Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
In einer der besten Gegenden der Stadt lag der Besitz des Großkaufmanns Cornelius. Vorn erhob sich das zweistöckige Wohnhaus. Nebenan betrat man den Fabrikhof, auf dem zur Rechten der Herrschaftsgarten sich ausbreitete, zur Linken ein kleines Gebäude dem Kassierer Karl Ermeler als Wohnung diente. Weiter hinunter dehnten sich die großen Fabrikgebäude. Lärm und Geräusch! Leben, Bewegung, wohin man sah!
Eben ertönte die Abendglocke. An dem Kontrollhause schritten die Arbeiter eilend vorüber. Dann schloß der Hofwächter die Ausgangspforte nach der Straße, und statt des bisherigen zudringlich lauten Lärms der Dampfmaschine und des ungestüm zischenden Geräuschs der abziehenden Dämpfe herrschte lautlose Stille.
Nur in dem kleinen Häuschen ward diese gleichsam feierliche Abendruhe durch das ächzende Stöhnen eines Kranken unterbrochen. Der Buchhalter Karl Ermeler lag schwer darnieder, fast schon ringend mit dem Tode. Nebenan saß die Tochter, ein schmales, ebenfalls leidend aussehendes Mädchen mit feinen Zügen. Wenn er litt, sie erduldete bei seinem Schmerz noch weit mehr. Und grade heute, wo nach langjähriger Abwesenheit der einzige Sohn, Ernst Ermeler, in's Vaterhaus zurückkehren sollte, stand's besonders schlecht. Nach vielen Versuchen, nach schweren Kämpfen und Ringen draußen, trieb's ihn zurück in die Vaterstadt.
Er halte es nicht mehr aus vor Heimweh, hatte er geschrieben. Und wenn sich noch größere Wasser dazwischen legen würden, ihn sollte nichts von dem Versuch abhalten, seine Angehörigen wiederzusehen.
Er hatte nicht gesagt, ob er etwas erworben habe. In der That war es nichts, obschon es ihm nicht an Fleiß und Sparsamkeit gefehlt hatte. Nur einigen Auserwählten blüht die Glücksblume, und er gehörte nicht zu ersteren.
Hin und wieder erhob der Kranke die schwache Stimme und verlangte nach seiner Tochter. Er fragte: ob die Herrschaften von drüben geschickt, was sie gesagt hätten, wie das Wetter sei, ob sie, die Tochter, das Monatsgehalt ohne Beanstandung abgehoben habe, ob wieder Nachrichten von Ernst, etwa aus Hamburg eingegangen seien.
Und sie gab Antwort, aber vermied es sorgsam, ihn zu erregen. Sie liebte ihn zärtlich. Es gab in ihren Augen auf der Welt keinen vollendeteren Mann, als ihren Vater. Zwanzig Jahre befand er sich bereits in diesem Geschäft, und fünfzehn Jahre arbeitete er schon unter diesem Herrn, dem Sohne des früheren Inhabers. Der war ihm auch in allem förderlich gewesen, und Ermeler würde sich wohl ein hübsches Sümmchen erspart haben, wenn nicht die fortwährende Krankheit seiner inzwischen verstorbenen Frau so viel verzehrt, wenn nicht sein Bruder, ein leichtfertiger, aber von ihm geliebter Mann, ihn so stark in Anspruch genommen hätte.
* * *
Der Sohn war gekommen. Die ersten Stunden, in der Vater und jener sich der schmerzlich bewegten Wiedersehensfreude hingegeben, waren vergangen. Marie hatte sich bereits nebenan in ihr Gemach zurückgezogen, und eben wollte nun auch Ernst Ermeler, erschöpft durch die lange Reise, sich von dem Kranken entfernen, als ihn sein Vater mit gedämpfter Stimme nochmals an sein Lager entbot, und tief Atem holend hervorstieß:
»Da Du mir zurückgegeben bist, da ich Dich noch einmal sehe vor meinem Tode, der sich – ich fühle es – mir naht, sollst Du erfahren, weshalb ich allezeit ein stiller, wortkarger Mann gewesen bin, weshalb ich fast niemals froh sein konnte.
