Hermann Heiberg
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Hermann Heiberg

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Doris Waterkants Erben.

In einer nach dem Hafen führenden stillen Straße, in der noch Gebäude aus früheren Jahrhunderten ihre vielgegliederten Giebel emporstreckten, alte, schöne Formen und kraftvolle Dauerhaftigkeit das Auge anzogen, lag ein schmales, durch seine kunstreiche Bauart besonders anziehendes Haus, das Mamsell Doris Waterkant gehörte.

Wenn man es betrat, befand man sich auf einem weitläufigen hohen Flur, von dem braune, durch Alter glänzend gewordene, mit schön geschweiften Geländern versehene kleine Treppen in die Zimmer zur Rechten und Linken führten. An der Mittelwand gerade vor aber zog sich eine Gallerie hin, an deren einen Seite sich eine Loge mit rokkokoartig geschweiften Wänden und mit hellen Fensterscheiben befand, und drunten standen prachtvolle Schränke aus der guten Zeit nordischer Kunst.

Auch blitzte an einer gleichfalls geschweiften Gartenthür mit Spiegelglas in den Füllungen eine glänzende, messingene Klinke von besonderer Art; und solche kunstvolle, blankgeputzte Klinken befanden sich auch an den Eingangsthüren, die in die Gemächer des alten Hauses führten.

Zur Linken residierte Mamsell Doris Waterkant, von ihren Verwandten und näheren Bekannten immer nur Tante Doris genannt, in dem aufgetreppten Wohnzimmer. Es war ein Gemach, das wegen der darin befindlichen prächtigen alten Kunstmöbel und wegen seiner gleichsam unvertilgbar darin eingebürgerten bequemen Wohnlichkeit aller Besucher Auge entzückte.

Tante Doris zeichnete sich durch zwei besondere Eigenschaften aus. Sie war als alleinige Erbin der einstigen Firma Rode & Waterkant sehr reich und besaß neben einer gelegentlich hervortretenden unbehaglichen Offenherzigkeit ein unvergleichliches Herz. Dem zu Folge hatte sie viel Freunde, aber ebenso viele Gegner. Zudem fanden sich auch Spötter ein, denn sie war klein wie eine Zwergin, hatte einen stark gebogenen Rücken, schob sich beim Gehen mühsam vorwärts und sah überhaupt nichts weniger als vornehm aus. –

Keinen Geburtstag und keinen Ehrentag ihrer Verwandten und Freunde vergaß sie. Immer schenkte sie, und was aus ihrer Hand kam, war stets wertvoll. Die eigennützige Welt unterließ es deshalb auch nie, Tante Doris zur rechten Zeit Aufmerksamkeiten zu erweisen. Und über ersteres, aber nie über Unterlassung an Aufmerksamkeiten ließ sich Tante Doris aus. Ueberhaupt gab es persönliche Gebiete, die sie nie berührte. Wenn aber einer ein Kleid trug, das allzu modisch aufgeputzt war, wenn jemand über seine Verhältnisse lebte, die Pietät gegen seine Angehörigen außer Acht ließ, sich nicht zu beherrschen wußte, zimperlich war und an anderen Menschen nur die Schattenseiten sah und diese rügte, konnte sie ihren Unmuth nicht zurückdrängen.

Gerechtigkeit zu üben, war ihr Bestreben, diese verlangte sie aber auch von andern.

Jeder Tag verging ihr rasch, obschon sie eine alte Magd und einen alten Diener hatte, die das Hauswesen in Ordnung hielten. So viel zu denken hatte sie für andere, so viel Interesse und solche Freude hatte sie an Blumen und Tieren, daß das Wort Langeweile in ihrem Lexikon überhaupt sich nicht befand. Auch gab sie sehr oft kleine Gesellschaften, und kaum irgendwo aß man so gut und trank man so vortrefflichen Wein, wie bei Tante Doris.

Die häufigsten Gäste waren ihre Verwandte, Stadtbaumeister Mönkedorf, seine Frau und deren Tochter Hertha. Außerdem gab es noch eine Kousine, Frau Witwe Langbehn, die einen Obstladen und ebenfalls eine Tochter besaß, die durch Tante Doris Hülfe ausgebildet worden war und gegenwärtig als Stütze bei dem Senator Behrens eine Thätigkeit und Verdienst gefunden hatte.

Aber die alte Frau kam nicht, weil sie in das feine Haus nicht hinein gehörte, und Marie Langbehn war eine jener ernsten, feinbesaiteten und zurückhaltenden Naturen, die nichts mehr fürchten, als aufdringlich zu erscheinen und deshalb nur kommen, wenn man sie ruft.

Heute war Tante Doris fünfundsiebzigster Geburtstag, und aus diesem Grunde war schon von Frühmorgen ab die Hausthürklingel nicht zur Ruhe gekommen. Man sandte Topfpflanzen, Blumen, Kuchen, Briefe, kleine Gedichte und Packete; und alles wurde von der alten Dame sorgsam auf einen Tisch in ihrem großen, dreifenstrigen, mit sogenannten Thronen versehenen Wohngemach aufgebaut. Anna und Andreas, die beiden alten Dienstboten, hatten die Thür nach dem Schlafgemach und dem nach dem Garten führenden Speisezimmer bekränzt, aber auch den altertümlichen Lehnstuhl mit grünem, verblichenem Seidenzug, auf dem die alte Dame am Fenster zu sitzen pflegte, festlich mit Epheu geschmückt. Nun war es fast zwölf Uhr mittags geworden. Der Dunst der Vanillechokolade erfülle den Flur. Auf dem weißgedeckten Tisch in dem heute geöffneten, in kräftigem Eichenholz getäfelten Speisezimmer standen die Thee- und Süsterkuchen, daneben viele alte, wertvolle Tassen mit kleinen Landschaften und Porträts in Gold und Rot, und daneben funkelte viel schwergediegenes Silberzeug. Besonders fiel die massive Chokoladenkanne mit ihren reizvollen Ziselirungen auf.

Zuerst erschienen einige Bekannte aus der Nachbarschaft, später rollten Wagen vor, aus denen sich ältere Ehepaare herausschoben, und viele junge Mädchen, die von Tante Doris besonders bevorzugt wurden, überreichten Handarbeiten. Jeder bekam einen schönen Dank; für jeden hatte die Alte ein liebevoll teilnehmendes oder ermunterndes Wort. Heute leuchteten ihre Augen in gutherziger Fröhlichkeit; nichts von der Strenge und unerfreulich wirkenden Geradheit gelangte zum Ausdruck.

Nur eine einzige, etwas doppelsinnige Bemerkung glitt über ihre Lippen, als ziemlich spät Mönkedorfs – Mutter und Tochter – erschienen. Hertha mußte sich entschuldigen, daß eine bunte Stickarbeit für den Sophatisch, die sie überreichte, nicht ganz fertig geworden war.

Da sagte die kleine Zwergin, nicht ungütig, aber doch so, daß der Tadel durchschimmerte:

»Na, zum Glück soll sie ja heute noch keine Dienste thun, liebes Kind, Du machst sie dann später fertig!«

Frau Mönkedorf entging der Greisin Erwiderung nicht, aber als sie – wie immer – für ihre Tochter eintreten wollte, winkte die Alte kurz ab und führte sie an den Tisch und zeigte ihr einen wundervollen Rosenstock – vielleicht war's nur Zufall, daß sie gerade dieses Geschenk hervorhob –, den die alte Frau Langbehn ihr geschickt hatte.

Im übrigen verlief alles höchst fröhlich und behaglich, und Einladungen zu einem Abendessen ergingen an etwa zwanzig Personen.

Und zuletzt kam der Abschied mit Händeschütteln, Komplimentieren, und Grüße-Auftragen drinnen, und lautem Hin und Her und Schwatzen draußen auf dem Flur, und nachdem wegen eines vergessenen Sonnenschirmes die Thürglocke noch einmal einen zudringlichen Ton von sich gegeben, herrschte endlich wieder in dem alten Patrizierhause die gewohnte Ruhe.

Mite-Male, die alte Hündin, mit der ergrauten Schnauze und den thränenden Augen, lag wie sonst in ihrem Korb am Ofen, die Kanarienvögel saßen träumend auf den Stäben, und alle Gegenstände schliefen einen sanften Mittagsschlaf. Auch deckte Andreas den Speisetisch ab, schob ihn zusammen und besetzte ihn nunmehr mit dem, was für das Mittagsessen gekocht war.

Bald saß Tante Doris bei ihrer herrlich duftenden heißen Hühnersuppe und ließ sich später die gebratenen Küken mit süßen Erbsen schmecken,

Und nach einem Gläschen kräftigen Wein und eigenhändiger Zubereitung einer Schüssel für Mite-Male ließ sie sich in ihren Armsessel gleiten, sah noch eine Weile in die Zeitung und ließ endlich, nachdem sie die Lektüre hatte fallen lassen und die Schlummerdecke höher gezogen, den Kopf sinken und ergab sich mit gefalteten Händen ihrer Nachmittagsruhe.

* * *

Ungefähr acht Tage nach dem Geburtstage der alten Dame meldete nachmittags gegen sechs Uhr Andreas den Baumeister Mönkedorf. Mönkedorf war ein guter Architekt, aber ein verzweifelt schlechter Haushalter, und nicht eben das, was man einen Charakter nennt.

