. Cäcilia saß noch in strenger Verwahrung: doch war jedermann für sie, wegen ihrer ehemaligen klugen und bescheidnen Aufführung bei aller ihrer Schönheit. Auch ich tat unter der Hand mein Bestes; das zärtliche Geschöpf hatte sich von dem Zuge der Natur überwältigen lassen und konnte hernach nicht anders handeln.

Verschiedne junge Leute, alle von großem Talent und genaue Bekannten von Ardinghello, kamen zu mir, seinen gegenwärtigen Aufenthalt zu erfahren, welchen ich ihnen aber nicht entdeckte, mit Vorspiegelung, er habe in seine Heimat gewollt.

Zu Anfang Novembers erhielt ich folgenden Brief von meinem Freunde.

 
Genua, November.

Wie ich aus dem fruchtbaren großen Tale der Lombardei, von hundert Flüssen durchströmt, das seinesgleichen in der Welt nicht hat, durch die wilden kahlen Felsenkrümmen des Apennin hinauftrat und endlich aus der Bocchetta hervor, von heitern Lüften umspielt, daß die Locken um meine heißen Schläfe flatterten, oben auf der Höhe das tiefe breite Meer unter mir glänzen sah, von süßen Strahlengewölk des Abends umlagert: Gott, wie ergriff das mein Herz und alle Sinne! Wie die Thetis Homers mit einem Sprung vom Olymp hätt ich mich in die ewige Lebensfülle hineinstürzen und wie ein Walfisch darin herumtaumeln und alle meine Leiden abkühlen mögen.

Ich blieb hier die Nacht bei einem alten Schäfer, der Chronik der Gegend, und sah die Sterne auf- und untergehen und das Weltlicht wieder erscheinen, und thronte so über Italien, dies Paradies mit allen seinen Bewohnern von Anbeginn der Zeit, Menschen und Tieren und Pflanzen und Bäumen, und ich, machten ein friedliches Eins, so rein und heilig zerflossen war meine Seele.

Den Morgen schritt ich hinab und schlief des Nachmittags in einem reizenden Dorf an der Küste nicht weit von der Stadt. Gegen Mitternacht wacht ich wieder auf vom Saitenspiel und einer Stimme, die lieblich mein Wesen durchdrang. Ich lauschte und vernahm die Worte und sprang ans Fenster: die Musik kam aus einem alten Gemäuer, an einen Hügel gebaut, der in hohen Pinien und Zypressen und niedern Fruchtbäumen sich aus dem Meer hervorstreckte; es waren Stanzen eines Märchens vom Pulci, die ich gar wohl kannte. Als darauf noch eine weibliche Stimme zu der männlichen einfiel, so zog auch ich meine Guitarra hervor, brachte sie leis in Stimmung und sang, als sie aufhörten, nach einigen Griffen von ihrer traurigen Harmonie in eine fröhlichre hinüber: »Wer seid ihr süßen Sänger dort, die ihr mich so entzückend aus dem Schlafe weckt? Habt Dank, habt Dank, daß ihr den Menschen so Freude macht und ihr Herz rührt in der stillen Dämmerung.«

»Wir sind Vater und Tochter, die ein holdes Kind in Schlummer spielen samt dem Gatten, den der heiße Tag abgemattet«, ertönte zur Antwort herüber, indem ein Alter mit langem Bart an den Bogen der Tür sich stellte.

»O ihr Glücklichen!« verfolgt ich darauf und sang, von Begeisterung ergriffen, die Zeiten des Saturnus von Hesperien, wo alle so lebten, wo noch kein Phalaris die goldne Insel der drei Vorgebirge folterte und keine Cäsarn mit Bürgerblute die Felder düngten.

»Und wer bist du, edler Geist?« fragt' er mich dann.

»Ein junger Pilgrim, der nach dem Vortrefflichen auf Erden wandert und seine Seele nun hier an Honig labt.«

Er ging herunter, ich ihm entgegen; wir bewillkommten uns und füllten die Becher. Es war ein herrlicher Mann, an die sechszig, ein echter Dichterkopf, viel vom Ideale des Homer, nur nicht blind: wie es der hohe Ionier auch nicht war, der nur nicht sah, was gewöhnliche Menschen immer gegenwärtig mit ihren leeren Köpfen sehen, wovon er endlich den launigten Namen bekam, und der griechische Künstler, der sein Bild erfand, richtete sich nach dem Volkswitz.

Wir machten geschwind Bekanntschaft. Er war ein Architekt gewesen und, weil er wenig zu bauen fand, seinem Hange zur Poesie gefolgt; und man hielt ihn nun für einen der besten Reimer aus dem Stegreife weit und breit, und er zog als ein solcher im Lande herum und ergötzte die Leute. Seine Frau war früh gestorben, und seine einzige Tochter gab er vor wenig Jahren einem wackern Landmann zur Ehe, der hier ein Gut gepachtet hatte und bei dem er sich meistens aufhielt. Die Wirtschaft war wirklich aus der goldnen Zeit, wie ich hernach mit Vergnügen erfuhr.