Seit fünfzehn Jahren ruht auf wir ein fürchterliches Schuldbewußtsein. Ich muß heute reden, um endlich die entsetzliche Last von mir abzuwälzen.
Zolle mir Mitleid, statt mich zu verdammen, und verschließe in Dein Inneres, was die gequälte Seele Dir offenbart.«
Eine Beichte.
»Drei Monate nachdem der alte Herr Cornelius gestorben war, ward ich in das Kontor des neuen Chefs, des jetzigen Inhabers gerufen, um über einige Kapitalienposten Auskunft zu erteilen. Der junge Herr Cornelius vermochte aus den Nachlaßpapieren sich nicht zurecht zu finden, wem dies und jenes gehörte, ob seiner Mutter, ihm oder seinen Geschwistern. Er äußerte, es seien tausend Thaler zu viel vorhanden. Ich, der ich des Verstorbenen Vertrauter gewesen, werde wohl Auskunft geben können.
»Sehen Sie hier,« hob er an. »Wir wollen einmal vergleichen!«
Dabei holte er eine Kassette und nahm Schriftstücke von der Hand des Verstorbenen hervor. Doch schon im Begriff, die Feder zu ergreifen, wurde er von seiner jungen Frau in einer Hausangelegenheit abberufen und folgte ihr ins Nebengemach. Und da geschah's! Im Nu nahm ich aus der Kassette zwei Fünfhundert-Thaler-Scheine und steckte sie in meinen Stiefel.«
Der Kranke hielt inne. Blässe trat auf seine Stirn, und ein schweres Stöhnen drang aus seiner Brust. Und um so schwerer litt er, da ihm sein Sohn nicht half, den Kampf zu erleichtern.
Vertraut mit dem Leben, wußte er schon das Ende der furchtbaren Beichte, und in die Schauer der empfangenen Eindrücke mischten sich die Vorstellungen über die Folgen, die für ihn damit verbunden. Dennoch siegte die Sohnesliebe.
Er half dem Armen, die Seele und den Körper aufrichten. Er bat ihn mit sanften Worten fortzufahren.
»Als mein Herr zurückkehrte,« nahm Ermeler, schwer sprechend, das Wort, »gingen wir ans Rechnen und Vergleichen, und da sich herausstellte, daß Alles in Ordnung sei, schüttelte Herr Cornelius verwundert den Kopf und schloß mit den Worten:
»Ja, da muß ich mich denn also doch verrechnet haben! Na, dann ist ja alles gut. Ich danke Ihnen, lieber Herr Ermeler! Bis nachher! –«
Warum ich das Geld nahm, mein Sohn? Mein Bruder, Dein jetzt vor einem Jahre trotz aller Hülfe doch in Not und Elend verstorbener Onkel, war am vorigen Tage, an einem Sonntag, bei mir gewesen und hatte mich in seiner verzweiflungsvollen Not beschworen, ihm tausend Thaler zu verschaffen. Er stand vor der Schande!
Er, der es damals noch mit Ehrensachen gewissenhaft nahm, war entschlossen, sich vom Leben zu befreien. Er war in einem solchen Zustande seelischer Zerrüttung, daß Angst und Mitleid mich folterten. Und so ist es denn gekommen! Um ihn zu retten, wurde ich ein Dieb! Ich wurde es in der festen Absicht und Hoffnung, nach und nach dem Geschäft das Geld wieder zurückgeben zu können.
Du bist alt genug, mein Sohn, um zu wissen, welche Klüfte und Ebenen zwischen den Vorsätzen der Menschen und den Handlungen liegen. Der Wille mag gut sein, es giebt ein Wort, das ›Unmöglich‹ heißt. Daran scheitert sogar das Höchste: Der Glaube an den Schöpfer. –
Keiner ist, mein Sohn, so schlecht, wie man meint, und keiner ist so gut, wie man ihn halten möchte.