Die besten von den vier Mönkedorfs – ein Sohn studierte – waren der letztere und die Mutter; aber infolge der blinden Liebe zu ihrem Mann und ihrer Tochter kamen die guten Eigenschaften der Frau nicht recht zur Geltung.

Dennoch hatte Doris dem Baumeister und Hertha um derenwillen bisher sehr vieles nachgesehen und war auch bei den sich immer wiederholenden Verlegenheiten des Hausherrn seither zur Hand gewesen.

Heute führte ihn abermals eine Geldverlegenheit zu ihr. Sie wußte schon, wenn er um sechs Uhr kam und wenn Mite-Male – seltsam war das – ein unruhiges Knurren hören ließ, galt's Tante Doris Geldbeutel.

»Ich wollte Dir,« hub Mönkedorf an, »nachträglich herzlich gratulieren, liebste Tante Doris. Entschuldige, daß ich jüngst nicht kam. Die Ueberlast von Arbeit –«

Jeder Mensch ist einmal verdrießlichen Sinnes; Tante Doris war es heute Nachmittag. Schon gleich bei Mönkedorfs Anmeldung hatte sie sich vorgenommen, einmal andere Seiten hervor zu kehren. Sie wollte, je nach Umständen, die Gelegenheit ergreifen, ihm rücksichtslos die Wahrheit zu sagen.

»Ihr scheint überhaupt sehr belastet zu sein,« gab sie nach Niedersetzen ihres Verwandten zurück. »Deine Tochter brachte mir an meinem Geburtstag eine halbfertige Arbeit. Deine Frau wollte Erkundigungen wegen einer verschämten Armen für mich einziehen, hat aber nichts wieder von sich hören lassen, und Du – Du konntest jüngst nicht einmal ein halbes Stündchen abkommen. Schade, daß ich gerade von Eurer Arbeitsüberlastung den Schaden tragen muß –«

Mönkedorf hörte die keineswegs sanft gesprochenen Worte, und sie berührten ihn sehr peinlich. Vielmehr aber beschäftigte ihn die Ueberlegung, daß unter solchen Verhältnissen mit Geldangelegenheiten zu kommen, der denkbar schlechtest gewählte Zeitpunkt sei.

Aber jedenfalls mußte er etwas entgegnen, und da ihn seine Sorgen in eine reizbare Stimmung versetzt hatten, und ihre Worte die Reizbarkeit nicht verminderten, so stieß er, zugleich in seiner Erwiderung die Klugheit außer acht lassend, spitz verletzend im Ton heraus:

»Du sagst das so pikirt, Tante Doris! Ich sollte meinen, daß es bei solchen Dingen auf den Beweggrund ankommt. – Meine Damen haben doch nicht die Absicht gehabt, Dich durch eine Unterlassung zu kränken. Ebensowenig ich!«

Aber Mönkedorfs Voraussetzung, daß diese Logik Tante Doris entwaffnen, gar niederschmettern werde, erfüllte sich nicht.

Mit eisiger Ruhe sagte sie:

»Klingt sehr schön, Eduard, aber die schönen Worte passen nicht her – Du weißt sehr wohl, daß ich nicht diesen einzelnen Fall im Auge habe, sondern auch andere. Von Absichtlichkeit habe ich gar nicht gesprochen. Das wäre ja noch besser, wenn eine solche vorläge. Nein es ist Eure Gedankenlosigkeit, Euer Mangel an Ordnungssinn, Eure Zerfahrenheit. Ihr seid im Nehmen Virtuosen, aber habt einen sehr schwach ausgeprägten Sinn für die Ansprüche anderer. Es ist ja nicht die Gabe selbst. Auf sie legt man keinen Wert. Was braucht zum Beispiel eine alte Person wie ich, zumal wenn der liebe Gott sie so reich bedachte!«

Schon hatte Mönkedorf seine Sache verloren gegeben, aber die letzten Worte ließen ihn für seine Pläne wieder Mut schöpfen.

Ihr sanft in die Rede fallend, sagte er schmeichelnd und die Anschuldigung selbst umgehend:

»Ja, ist da nicht aber auch die ganze Lösung der Dinge, liebe Tante Doris? Du kannst geben, und Dein Herz treibt Dich dazu. Wir haben nichts! Wir leben in ewigen Sorgen, und auch gegenwärtig weiß ich wieder einmal nicht ein und aus. Gehe also nicht so schlimm mit uns ins Gericht. Wir wollen das Beste – jedenfalls Dir gegenüber sind wir von herzlichsten und dankbarsten Empfindungen beseelt –«

»Ich hoffe es!« betonte Doris Waterkant.

Nur diese Worte sprach sie, da sie dem Einlenkenden durch Abbrechen des Gespräches zwar Brücken bauen, ihm im übrigen aber ihre Gedanken über ihn und die Seinigen durchaus nicht vorenthalten wollte.

»Es ist die Wahrheit, Tante Doris! Wäre das Gegenteil nicht unnatürlich? Müßten wir nicht schamlose Menschen sein, wenn wir vergäßen, was Du für uns gethan hast? – Aber weil dem so ist, weil Deine Güte schrankenlos und Dein Herz über alles nachsichtig, so hilf mir, Herzenstante, noch einmal aus schwerer Not!«

»Wie ist's möglich, Eduard?« fiel die Alte, ohne vorläufig ein Ja oder Nein zu sagen, ein. »Du hast Deine feste, auskömmliche Einnahme als Wegebau-Inspektor und Angestellter der Stadt. Ein halbes Dutzend Mal habe ich mindestens schon und recht reichlich geholfen. – Was thust Du mit dem Gelde? Ihr müßt Euch endlich einrichten. Ihr lebt immer über Eure Verhältnisse!«

»Du weißt doch, daß ich mich wiederholt bei Privatbauten und Terrainankäufen verspekuliert habe,« fiel Eduard, der, wie alle Mönkedorfs, durchaus keinen Tadel vertragen konnte, schroff ein.

»So bleibe doch endlich davon! Da Du es nicht verstehst –«

»Ja, ich will auch, obschon –«

»Obschon?«

»Andern gelingt es doch, Tante!«

»Ja, andere sind besonnener, sie leisten auch vielleicht mehr –«

»Na, daß Du mir auch an meinem Können und an meinem guten Willen rütteln willst, Tante –«

»Bei mir kommt's auf die Resultate an, Eduard! Ich will Dir etwas sagen, noch einmal: Ihr braucht zu viel. Alles soll vom Besten sein! Nichts versagt Ihr Euch! Ihr seid die rechten modernen Menschen. Amüsieren! Andere können's bezahlen!«

»Wenn Du so sprichst, Tante! Wenn Du mich wie einen Schulknaben schuhriegelst. Meine Verehrung und Dankbarkeit verschließen mir den Mund, darauf etwas zu erwidern –«

»Ich wollte, ich brauchte es nicht, Eduard. Aber wer uns lieb hat, sagt uns die Wahrheit!« Und einlenkend: »Um wie viel handelt es sich denn nun wieder?«

Da Mönkedorf nun einen solchen Schwefelregen über sich hatte ergehen lassen müssen, wollte er wenigstens für seine Resignation entschädigt werden. So faßte er denn zusammen, was immer nur an kleinsten Rechnungen sich in den Ecken herumtreiben konnte und sagte, die Miene des vor den Löwen geführten reuigen Fuchses annehmend, sanft:

»Zehntausend Mark, Tante –«

»Zehntausend Mark – –!?«

Die Alte fuhr förmlich zurück. Höchstens an den zehnten Teil hatte sie gedacht und davon wollte sie vielleicht die Hälfte geben, aber auch diese erst am Quartalsersten aus ihren Zinsen.

»Daran ist gar nicht zu denken, gar nicht, Eduard,« erwiderte sie fest. »Es sei denn –

»Du meinst, Tante –« Mönkedorf sprach's kleinlaut, schmeichelnd.

»Ja, ich meine, es sei denn, daß Deine Kinder mitunterschreiben – ich meine, daß sie sich zu Mitschuldnern bekennen und daß Du regelmäßig abbezahlst – dann würde ich vielleicht einen Teil –«

Was war das? Mönkedorf sann hin und her! Und da kam ihm sicher der rechte Gedanke. Die Summe sollte gewiß später von Herthas und seines in Berlin studierenden Sohnes Erbe abgehen. Daß namentlich Hertha speziell bedacht werden würde, hatte die Alte vor Jahren einmal geäußert.

»Hertha? Hertha? Sie hat doch gar nichts Tante. Und der Junge? Du lieber Gott!«

»Aber sie können einmal etwas bekommen. Hertha kann heiraten. Ihr Mann kann etwas erwerben. Du selbst kannst in die Höhe kommen und Dich Deiner Schulden erinnern! Ihr wollt doch auch keine Geschenke, sondern das Geliehene allmählich zurückbezahlen. Früher sprachst Du wenigstens so, ohne es freilich je gethan zu haben, Eduard!«

Nun zuckte der Mann die Achseln. Was sollte er zu alledem sagen?

In allen Fällen verspürte er aber gar keine Lust, der reichen, geizigen Person noch etwas zurückzuzahlen, gar seine Kinder zu verpflichten. Sie aber, die Alte, hatte ihn gerade darauf prüfen wollen. Sie wünschte einmal ganz tief in sein Herz zu gucken. Leichtsinn verzieh sie. Das war ein Fehler, wie andere. Aber Leichtsinn mit Berechnung waren ihr verabscheuungswürdig.