Ich sagte ihm, daß ich schier ebenso die Malerei triebe wie er ehemals die Baukunst. Dies freute ihn denn von Herzen; er faßte meinen jungen Kopf und steckte ihn in seinen grauen Bart hinein und küßte mich über und über: ergriff alsdenn das Saitenspiel und sang mit einer Schwärmerei das Lob der Dichtkunst, wie ein wahrer Priester des Apollo, daß ich mich vor Lust nicht regte. Das halbe Dorf kam zusammen und girrte vor den offnen Türen und Fenstern leisen Beifall. Und als er endigte, schien das Meer stärker ans Gestade zu brausen, und alle riefen: »Es lebe Boccadoro!« So nannte man ihn.

Zur fernern Kurzweil fing ich darauf einen Gegengesang an und richtete Pindars Χρυσέα φόρμιγξ Απόλλωνος nach Ort und Umständen ein; und schilderte zum Beschlusse den Alten vor mir nach dem Leben und erhob seinen Stand über den eines Königs. Und mit einem Jubelgeschrei: »Es lebe der schöne fremde Jüngling und der göttliche Alte!« zog man von dannen, als wir gegen Morgen schieden.

Ich machte, wie es Tag war, einen Spaziergang auf den Hügel und besah die Lage von Genua: ein reizendes Theater, das von jeher seine Bewohner angetrieben hat, das Meer zu beherrschen, und woheraus immer die größten Seehelden hervorgekommen sind. Heiliger Kolumbus und du, Andreas Doria, die ihr nun mit den Themistoklessen und Scipionen in Elysium Paar und Paar herumwandelt, euch Halbgötter unter den Menschen bet ich im Staube an. Ach, daß auch mir kein solches Los bestimmt ist! Ich sah hinaus in die unermeßliche Sphäre von Gewässer, und die ungeheure Majestät wollte mir die Brust zersprengen; mein Geist schwebte weit über der Mitte der Tiefen und fühlte ganz in unaussprechlicher Wonne seine Unendlichkeit.

Nichts auf der Welt füllt so stark und mächtig die Seele; das Meer ist doch das Schönste, was wir hienieden haben. Sonn und Mond und Sterne sind dagegen nur einzelne glänzende Punkte und samt dem blauen Mantel des Äthers darüberher nur Zierde der Wirklichkeit. Dies ist das wahre Leben: hierauf gibt sich der Mensch Flügel, die ihm die Natur versagt, und verbindet in sich die Vollkommenheiten aller andern Geschöpfe. Wer das Meer nicht kennt, kömmt mir unter den Menschen wie ein Vogel vor, der nicht fliegen kann oder der seine Flügel nicht braucht, wie die Straußen, Hühner und Gänse. Hier ist ewige Klarheit und Reinheit; und alles Kleine, was sich in den Winkeln der Städte in uns nistet, wird hier von den großen Massen weggescheucht. Wie dort die Seealpen aufsteigen! gleich Helden bei Aspasien und Phrynen; wie die zarte Linie am Horizont sich so weich herumründet! In den Ozean hinaus möcht ich; wie klopft mir das Herz!

Boccadoro wartete schon auf mich, als ich wieder ans Wirtshaus kam. Er sagte, ich müßte ihn heute begleiten zu einem großen Feste, das die ganze Woche fortdauerte.

Marchese S*** vermählte sich mit einer jungen Fregosa in allem ersinnlichen Pomp; der Bräutigam sei wohl jetzt einer der reichsten Privatedelleute von Europa. Diesen Abend würde Wettrennen gehalten, darauf Schmaus und Ball; morgen Stierhetze, und so weiter fort, jeden Tag eine andre Lustbarkeit; Komödie, Seiltänzereien und allerlei Künste sollten sich auf dem Land und Wasser zeigen. Er wäre aufgefordert, zwischen andrer Musik bei der Tafel zu singen, und er bäte inständig, auch mich darauf vorzubereiten; wir könnten unterwegs ein hübsches Thema zum Wechselgesang ausdenken. Der Palast läge wenige Miglien weit von der Stadt auf der andern Seite der See; ein paar Knechte von seinem Schwiegersohne würden uns mit ihm selbst und seiner Tochter auf einer Barke dahin fahren. Doch er glaube, daß ich dieses alles schon wisse und vermutlich eben deswegen hier eingetroffen sei.

Ich versicherte ihn, daß ich heruntergekommen wäre, ohne das mindeste von dieser Hochzeitfeier zu wissen. Aus dem Stegreife könnt ich in so hoher Gesellschaft nicht singen; und außerdem müßt ich immer erst ein wenig die Art meiner Zuhörer kennen, um leicht den Eingang in ihr Herz und ihre Phantasie zu finden: sonst tue überhaupt das Vortrefflichste oft nicht seine Wirkung. Doch woll ich ihn begleiten; sein Epithalamium zu hören schon allein reize mich. Er könne mich als Stimmer seiner Zithar beim Schmause mit einführen.


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