Ich kann in Wahrheit sagen, daß ich während dieser Jahre täglich die Absicht hatte, etwas zurückzulegen. Immer nahmen es Krankheit, Sterben, Not, dringender Anspruch der Familie, kurz des Schicksals Einspruch wieder fort.
Heute noch ist nichts von dem Gelde zurückgegeben, da ich es nicht vermochte, und da mein Bruder nicht einmal daran dachte, sein Wort zu lösen.
Und nun, nach diesem Geständnis, Ernst, mein Sohn, zweierlei!« zitterte es aus dem Munde des mit dem Tode ringenden und von Gewissensqualen gemarterten Kranken:
Das eine: »Sage mir, daß Du mir vergeben kannst! – Rasch – rasch –.« Die Augen, unheimlich anzuschauen, wurden groß und weit – und hefteten sich mit dem Ausdruck tödlicher Angst auf das Antlitz des Sohnes.
Und dann ächzend, langsam:
»Das an–dere. – Versprich mir – so lange zu ar–beiten – auf alles – zu verzich–ten, bis Du meinem Wohlthäter das Geld – ersetzt – ha–«
Die Stimme versagte, aber während der junge Mann in tiefer Erschütterung an dem Bette des Sterbenden niederglitt und ein stürmisches: »Ja, mein Vater!« hauchte, griff jener nach dessen Hand, öffnete das wieder geschlossene Auge und legte in diesen Blick alles, was noch einmal sich regte an Gefühlen des Schmerzes, der Dankbarkeit und Liebe. – Und zuletzt ein Hervordrängen der Lippen, als ob den Verlorenen die durstende Sehnsucht verzehre, einen letzten Liebes- und Vergebungskuß zu empfangen, ihn zu fühlen vorm Eingang in die ewige Nacht. –
Und dann, nachdem ihm das gewährt worden voll Zärtlichkeit und Rührung, nichts mehr! –
* * *
Einige Wochen sind verflossen. Der Mann ruht im Grabe. Die Tochter ist noch in dem kleinen Häuschen, aber sie ist auch so krank, daß sie das Bett nicht zu verlassen vermag.
Und des jungen Mannes Gemüt ist tief beschwert, das Herz ist so übervoll, daß er mit der Miene eines Vernichteten in das Kontor des Herrn Cornelius tritt, der ihn brieflich durch einige gütig gehaltene Zeilen zu sich beschieden hat.
Nach kurzem Warten erscheint er. Er ist ein Mann mit lebhaftem Wesen, klugen, wohlwollenden Augen, ein Mann von raschen, aber doch überlegten Entschlüssen
»Verzeihen Sie, daß ich Sie warten ließ. Verzeihen Sie aber auch, daß ich erst heute dazu gelange, einmal mit Ihnen über Ihre Schwester und – wenn Sie wollen, über Ihre eigene Zukunft zu sprechen, lieber Herr Ermeler! So viel war mir Ihr ehrenwerter Vater, daß ich es als meine Pflicht erachte, mich seiner Kinder nach Kräften anzunehmen.
Ich habe mir Folgendes gedacht: Uebernehmen Sie die Stelle des zweiten Kassierers in meinem Hause. Ich will Petersdorf den Posten geben, den Ihr Herr Vater versah. – Ich werde Sie anständig honorieren, so honorieren, daß Sie auch für Ihre Schwester sorgen können. Aus den Berichten Ihres Vaters ist mir bekannt, daß man Ihnen auch drüben großes Vertrauen geschenkt hat. Ich weiß, daß Sie ein tüchtiger und zuverlässiger Mann sind.