Von seiner Antwort hing nun alles ab. Nach kurzem Besinnen sagte Eduard Mönkedorf:

»Ginge es nicht, daß ich Dir eine Hypothek auf mein Haus gäbe, Tante? Wenn Du auf besondere Sicherheiten bestehst, wäre das – das – das –«

»Dein Haus kann ja nichts mehr tragen Eduard! Es ist überlastet!«

»Ja, dann weiß ich nicht –«

»Warum willst Du die Kinder nicht mit unterschreiben lassen?«

»Ich will wohl, Tante. Ich sehe aber darin nichts anderes, als eine zwecklose Form. Wie lange ein Jurist warten muß, und was er dann schließlich hat, das wissen wir doch alle. Und Hertha? Heiraten? Wer heiratet heut zu Tage ein armes Mädchen?«

Eduard hielt inne. Er hoffte, daß die Alte vielleicht jetzt ein Wörtlein der Erwiderung, gar etwas von Erbschaft sprechen werde.

Aber sie sagte es nicht, wohl aber stieß sie, um den Eindruck zu spüren, heraus:

»Ja, anders geht es doch nicht. Denn wisse! Ich disponiere nicht mehr über mein Vermögen. Ich habe meine Bestimmungen getroffen und kann nichts mehr daran ändern. Ich vermag über eine Summe in solcher Höhe nicht ferner zu verfügen. Überhaupt kann ich Kapital nicht mehr angreifen, nur aus Überschüssen, aus den Zinsen kann ich helfen.«

Diese Worte wirkten geradezu niederschmetternd auf Eduard Mönkedorf; umsomehr, als die Alte mit einem Ernst sprach, der jeden Zweifel an der Aufrichtigkeit des Gesagten ausschloß.

Also sie erbten überhaupt nichts, jedenfalls nur das, was er ihr schon abgebettelt hatte. Das waren im Laufe der Jahre dreißigtausend Mark geworden. Das übrige – man munkelte schon davon – war für milde Stiftungen und am Ende für – Marie Langbehn, die stille Schleicherin.

So galt es denn noch zu retten, was zu retten war.

»Ich muß, ich muß Geld haben, Tante. Ich stehe vor einer Katastrophe. Ich bitte Dich, gieb mir wenigstens einen größeren Teil. Ich will's Dir danken mein Lebelang. Es liegt doch in Deiner Hand, Dein eigenes Testament zu ändern – Verzeih, daß ich das sage, aber ich weiß nicht, wohin ich mich wenden soll, wenn Du nicht noch einmal aushilfst.«

»Ich werde es mir überlegen, wie viel und auf welche Art ich es Dir verschaffen kann, Eduard, und Dir dann schreiben. Heute lasse uns das Gespräch schließen,« brach die Alte nach kurzem Sinnen ab. »Morgen wirst Du bereits Nachricht haben. Ich werde thun, was ich kann und darf! Vergiß nicht, daß schon große Posten in meinen Büchern für Dich stehen.«

* * *

Doris Waterkant hatte zum Teil ihren Zweck erreicht. Aber es blieb doch noch etwas zurück. Sie wollte den Wert oder Unwert ihrer Verwandten bis aufs Letzte prüfen.

Sie hatte dann an Eduard am nächsten Tage wie folgt geschrieben:

»Lieber Eduard! Ich will Dir noch einmal, zum letzten Mal, fünftausend Mark leihen, die ich Dich bitte, mir auf Deinem Grundstück sicher zu stellen. Ob Du nun für dies Kapital und früher Angeliehenes Zinsen zahlen willst, sei Dir überlassen. Aber merke eines:

Damit sind meine Zuwendungen ein für allemal beendet. – Jeden ferneren Anspruch muß ich ablehnen und würde mich auf diese Zeilen berufen.

Zürne nicht der hartherzigen Doris Waterkant, die auch anderer zu gedenken hat, solcher, die es nicht minder nötig haben und es zugleich verdienen. Grüße herzlich die Deinigen, die ich dem nächst besuchen werde.«

* * *

Nach diesen Vorfällen war ein Jahr verstrichen. Doris Waterkant lebte, wie immer, in ihrem schönen Hause mit dem hohen Giebel, war, wies eben kam, gütig und voll herzlicher Teilnahme, oder aufrichtig, derb, verzog ihren alten, halbblinden Hund und ihre Vögel und empfing ihre Freunde und Bekannte wie früher. Nur eines war anders geworden. Mönkedorfs ließen sich fast gar nicht mehr blicken. Der alten Dame Voraussetzung hatte sich erfüllt. Da sie glaubten, daß nichts mehr zu holen sei, mieden sie ein Haus, das sie vordem nur betreten hatten, weil sie mußten. Sie mochten sich keine guten Lehren geben lassen und zudem: empfangene Wohlthaten drücken!

Dem Freunde, der Geld gegeben, geht der Durchschnitt der Menschen ängstlich aus dem Wege. Wird ersterem nicht häßliche Nachrede für das Gute, was er gethan, folgt nicht Verbitterung, mag er sich bedanken. Es sind einmal die meisten Menschen aus sehr mäßigem Teig gebacken. Nur dem Gelde der Alten hatten die Rücksichten gegolten, die Mönkedorfs bisher geübt. Da nichts mehr zu haben war, mieden sie die Schwelle des alten Waterkantschen Hauses. –

Aber doch ließ Tante Doris ihre Verstimmung nicht merken. Früher hatte sie gesprochen, weil sie für ihre Verwandten ein tieferes Interesse besessen, jetzt hielt sie ihre Würde ab, Empfindlichkeit an den Tag zu legen. Sie that, als ob ihr die spärlichen Besuche gar nicht aufgefallen seien, wohl aber hatte sie nach dem kürzlich erfolgten plötzlichen Tode der alten Langbehn, Marie zu sich ins Haus genommen. Alle Welt sprach von diesem Ereignis. Marie galt als Erbin der Millionärin, und um Marie drängte sich fortan die Schar derer, die noch was erwarteten.

Plötzlich kamen nun auch Mönkedorfs wieder! Als Tante Doris Geburtstag wiederkehrte, erschienen sie sämtlich und diesmal – Tante Doris konnte nur schwer ein verächtliches Lächeln unterdrücken – überreichte ihr Hertha – zwei selbst hergestellte Handarbeiten. Aber da sie die eine erst noch vor wenigen Tagen in einem Schaufenster der Langenstraße hatte liegen sehen, begab sich Tante Doris schon am nächsten Tage in das Geschäft, fragte nach dem Preise – rote Seidenstickerei auf Leinewand – und erfuhr, was sie zu wissen wünschte.

Aber noch ein anderer Zwischenfall gab Tante Doris zu denken, und dieser wirkte auf ihre Stimmung und ihr Urteil weit mehr, als das, was sie bisher erfahren hatte. Ja, er brachte sogar einen Entschluß zur Ausführung!

Als sie am Spätnachmittag, vierzehn Tage später, nach Besuchen und Einkäufen, die sie gemacht, ihr kleines, verwachsenes Persönchen langsam durch die von den letzten Strahlen der Sonne überflutete Straße schob, trat zufällig Hertha Mönkedorf in einem sehr eleganten Kostüm aus einem gegenüberliegenden Konditorladen heraus und schritt, ohne zunächst Doris Waterkant zu bemerken, quer über die Gasse.

Und dann gegenseitiges Erkennen, Begrüßen, Stehenbleiben und Plaudern! Tante Doris war ganz die Alte; ihr Auge blickte freundlich, und ihr Wesen hatte etwas sehr gütiges. Aber in diesem Augenblick tauchten einige hoch gestellte Personen mit ihren Frauen an der Ecke der nahen Querstraße auf, und gerade solche, die sehr starke Unterscheidungen trafen, solche, die, wie Hertha wußte, sehr darauf sahen, mit wem man umging.

Und sie stand hier im vertraulichen Gespräch mit der buckligen Zwergin, und ein Entrinnen war um so weniger möglich, als eben Tante Doris eine Bewegung zum Weiterschreiten machte und sagte:

»Gehst Du mit, mein liebes Kind? Und willst Du denn so freundlich sein, mir den Arm zu reichen? Ich bin etwas ermüdet –«

Auch das noch! Sie sollte mit der Verwachsenen Arm in Arm durch die Stadt wandern. Aber Hertha fand zum Glück einen Ausweg. Hastig sprechend, zugleich durch ihre Mienen ein herzliches Bedauern an den Tag legend, sagte sie:

»Ich bin bei Hastels zum Kaffee eingeladen. Gerade hier wohnen sie. Aber natürlich, wenn Du wünschest, Tante –«

»Nein, nein! Laß Dich dann durchaus nicht stören! Das geht natürlich vor!« fiel die alte Dame ein und griff zum Zeichen des Abschieds nach Herthas Hand.

Freilich hielt sie Hertha zu derem großen Verdruß noch so lange, bis die hohen Herrschaften vorübergeschritten. Dann aber trennten sie sich. Hertha schlüpfte in das von ihr bezeichnete Gebäude, und die Alte schritt quer über die Straße. Auch sie trat in den Konditorladen, aber sie ging nicht hinein, sondern blieb auf dem Flur stehen und beobachtete durch die Thürscheibe, was geschehen werde.

Und was sie erwartete, ereignete sich. Eine Weile später kam Hertha wieder zum Vorschein, blickte sich, eifrig spähend, nach der Alten um, machte ein befriedigtes Gesicht, als sie sie nicht fand und verfolgte ihren Weg.

Die Alte aber winkte einem vorüberfahrenden Kutscher und ließ sich nach dem Waterkantschen Hause in der Brühlstraße fahren. Nach einer Viertelstunde war sie dort, stieg mit Hülfe von Andreas aus, hörte, daß Marie im Garten sei, ließ sie aber nicht rufen, sondern zog sich zurück und machte in ihrem Tagebuch Notizen. Nachdem das geschehen, wich der bisherige schmerzlicher Ausdruck in ihren Zügen, und mit der alten freundlichen Güte trat sie der sich ihr eben nähernden Marie entgegen.

»Der Thee schon fertig, liebes Kind? Ei, das ist schön! Ich bin sehr flau und freue mich aufs Abendessen! Bitte, reiche mir Deinen Arm! Ich bin heute wirklich recht abgespannt.«

Mit liebevoller Behutsamkeit that Marie, wie ihr geheißen ward und führte Tante Doris ins Speisezimmer.

Mite-Male wartete schon und schmiegte sich bei Eintritt der Alten zärtlich knurrend, ja, heute gar vor Freude mit den letzten ihr zu Gebote stehenden Belllauten an sie an.

In der Folge vollzog sich alles den Umständen angemessen. Da Marie Langbehn, das schöne, schlanke, sanfte Mädchen ihre Mutter verloren hatte, konnte sie nichts mitmachen. Aber ihr verlangte auch nicht danach. Sie genoß die Ruhe und den Frieden, den sie in der Abhängigkeit als Höchstes ersehnt hatte. Sie besaß alles, wonach ihr Herz verlangte, auch äußerlich, da Tante Doris ihr ein reizend belegenes Zimmer, oben eine Treppe hoch, einrichten und ein neues Klavier darin hatte aufstellen lassen.

Es war sogar ihr Eigentum geworden, und Blumen standen an den Fenstern, und ein Vogel hüpfte ebenso wie unten, in einem Käfig auf den Stäben.

Eines Nachmittags, es war schon gegen Ende des heißen Sommers, saß Marie in dem kühlen, großen Wohnzimmer der Alten am Fenster mit ihrer Arbeit. Ringsumher blitzten, von der einfallenden Sonne sanft beschienen, die alten, dunklen Möbel und übrigen Gegenstände. Jene sauber behagliche Ordnung verschönte das Gemach, die auf empfängliche Naturen so überaus anziehend wirkt. Auch Marie nahm das, umschauend, mit erquickten Sinnen in sich auf.

Aus alten, ovalen Rahmen schauten Vorfahren von Tante Doris hervor. Herrliche Porzellansachen standen auf den geschleiften Kommoden, und eine prachtvolle, englische Schlaguhr tickte in der Ecke, neben der ein großer Kupferstich, Alexander und Darius, an der Wand aufgehängt waren.

Und Mite-Male schlummerte in ihrem Korb neben dem Ofen allmählich dem Jenseits zu, und der Kanarienvogel putzte sich das gelbschimmernde Gefieder.

Ein Wonnegefühl durchdrang die Seele des Mädchens. Das war ihr nun alles geworden! Keine tadelnde Miene, keine Zurücksetzung, keine Abhängigkeit mehr! Sie ward nicht mehr über die Achsel angesehen. Sie war frei, sorgenlos, im engsten Zusammenhang mit einem weiblichen Wesen, dessen vornehmes, wahrhaft edles Herz sie täglich mehr schätzen lernte. –

Nun klingelte es draußen. Ein Besuch war's. Andreas meldete den Referendar Mönkedorf. Er hatte sein Examen glücklich bestanden und war zurückgekehrt, um nach angestrengter Arbeit Ruhe und Behaglichkeit zu genießen.

Er und Marie waren selten mit einander in Berührung gelangt, sie wußten nur als entfernte Verwandte von einander. Paul Mönkedorf war ein sehr schmucker Mensch, hatte eine Schmarre auf der Backe und war sehr sorgfältig gekleidet. Etwas Übles hing ihm an. Wenn er verlegen war, geriet er leicht ins Stottern.

Ein starkes Rot überflog sein Angesicht, als er Tante Doris nicht fand, als Marie ihm mit ihrem ausgeglichenen, sanft ernsten Wesen gegenübertrat. Auch fand er die Worte schlecht, gerade jetzt, wo er vor dem schönen Mädchen stand. Sich so unvorteilhaft hinzustellen, bedrückte ihn, und erst allmählich gewann er seine Sicherheit zurück.

Dann aber floß der Rede Strom..

Einen Blumenstrauß zog er hervor, den er für Tante Doris mitgebracht hatte. Vorher aber löste er eine Moosrose aus der Fülle und fragte, ob er sie Marie anstecken dürfe. Uebrigens finde sie, so äußerte er scherzend, nirgends einen besseren Platz. – Und nach eifrigem Geplauder und neckischen Reden nahm er dann endlich Abschied und bat, Tante Doris zu grüßen.

Als er aber schon in der Thür stand, wandte er sich nochmals, wie in nachträglichem Besinnen um, trat auf Marie zu und sagte:

»Höre, liebe Marie, ein Wort. Wer weiß, ob wir uns sobald so vertraulich wieder sprechen. Ich habe eine Bitte an Dich –«

»Ja, ich höre, lieber Paul –«

»Du weißt, wie meine Familie zu Tante Doris steht, oder, wenn Du es nicht weißt, so will ich es Dir sagen. Es ist nicht das Rechte zwischen ihnen, vielmehr etwas Künstliches. Und die Schuld – ich muß es sagen – liegt allein auf Seiten der Meinigen. Vater hat nie verstanden, sich einzurichten. Mutter ist aus Liebe schwach, und Hertha ist einmal eine kalte Natur. Aber wer kann über seinen Schatten springen? Mir thut das sehr, sehr leid, denn Tante Doris ist ein vortreffliches Wesen. Wir haben ihr unendlich viel zu verdanken. Wäre sie nicht, hätte ich ja gar nicht studiren können. Ich wollte Dich herzlich bitten, darauf hinzuwirken, daß das alte Verhältnis wieder hergestellt wird. Und ich gebe Dir mein Ehrenwort, Marie, –« der junge Mann sprach's mit ehrlichem, schönem Freimut –»mich bewegen keine häßlichen Nebenabsichten, nur mein anständiges Gefühl treibt mich. Ich will nichts ferner von der guten Alten, nichts, gar nichts. Es würde mich sogar jegliche fernere Zuwendung tief beschämen. Ich möchte nur, daß sich gestaltet, was zwischen Verwandten naturgemäß ist, ein auf Achtung begründetes Verhältnis. Du kannst sehr viel dazu thun, ich bitte Dich darum herzlich. Ich werde meinerseits nicht aufhören, die Meinigen zu erinnern, was sie der alten Dame an Rücksicht und Ehrerbietung schuldig sind. Aber ich werde auch Dir nicht vergessen, daß Du Dich dieses Gespräches erinnert hast. Und nun lebe wohl! Ich weiß, Du mit Deinem vornehmen Sinn – ich fühle, welch ein guter, feiner Geist Dir inne wohnt – wirst mich nicht mißverstehen. Und ah – sieh –« schloß er, den ernsten Ton verlassend, »eben erschloß sich die Knospe an Deinem Mieder! Das deut ich mir als ein verheißungvolles Zeichen! Freilich, ich sagte es ja schon – dort allein sei ihr Platz zum Blühen auf der Welt.«

Und sie lachte ohne Ziererei und drohte mit dem Finger und seiner früheren Worte Inhalt aufnehmend, sagte sie:

»Ich gebe Dir mein Wort, daß ich so handeln werde, wie Du es erwartest, Paul. Aber auch ohne Deine Bitte geschah's bereits und wäre es geschehen.«

»Ah, Du liebes, herrliches Mädchen!« wollte der junge Mann hervorstoßen, aber er bezwang sich, weil sie den Ausbruch seines Gefühls falsch deuten konnte, neigte sich mit ritterlicher Verneigung auf ihre Hand herab und verließ das Zimmer.

Sie aber hörte, wie er die Stufen in den großen Flur hinabstieg, und dann erschallte der laute Ton der alten, mächtigen Klingel.

Und hinter den Blumentöpfen verborgen schaute sie ihm verstohlen nach, bis er ihrem Gesichtskreis entschwand.

* * *

Der Herbst war vergangen, der Winter eingekehrt. Die Rosen waren längst entblättert und auf den von der kalten Wintersonne beschienenen Straßen, sowie draußen auf dem Felde, über dem bisher die Vögel ihre zärtlichen Melodien gezwitschert, ging der rauhe Wind spazieren, als ob er alles inspizieren, aber auch was noch geblieben, vollends vernichten wolle. –

Die Erde lag da in Agonie, gleichsam als ob sie bewußt empfinde, daß alle Auflehnung umsonst, daß einmal im Dasein auf Leben Verwesung folge. Aber in den Häusern brannten lustige, erwärmende Feuer, und die freundliche Fee Gemütlichkeit waltete hier, die Menschheit entschädigend für die rauhe, mitleidlose Jahreszeit, die nun sogar eisig-flüssige Schneeflocken herabsandte.

Und in den Waterkantschen Hause sah es gar nicht aus, wie es sein sollte, und namentlich nicht, wie Marie es wünschte. Gleich mit dem Beginn des Winters hatte sich die alte Dame, die noch eben vorher ein großes Fest – das erste nach dem Tode von Maries Mutter – gegeben und an Frische und Fröhlichkeit alle übertroffen, niedergelegt. Ein fieberhafter Erkältungszustand wollte trotz aller Sorgfalt und Pflege nicht weichen, und da sich nun Appetitmangel eingestellt, begannen die Kräfte zu schwinden.

Wenn Marie geduldig und sanft an der alten Dame Bett saß und ihr vorlas, schlief sie sehr häufig ein, und wenn sie erwachte, verlangte sie schon wieder nach Ruhe. – Fast niemand durfte sie besuchen. Auch starb ihr Interesse für die sie umgebende Welt gleichzeitig ab. Sie fragte nicht mehr nach diesem und jenem, und nur dann horchte sie auf, wenn Marie meldete, daß Mönkedorfs abermals geschickt und sich nach ihrem Befinden erkundigt hätten.

In Folge dessen regte sie auch die ihr von einem ausnahmsweise an ihr Bett getretenen Bekannten gewordene Mitteilung, daß sich Hertha Mönkedorf mit einem Offizier, dem Baron Karl v. Immenhoff verlobt habe, ganz außerordentlich auf.

Gleich sprach sie deswegen auf Marie ein, und Marie bestätigte, was sie eben auch bei einem Besuch gehört hatte.

»Weshalb sie aber mir nicht gleich Mitteilung gemacht haben, Marie? Ja, Du nimmst sie stets in Schutz. Aber da haben wir es wieder. Nicht einmal die nächste Verwandte wird benachrichtigt, viel weniger um Rat gefragt. Entweder fürchten sie meine Einwendungen, weil's eine thörichte Partie ist, oder es ist ihnen der vornehme Schwiegersohn zu Kopf gestiegen.«

»Aber Tante! Wie magst Du so denken! Nur Rücksicht auf Deinen Zustand hat sie sicherlich geleitet. Sie wollen Dich nicht aufregen; wahrscheinlich es mir erst mitteilen, damit ich entscheide, ob Du dafür –«

»Nein, nein, mein teures Kind! Ich weiß es besser! Es ist leider, wie ich sage. Und sie mögen auch handeln, wie sie wollen. Es thut mir nur um ihretwillen leid, daß sie so wenig Pietät besitzen, daß sie so grenzenlos rücksichtslos und egoistisch sind –«

»Doch nicht, Tante! Sie sind eben anderer Art! Ich weiß, wie hoch sie Dich schätzen. Paul zum Beispiel –«

»Ja, Paul! Das ist ein Prachtmensch, aber die anderen –! Doch wohlan! Wir haben ja auch nichts mehr miteinander! Sie gaben mir und ich ihnen – sagen wir, nun wohl – sagen wir – – in dem Umfang unseres Könnens und unserer Veranlagung – und – so sind wir quitt. Kränkungen habe ich einstecken müssen, schwere. Ich sah ihnen bis in ihr innerstes Herz! Und das ist's eben. Ich weiß, was ist! – Ein dürrer Boden ist da, auf dem kein ordentliches Kraut wächst. Was sie diesen Sommer und Herbst wieder angaben, kam nicht aus dem Herzen, es war nur – doch gleichviel! Laß sie, ich kann ja auch ohne sie sterben –«

»Aber Tante, liebe Tante. Bitte, sprich nicht so. Rede auch nicht von Sterben. Du wirst noch lange, lange leben! Ich bete jeden Tag. Der Schöpfer, ich weiß es, wird Dich uns noch lange erhalten –«

»Hast Du mich denn lieb, mein Kind?«

»Meine gute Tante!« Das Mädchen sprach's tiefbewegt und beugte sich zärtlich zu der Alten herab.

Sie aber umfaßte sie mit ihren dürren Armen und flüsterte: »Ja, ich glaube Dir. Einen Menschen habe ich, der mich liebt ohne Eigennutz, Du bist's, mein süßes Kind. Habe Dank! –«

»Noch einen giebt's!« flüsterte Marie, »und jetzt muß ich es Dir sagen: Es giebt einen, der Dich sehr, sehr lieb hat und den auch ich sehr liebe –«

»Was höre ich! Sprich! Nein, nein, es regt mich nicht auf! Es macht mich froh! Du liebst jemanden? Ist's einer, den ich kenne? Und er ist mir gut, sagst Du?«

»Ja, Tante, Paul heißt er, und er gehört zu der Familie, die Dir gewiß wehe gethan, aber der Dich doch wahrhaft verehrt und jedenfalls niemals vergessen wird, was Du für sie gethan hast –«

»Paul, Paul ist's? Ja, das ist eine gute Nachricht, Marie, da hast Du das Rechte getroffen. Das macht mich glücklich – sehr glücklich – obschon – obschon –«

»Du meinst, Tante?«

»Ja, mein Kind, weil ich Dich dann wieder lassen muß, wieder allein sein werde, während jetzt gerade einen treuen, sorgenden Menschen um mich zu haben, mein Wunsch wäre. – Ich werde alt und schwach – Ich fühle es, die besten Tage sind dahin. Was nun Gott noch geben will, sind Zeiten der Gnade.«

Das Mädchen erwiderte nichts. Es fiel plötzlich in starker Bewegung nieder an dem Bette der Greisin.

Und erst als die Alte sie wiederholt zärtlich ermunterte, ihr Schweigen zu brechen, zu sagen, was sie so betrübe, stieß sie zaghaft heraus:

»Du weißt ja, daß ich Dich nie verlassen werde, Tante. Aber gerade, weil ich es nicht will und darf, deshalb habe ich bisher über das geschwiegen, was mein Herz erfüllt. Und daß ich nun doch mich habe zu einem Geständnis hinreißen lassen, darüber weine ich in Reue. Verzeih' mir! Aber ich konnte es nicht zurückhalten. Und nicht wahr? Wem soll ich denn mein Glück und mein Leid anvertrauen, wenn nicht Dir, die Du mir mehr bist, als meine Mutter, – die Du mir mehr gewährst, als ich an Zärtlichkeit und Liebe wünschen und verlangen kann!

Und so wisse denn – mein Entschluß ist unabänderlich, Tante – ich habe gerade eben verzichtet. Ich habe Paul auf seine Anfrage erwidert, daß ich ihn nicht genügend liebe, er möge mir deshalb nicht zürnen.«

»Wie, das thatest Du, Du seltenes, selbstloses Geschöpf? Das thatest Du um meinetwillen? Und Du meinst, Deine Mutter – Du nanntest mich Deine Mutter, und ich bin es! – ich werde ein solches Opfer annehmen? Ach, mein Kind! Dann kennst Du mich gar nicht! Was kann mich mehr beglücken, als Dich glücklich zu sehen, und noch dazu, da Du mir einen geheimen Herzenswunsch erfüllt hast.«

Aber Mariens Mienen hellten sich nach diesen guten Worten nicht auf.

»Ich danke Dir von Herzen, teure Tante,« stieß sie bewegt heraus. »Aber es muß nun doch so bleiben, schon deshalb, weil diese Liebe so aussichtsloser Natur ist. Wann kann Paul eine Frau ernähren? Da gehen viele, viele Jahre darüber hin. Inzwischen werde ich alt, und er bleibt jung. Und ich weiß wie es in der Welt ist. Ich habe viel während der Jahre meiner Abhängigkeit erfahren. Nein, ich bitte Dich inständigst, lasse alles so bleiben. Ich habe mein Herz bezwungen. Es ist schon alles ruhig bei mir! Ich bleibe bei Dir. Und kann ich es herrlicher haben, als in Deiner Nähe? Vermag ich besser Dir zu vergelten, was Du an Mutter und mir so reichlich gethan? Und ich bitte Dich eins: Denke nicht, daß ich von Edelmut und Güte überfließe. Ich habe schwere Kämpfe durchgemacht, aber nicht nur mein Herz stand bei meinem Entschlüssen Pate, sondern der kühle Verstand. – Es ist besser so. Ich weiß, was ich jetzt mein nenne. Die Zukunft hat festverschlossene Thüren, und wenn ich sie auch öffnen könnte, so vermöchte ich doch das hinter ihnen herrschende Dunkel nicht zu durchdringen.«

Diesmal entgegnen Tante Doris nichts. Sie streichelte nur die feine Mädchenhand, die sich über der Bettdecke entgegenstreckte und streichelte sie von Neuem. Es blieb unentschieden, was sie dachte, sann und wollte –

* * *

Es war richtig! Es war ganz so, wie Tante Doris vermutet hatte. Einerseits war der Übermut Hertha Mönkedorf in den Kopf gestiegen, andererseits nahm sie die Krankheit der Alten als Vorwand, um irgendwelchen unbequemen Erörterungen aus dem Wege zu gehen.

Sie hörten sie sprechen, daß es weit vernünftiger gewesen sei, einen einfachen Bürgerlichen zu heiraten, als einen anspruchsvollen, armen Adligen? Wovon sie beide leben wollten? Aber dem Baron hätten sie nicht widerstehen können, und was der überflüssigen und lästigen Reden mehr sein würden.

Was die Alte ihm zuwenden wollte, das würde sie ohnehin thun. Über eine Hochzeitsgabe hinaus war nichts zu haben! Die einzige, von deren Edelmut später etwas zu erwarten sein mochte, war Marie, und ihr hatten sie denn auch – allerlei Redensarten bezüglich der Alten Krankheit und daraus hervorgehender Rücksicht einschiebend – sogleich schriftlich Mitteilung gemacht.

Alles das durchschaute die Alte vollständig, und die Bitterkeit, die sie bisher noch immer mit ihrem guten Herzen zurückgedrängt, nahm stetig zu. – Andere lernten durch die Zeit! Mönkedorfs aber lernten nichts. Nicht einmal kleine Unbequemlichkeiten auf sich zu nehmen, gewann ihre stets nur auf Vorteile gerichtete Natur über sich.

Und so geschah es denn, daß sie eines Tages, nachdem sie sich wieder aus ihrem Bett erhoben hatte, ihr Testament hervorsuchte und wirklich das that, was sie bisher immer nur in Augenblicken tiefer Erregung erwogen hatte. Sie enterbte in einem Nachtrag die Familie Mönkedorf und wies sie an, das bisher empfangene Geld an die Universalerbin Marie Langbehn zurückzuzahlen.

Ursprünglich hatte sie ihren gesamten Besitz in zwei gleiche Teile geteilt. Die eine Hälfte sollten Mönkedorfs und die andere Marie erhalten. Nun aber fiel das mit Zins und Zinseszins auf siebenhundertundfünfzigtausend Mark angeschwollene Vermögen der Letzteren allein zu. Es gingen nur die Leibrenten für die Dienerschaft davon ab.

Als sie eben den Wortlaut dieses Kodizills niedergeschrieben hatte, wurde sie von Andreas benachrichtigt, daß Marie sich einige Stunden entschuldigen lasse. Sie sei so wenig wohl, daß sie sich habe in ihrem Zimmer niederlegen müssen.

Das regte die Alte solcher Gestalt auf, daß sie lediglich die Papiere bei Seite schob und sich rasch nach oben begab. – Sie war wieder ganz behende und flog förmlich davon.

Wenige Sekunden später ertönte die Hausglocke, und Hertha Mönkedorf erschien. Sie war vorläufig allein, da ihr Verlobter unversehens auf acht Tage abkommandiert war. Endlich hatte sie sich – da nun die Alte wieder aus dem Bett war – doch aufmachen wollen. Die Eltern hatten die Absicht, am Nachmittag zu kommen.

Das Fräulein sei gerade oben. Er bäte – so ermunterte Andreas – Hertha möge im Wohnzimmer warten. Und so geschah es; Hertha trat näher, und Andreas eilte hinauf.

Und die Braut schaute sich in den Räumen um, in denen sie so lange nicht gewesen war, und geriet mit der ihr anhangenden Neugierde auch an den Schreibtisch. Und da sie Schriftstücke fand, konnte sie natürlich nicht widerstehen und las – der Himmel begünstigte sie – Alles, was sie nicht lesen sollte.

Und während des Lesens schlug ihr Herz hörbar, ja, es pochte so gewaltig, daß sie sich für Augenblicke niedersetzen mußte, weil die Aufregung sie fast besinnungslos machte. Und doch war es nötig, daß sie sich beherrschte. Alles stand auf dem Spiel –! In ihrer Not kam ihr ein Gedanke. Sie blieb gar nicht im Wohnzimmer, sondern sie öffnete das nebenanliegende Speisezimmer und trat von hier in den Garten.

Dort wenigstens konnte man ihr kein Spionieren nachweisen. Wenn ihre Tante sie dort fand, kam ihr sicher nicht einmal der Gedanke, daß sie, Hertha, Einblick in die Papiere genommen hatte.

Fünf Minuten später erschien Andreas auf der Balkontreppe und spähte umher. Hertha that, als ob sie seiner nicht gewahr werde. Erst als er herabstieg und sich ihr nähere, erhob sie das Auge und folgte rasch dem Meldenden.

Herthas erste Bewegung war eine zärtliche Umarmung, hierauf die Bitte: Tante Doris möge nachträglich ihren Entschluß segnen. Über alles habe sie bedauert, daß Tante Doris Krankheit verhindert habe, ihren Rat und ihre Zustimmung einzuholen. Dann aber ließ sie einen Blick auf die Schreibsekretärplatte fallen und sah, – daß die Papiere sich dort nicht mehr befanden.

Das beunruhigte sie ein wenig, aber sie wußte sich zu beherrschen, war ganz Liebe, Hingebung und ganz Ohr für das, was die alte Dame sprach. Letztere sagte heute manches Unangenehme. Zum Beispiel äußerte sie gleich:

»Es ist seltsam, daß bei Euch stets jegliches anders ist, als bei Anderen. Statt, daß beim ersten Gang der Bräutigam zugegen ist, kommst Du allein. Deine Eltern waren noch gar nicht hier. Ich erhielt – ich weiß es, – die gedruckte Anzeige später als alle übrigen.«

»Das lag doch nur daran, daß wir Marie gleich benachrichtigt und sie gebeten hatten, Dir die Verlobung mitzuteilen, liebe Tante. Und was unterlassen ist, war Rücksicht! Aber freilich, ich bin gewohnt, daß Du leicht bei uns etwas in anderem Sinne auslegst und muß mich darein finden. Jedenfalls aber weiß ich, daß es gewiß keinen Menschen auf der Welt giebt, der Dich so lieb hat und stets diese Liebe an den Tag zu legen in gleicher Weise bereit sein würde, wie ich.«

»So – so! Na, das freut mich herzlich, wirklich herzlich. Ich möchte sogar gleich Gebrauch von Deinem freundlichen Anerbieten machen. Marie ist nicht unbedenklich erkrankt. Würdest Du wohl von Deinen Eltern die Erlaubnis erhalten, Marie für die nächsten Wochen zu pflegen, zu diesem Zweck zu mir überzusiedeln? Dein Verlobter muß freilich darunter leiden. Es ist ein großes Opfer, aber –«

»Mit Freuden, liebste, teure Tante. Endlich einmal eine Gelegenheit, Dir zu zeigen, daß ich gewiß nicht so egoistisch bin, wie ich Dir bisweilen erscheinen mag. Soll ich gleich heute kommen? Und was ist denn mit Marie? Das thut mir ja sehr, sehr leid. Darf ich gleich mal hinaufgehen?«

Die kleine Dame wurde fast ein wenig irre, als sie diese in wärmstem Ton hervorgestoßenen Worte vernahm. Sie forschte in ihrer Verwandten Mienen, und da sie einem sanft bereitwilligen Ausdruck auch ferner begegnete, ließ sie wenigstens jetzt den angenehmen Eindruck ganz auf sich wirken.

»Nein, mein Kind, heute danke ich Dir. Da werde ich zunächst selbst alles besorgen. Aber morgen und für die Folge nehme ich Dein Anerbieten an. Ich habe eben Andreas zum Doktor gesandt. Wir werden hören. Vielleicht ist's ja auch nicht so schlimm. Aber Scharlach dauert an. Es ist Scharlach, sicher –«

»Scharlach?« stieß Hertha heraus. Das Herz glitt ihr förmlich herab, und tief bereute sie bereits ihr höchst unvorsichtiges Anerbieten. Mit solcher Krankheit war nicht zu spaßen. Gesundheit ging ihr noch über die Hälfte von siebenhundertundfünfzigtausend Mark. Tante Doris entging dieses Erschrecken nicht, auch wunderte sie sich nicht darüber daß Hertha während ihres Daseins gar nicht mehr von einem Besuch bei Marie sprach. Sie betonte nur – jedoch deutlich abgeschwächt in ihrer Begeisterung, – daß sie morgen kommen werde. Insgemein nahm sie sich freilich vor, abzuschreiben. Ein Grund würde sich schon finden. Sie konnte selbst Krankheit vorschützen.

Die Alte aber, die sie nur auf die Probe hatte stellen wollen, dachte gar nicht daran, von ihrer Pflege Gebrauch zu machen. Sie hatte ihrerseits die Absicht gehabt, am kommenden Morgen zu melden, es sei nicht nöthig. – Aber bis dahin wollte sie abwarten, ob Hertha fest blieb.

Nachdem Hertha gegangen und Andreas zurückgekehrt war, sagte die Alte zu Letzterem:

»Haben Sie vielleicht auf meinem Schreibtisch abgestäubt, Andreas? Ich hatte dort Papiere hingelegt und fand sie nicht in derselben Ordnung.«

»Nein, Fräulein. Nein! – Das wissen Fräulein auch – Ich hab' sie gar nicht mal gesehen –«

»Schön, schön! Sagen Sie um etwas anderes zu fragen: Ging Fräulein Hertha vom Flur in den Garten?«

»Nein, ich ließ sie hier herein, und dann ist sie durch's Eßzimmer gegangen.«

»So – so – danke. – Also der Doktor kommt! Gut, decke jetzt nur auf. Ich bin hungrig, und Fräulein Marie verlangt auch nach einer Suppe.«

* * *

Viele Jahre sind vergangen. Auf dem Wisborger Kirchhofe unter Rosen und Epheu schlummert lange Doris Waterkant, und in dem Patrizierhause, in dem sie einst geschaltet und gewaltet, führt jetzt – auch seit langem schon – Marie Langbehn, ihre einzige Erbin, die Wirtschaft. Und wie einst, hüpft jetzt auch ein gelber Kanarienvogel auf den Stäben eines Bauers und zwitschert und singt dort, die goldene Freiheit nicht kennend; und ein Hündchen, wennschon jünger und behender, als einst Mite-Male, läuft mit einem Glöckchen am Halsbande durch die Räume und schmiegt sich zärtlich an Marie. Und wie damals die alte, kleine, verwachsene Dame, so sitzt an demselben Schreibtisch die jetzige Besitzerin und entwirft, nachdem sie einen empfangenen Brief nochmals durchgelesen, die nachstehenden Zeilen:

»Lieber Herr Mönkedorf.

Mit größtem Kummer entnahm ich Ihrem Brief, daß es Ihnen wieder nicht gut geht, daß Sie körperliche Schmerzen empfinden und schwere Sorgen haben.

Ich hörte als junges Mädchen einmal, daß die größten Beschwerden erst für Vater und Mutter entständen, wenn ihre Enkel herangewachsen seien und meinte damals, es sei wohl ein Wort ohne rechte Wahrheit. Aber an Ihren sich immer wiederholenden Verlegenheiten erkenne ich, daß es zutreffend sein muß, und jetzt, nachdem ich das Leben besser kennen gelernt, verstehe ich es auch.

Sie wünschen, lieber Freund, von mir eine Unterstützung für den ältesten Sohn von Hertha, der, wie Sie schreiben, jetzt als achtzehnjähriger die Universität besuchen soll. Ich will ihm während vier Jahre jährlich fünfhundert Thaler gewähren und werde meinen Bankier anweisen, sie ratenweise jeden Monat an Hans rechtzeitig abzuführen. Ferner bin ich bereit, die Unterstützung, die ich Ihnen zu wendete, auf einhundertfünfzig Mark monatlich zu erhöhen. Ich begreife, daß Sie es nach Ihrer Pensionierung schwer haben, auszukommen.

Endlich will ich auch Ihrem Ersuchen um eine Extrasumme von fünfhundert Thaler zur Bezahlung von alten Verpflichtungen nachkommen, und werde diese Ihnen anweisen. Was Sie mir von Paul schreiben, hat mich seinetwegen tief betrübt. Aber ich hoffe. daß er den Schmerz über den Tod seiner Frau doch auch mit der Zeit überwindet. Daß er jetzt nach drei Jahren noch so betrübt ist, beweist, wie sehr er die Verstorbene geliebt hat, es beweist aber auch, welch ein tiefveranlagter Mensch er ist. Sehr gern und mit stetem gleichen Interesse werde ich Mitteilungen von Ihnen und Ihrer Familie empfangen. Nehmen Sie herzlichen Dank, daß Sie mich stets auf dem Laufenden halten. Grüßen Sie, bitte, Ihre Frau und auch Paul, wenn Sie ihm schreiben, von mir und bewahren Sie Ihre guten Gesinnungen Ihrer aufrichtigen

Marie Langbehn-Waterkant.«

Es war bezeichnend, daß ein Gruß für die einstige Hertha Mönkedorf in diesen gütig abgefaßten Zeilen sich nicht fand. Aber was zwischen der Schreiberin und der späteren Frau von Immenhoff und ihrem Mann geschehen, das machte freilich eine Verstimmung und eine Ablehnung fernerer Beziehungen verständlich.

Nach Tante Doris Tode hatte sich ein Testament gefunden, durch welches Marie zur Alleinerbin des gesamten Vermögens eingesetzt war. In einem besonderen Schreiben von Doris Waterkant war ausgedrückt, was ihr Wunsch bezüglich Mönkedorfs sei.

Es hieß kurz:

»Handle all' Dein Lebelang so gegen meine und Deine Verwandte, wie es Dir Dein gutes Herz vorschreibt. Dann wirst Du ganz in meinem Sinne verfahren.«

Daraus hatte Marie die schuldige Summe von fünfunddreißigtausend Mark ihrem Vetter geschenkt, ferner fünfundsechzigtausend Mark ihm bar ausbezahlen lassen, und jedem der beiden Kinder fünfzigtausend Mark angeboten. Hertha hatte sie genommen, der damals von Marie abgewiesene Paul aber, der eine andere Frau geheiratet hatte, die so viel Vermögen besaß, daß sie bescheiden leben konnten, hatte die beabsichtigte Zuwendung dankend abgelehnt. Marie wußte weshalb.

Als nach einer Reihe von Jahren sowohl Immenhoffs, wie auch Mönkedorfs dieses Vermögen bereits wieder verthan, und neue Ansprüche erhoben, hatte Marie Letzteren eine Rente ausgesetzt, fernere Zuwendungen an Hertha aber, die sich niemals um sie bekümmert hatte, an Bedingungen geknüpft.

Das Ende war gewesen, daß Immenhoffs nachträglich das Testament bestritten, aber auch den widerlichen Prozeß verloren hatten.

Viele Anträge hatte die reiche Erbin, das schöne, feine Mädchen erhalten. Alle hatte sie abgelehnt. Nur Einem hatte sie ihr Herz zugewendet, und dieser Eine war ihr verloren gegangen. Aber den verständigen, Geist und Gemüt veredelnden Freuden war sie nicht aus dem Wege gegangen, und ihre Hand hatte sie für Andere nie geschlossen. So war ihr zwar nicht alles geworden, was für sie volles Glück bedeutete, aber das Geschick hatte ihr neben einer trefflichen Gesundheit ein fröhliches Herz und die Liebe und Achtung ihrer Nebenmenschen geschenkt.

Marie Langbehn war eine Ausnahme. Mau sprach wenig von ihr, und wenn's geschah, stets mit dem Zusatz: sie sei ein stilles Wesen für sich. Sie suche niemanden, sei aber immer für jeden da und teile weise und besonnen von ihren Gaben aus. – Ansprüche, die über eine gewisse Grenze hinausgingen, an sie zu erheben, sei zwecklos. Sie handle streng nach Grundsätzen, und sie habe wiederholt aufs entschiedenste ausgesprochen, daß sie nicht heiraten wolle.

So ließ man denn die Sonderlingsnatur, die Einsiedlerin, die jährlich Reisen unternahm und häufig Monate lang von Wisborg fern blieb.

In wenigen Tagen feierte Marie Langbehn, die den Namen Waterkant dem ihrigen aus Pietät gegen die Alte hinzugefügt hatte, ihren Geburtstag; und wie einst zu den Zeiten der Alten, die nun unter dem Marmorstein und den Rosen draußen nach Freuden, Enttäuschungen und vielen Schmerzen der letzten Lebensjahre ruhte, machte auch Marie dazu allerlei Vorbereitungen.

Oft lächelte sie still in sich hinein, wenn sie verglich, wie sie es der Alten in allem gleich zu thun bemüht war, wie vieles sich ganz so vollzog wie ehedem.

Heute drängte sich ihr auch die Erinnerung an Hertha wieder auf. Das Schreiben Mönkedorfs hatte die Erinnerung wachgerufen.

Damals als sie krank gelegen, war ein Schreiben von Mönkedorfs eingelaufen: Tante Doris möge verzeihen, daß Hertha nicht zur Pflege Mariens erscheine. Sie habe sich selbst hinlegen müssen und was sonst – aus Furcht vor Ansteckung – der Ausreden mehr gewesen.

Das hatte der Alten Entschluß zu einem unumstößlichen gemacht. Sie sagte nichts, aber sie blieb fest, trotz jahrelangem Liebeswerben und zärtlichem Schmeicheln von Seiten der Familie Mönkedorf. Erst einige Tage vor ihrem Tode hatte sich dann doch ihr Herz wieder geregt, das weiche, gütige. Sie wußte, daß ihr Brief an Marie wieder gut machen werde, was sie verweigert hatte.

So nahm sie seelisch unbeschwert vom Leben Abschied, und als der Todesengel sich herabsenkte, fühlte sie – ein letztes, seliges Glücksgefühl durchströmte ihre Seele – den warmen Kuß Mariens auf ihren blutleeren Lippen.

Mariens Geburtstag war mit all den Ehren gefeiert, die man ihr schenkte aus aufrichtiger Zuneigung – es giebt einige, wenige Menschen, die um ihrer selbst willen geliebt werden – und aus dem Respekt, den der Reichtum nun einmal einflößt.

Sie war fast vierzig Jahre alt geworden und doch noch eine schöne, elastische Erscheinung mit blühenden Formen und einem berückenden Ausdruck, wenn die ernsten, stillen, in sich gekehrten Augen in dem feinen Angesicht lachten, wenn der hübsche, volle Mund sich öffnete.

Als an dem nach dem Festtage folgenden Vormittag die Flurklingel ertönte, eilte ein kleines, der Haushälterin erst eben beigegebenes Mädchen hinten aus der Küche herbei und forschte nach des Angekommenen, eines fremden Herrn, Begehren. Er wolle Fräulein Langbehn besuchen!

»Bitte hier« – erklärte das ungeschickte Ding und wies – sichtlich zum Befremden des Ankömmlings – zur Rechten. Dann verschwand sie, sich noch einmal neugierig umwendend, und der Mann – es war Paul Mönkedorf – stieg die Treppe hinauf und klopfte an die Thür.

Aber es ward ihm nicht aufgethan, und da er Marie in einem hinteren Zimmer vermutete, öffnete er nach kurzem Besinnen unter gleichzeitigem stärkerem Klopfen die Thür. Und da sah er Marie, die halb bekleidet, eben ihr reiches Haar flechtend, am Spiegel stand. Und sie wich mit einem erschrockenen Laut zurück, und nicht minder erschrocken, zog Paul die Thür wieder an, stieg die Stufen der kleinen Treppe hinab und nahm den Weg zur Küche.

Aber jetzt ertönte auch aus dem Schlafgemach Mariens die Klingel, und eilend kam die Haushälterin herbeigelaufen, um ihrer Herrin Befehle in Empfang zu nehmen. Erklärung und Antwort erfolgte, und die gewandte Dienerin bat den Besuch, die Ungeschicklichkeit des kleinen Mädchens entschuldigend, gegenüber in das Wohnzimmer zu treten.

»Darf ich vielleicht um Ihre Karte ersuchen?« bat sie noch, öffnete Paul drüben die Thür und begab sich alsdann zu ihrer Herrin.

Sehr lange mußte Paul Mönkedorf, ein ernst aussehender Mann mit schwarzgrau meliertem Haar, einem Staatsbeamten gleichend in Kleidung, Haltung und Manieren, oben warten.

In tiefer Bewegung schaute er sich alles an, was sein Auge erblickte. Einiges war verändert, im Wesentlichen aber war's wie ehedem, nur nicht so altjüngferlich, mehr den feinen, veredelten Geschmack verratend. Er trat ins Speisezimmer. Es blitzten Silbersachen auf dem Buffet, und draußen auf dem Balkon blühten Blumen, bunt und üppig.

Dabei überall glänzende Sauberkeit, aber auch reichste Gediegenheit, wohin der Blick sich wandte.

Zulegt trat er wieder zurück und blieb vor einem offenen, großen Bücherregal stehen, sah darin zahlreiche, wertvolle Bücher und schlug eines auf.

Und da las er und stutzte, und die Befangenheit, die auf ihm geruht hatte, als er das Haus betreten, die sich vermehrt, als er in Mariens halbverschlossene Gemächer getreten war, nahm solchergestalt zu, daß der Wunsch in ihm aufstieg, er möge das Haus überhaupt nicht betreten haben.

Alte Zuneigung und schrankenloses Dankgefühl für das, was immer wieder und auch neuerdings wieder Marie für die Seinigen gethan, hatten den Mann, den jetzt die Sehnsucht nach seiner Heimat hergeführt, getrieben, sich ihr zu nähern.

Der Spruch lautete:

»Durch Aussprechen verschärfen sich zumeist Verstimmungen, statt beseitigt zu werden, wenn die Gründe, welche jene herbeiführten, nicht auf Mißverständnissen, sondern auf Thatsachen beruhten.«

In diesem Augenblicke hörte Paul Mönkedorf das Geräusch einer sich öffnenden Thür, und dann – ihm wich die Farbe aus dem Angesicht – stand Marie in sichtlicher, schwerer Befangenheit vor ihm. – –

Es waren zwei Stunden verflossen, als Paul die Stufen wieder hinabstieg und hinter ihm der Ton der alten, laut tönenden Glocke verklang.

Er sah und hörte nicht, was draußen um ihn her vorging, sein Herz war voll Unruhe und Sehnsucht. Hinaus vor die Stadt trieb es ihn an alte, vertraute Plätze, und doch hatte er auch für diese kaum einen Blick. Immer wieder gingen seine Gedanken zu ihr, zu Marie, und als er spät, gegen die vierte Stunde am Nachmittag, heimkehrte, fragte er nach Abgang der Züge und nach der Rechnung und begab sich auf sein Zimmer.

Er hatte einige Tage bleiben wollen, aber er war entschlossen, schon jetzt wieder zu reisen. Es war besser so! – Es konnte nichts Anderes werden, als Herzeleid und Not. Er aber brauchte Ruhe der Seele. Als er eben sich zu seinem Koffer herabbückte, brachte der Kellner ein Billet. Es war von Marie.

Fast wie einem Jüngling zitterten dem Mann die Hände. Mit fliegenden Augen öffnete er, nachdem jener gegangen war.

Er las:

»Es treibt mich, Dich nochmals auf diesem Wege zu bitten, mir den heutigen Abend zu schenken. Ich hoffe, Du vermagst Dich nach dem Mittagsessen von Deinen Freunden frei zu machen. Ich bitte Dich! gehe nicht so rasch! Lasse mich auch morgen noch auf einige Stunden rechnen dürfen. Wer weiß, wann wir uns wiedersehen! Ich sage Dir und lasse, ich bitte, meine Worte durch Deine Gedanken gehen:

Was Du mir schenktest, war seit der Zeit, wo die Edle lebte, der ich, nebst Gott, alles verdanke, das Beste, was mir an Gutem geworden.

So weißt Du, welch ein Werk Du somit thust, Deiner Marie L.«

Auf diesen, Paul in einen fast fieberhaft erregten Zustand versetzenden Brief, schrieb er zurück:

»Es sieht Dir gleich, zu bitten, wo Du zu fordern hast, zu danken, wo Du über Alles beglückst. Ich komme um sieben und bleibe morgen, bleibe –

Doch mündlich sagt Dir Alles besser, Dein dankbarer P. M.«

Als er kam, saß sie im Garten. Schon war die Sonne im letzten Schwinden. Wundervolle Lichter aber sandte sie noch in diesen stillen Erdenwinkel.

Es war die Zeit, wo der Rotdorn blüht, die Blutbuchen sich mit vollem Laub bedecken und die Kastanien ihre Lichter unter dem kraftvollen Grün emporstrecken. Von Grün und sanftem Licht umgeben, vor sich aber einen schattigen Raum, der Einsamkeit und sanfte Stille gleichsam in seinen Kreis gezogen, fand er sie. Nun erhob sie sich, legte alles in einen Blick stiller Freude und ließ ihn neben sich niedersetzen.

Eines Gespräches Ende lautete:

»Ob ich Dir damals nicht gut war, so wenig gut war, daß ich Dir so viel Herzeleid machen mußte, fragst Du, Paul?

Weißt Du denn nicht, daß ich nur um der Edlen Willen verzichtete? Mein Herz brach schier und doppelt litt ich, als Du mich straftest durch rasches Vergeben Deiner Hand an eine andere. Ich kann's ja sagen, da wir nun alte Leute geworden und ruhig denken.«

»Ah, und das wußte ich nicht und das erfahre ich – erst – jetzt« – stöhnte der Mann, der aus diesem Bekenntnis, diesem Zusatz, zu erkennen glaubte, daß sie abgeschlossen habe mit allem Vergangenen. Ihr feiner Sinn würde sie sonst abgehalten haben, so zu sprechen.

Durch ihre Brust aber zog ein Wonnegefühl sondergleichen. Sie sah ihn mit den verstörten Mienen, den unruhigen Augen, und eine stürmische Hoffnung regte sich in ihrem Innern.

»Du schriebst,« hub sie an: ›Ich bleibe morgen, bleibe –‹ Doch mündlich würdest Du alles besser sagen – – Ist's zu deuten, daß Du mehrere Tage zugiebst, daß wir uns noch einige Male sehen?

Natürlich, ich will Dich nicht an Besserem hindern – Ich bitte nur um das, was bleibt –«

»Besserem hindern, Marie! Wie das klingt –«

Aber nur diese Sätze kamen aus seinem Munde. Nun wurde er wieder wortkarg. Ein wenig stotternd, wie einst, hatte er sogar gesprochen.

In diesem Augenblick nahte sich die Wirtschafterin und bat um Verhaltungsmaßregeln wegen des Abendbrots.

Dadurch ward Marie veranlaßt, sich zu erheben und einen Augenblick bei Seite zu treten.

Er aber voll schwerer Unruhe, schnellte auch empor, schritt auf eine Allee zu, deren dichtbelaubte Bäume fast schon Dunkelheit schufen und umfing mit seinen Blicken von hier aus ihre Gestalt.

Es giebt Menschen, die ewig jung bleiben, einige wenige Frauen auch, welche die Natur noch mit Reizen begnadigt im späterem Alter. Marie war eine solche. Seine Augen aber vervielfältigten das Schöne ins Ungemessene.

Nun wich er zurück. Sie nahte sich. Hinter dichtes Gebüsch trat er, das einen kleinen Wiesenabschnitt umgab.

»Paul! Wo bist Du?« klang ihre Stimme.

Da trat er hervor, umfaßte sie mit Augen der Sehnsucht und fragte, sie sanft umschlingend, bebend:

»Ich antwortete Dir noch nicht auf Deine Frage. Ich schrieb:

›Ich komme um sieben und bleibe morgen und bleibe –‹ Nun ja Marie! Ich bleibe und gehe nie wieder, wenn Du mich bleiben heißt – O, sag's – mein Herz zerspringt, wenn ich's nicht höre –«

Nur ein tief aus der Glücksseele hervorquellender, langgezogener Laut drang durch die dunkle Allee. Alle anderen unterdrückte der Kuß, den er auf ihre Lippen drückte, nun, da sie ihn umschlang mit dem sanft glutenden Feuer eines nach Wärme und Liebe seufzenden, bisher vereinsamten Weibes! –

Vom Hause her aber ertönte eben die Tischglocke, die zum Abendessen rief, und die zwei schritten einher durch den dämmernden Abend, als ob der Weltraum zu eng sei für all das Glück ihrer berauschten Seelen.

 


 


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