Und ferner: Ihre Schwester kann, sagt mir der Arzt, genesen, wenn sie für die Dauer eines Jahres, nach dem Süden gebracht, dort sorgsam gepflegt und genährt wird. Das erfordert an tausend Thaler. Die bin ich bereit, für die Tochter meines braven, alten Freundes und Mitarbeiters herzugeben. –
Nun, was meinen Sie zu meinen Vorschlägen? Ich würde mich sehr freuen, wenn sich dadurch Ihre Wünsche, Ihre und die Ihrer Schwester erfüllten. –
Ah, Sie sind sehr bewegt! Fassen Sie sich! Ueberlegen Sie in Ruhe! Nein, nein, keinen Dank! Wir sprechen morgen weiter. – Adieu, adieu! Grüßen Sie Ihre Schwester. Meine Frau wird die Kranke baldigst besuchen. Auf Wiedersehen, mein junger Freund –!«
* * *
Acht Tage hat Herr Cornelius schon auf Antwort von Ernst Ermeler gewartet. Aber es ist keine gekommen. Die schwerkranke Schwester wird immer schwächer; trotzdem hat Frau Cornelius gehört, daß die Geschwister das Häuschen verlassen wollen. Ernst ist unterwegs, um für sich und sie eine Wohnung zu suchen.
»Sonderbare Leute diese Ermelers! Der alte Herr war ja schon ein verschlossener Sonderling, der Sohn scheint's aber noch mehr zu sein, – ein »Hochhinaus!« erklärt Herr Cornelius am Abend im Kreise seiner Familie.
Während er noch spricht, wird durch die Magd ein Brief gebracht.
»Hm! Endlich! Wenigstens eine Antwort! Uebrigens abermals eine Unhöflichkeit, ein Mangel an Lebensart. Weshalb erscheint der junge Mensch nicht selbst und erklärt, wie sich's paßt, was er zu erwidern hat. Doch gleichviel. Wir wollen hören –« Und der Mann liest, und nachdem er gelesen hat, sagt er:
»Er nimmt für seine Schwester das Geld, die Stellung in meinem Geschäft lehnt er ab.«
»Wie? Er schlägt sie aus!« fällt die Aelteste, ein schönes, ernstes Mädchen mit einer ungewöhnlichen Vertiefung des Gesichtsausdrucks ihrem Vater in die Rede. Sie hat Ernst Ermeler schon damals geliebt, als er fortgegangen, und die Liebe ist wieder erwacht in ganzer Stärke gleich beim ersten Wiedersehen.
»Bitte, lies den Brief vor, Vater,« drängt sie und lauscht mit gespannter Aufmerksamkeit.
»Hochverehrter Herr Cornelius.
Unauslöschlich wird mein und meiner Schwester Verpflichtung sein für das, was Sie meinem Vater, was Sie uns gethan haben! Umso mehr wäre es mir Bedürfnis in Ihrer Nähe zu bleiben, zu versuchen, durch treue Dienste Ihnen Ihre Güte in etwas zu vergelten. Aber ich muß Ihr freundliches Anerbieten doch zu meinem Schmerz ablehnen. Es liegen Gründe vor, die es mir unmöglich machen. Auch dürfen wir aus dieser Ursache Ihr hochherziges Anerbieten für meine Schwester kaum annehmen. Sie werden, hochverehrter Herr Cornelius, darüber entscheiden. In jedem Fall wollen wir, um endlich dem Nachfolger Platz zu machen, nun morgen die Wohnung verlassen. Meiner Schwester Zustand macht es leider unmöglich, daß sie sich von Ihnen und Ihrer verehrten Familie verabschiedet. Aber hoffentlich vermag sie es später, und auch ich werde noch vor meinem Fortgange bei Ihnen erscheinen, um Ihnen auszudrücken, wie sehr in Ihrer Schuld sich fühlt, Ihr dankbar ergebener Ernst Ermeler.«
* * *
Vier Wochen seit den vorhergeschilderten Ereignissen sind verflossen. Es ist Spätnachmittag. Ein junger Mann, Ernst Ermeler, beschreitet einen der an der Grenze zwischen der Berliner Hasenhaide und Rixdorf belegenen Kirchhöfe. Er will bevor er Berlin verläßt, noch einmal zwei Gräber besuchen, das seines Vaters und die Grabstätte seiner vor acht Tagen verstorbenen Schwester. Das Leben ist ihm eine furchtbare Last. Ob Politiker sich bekämpfen, ob Umstürzler Barrikaden aufwerfen, des Kaisers Schloß brennt, Hungernde die Straßen durchziehen, Uebermütige schwelgen, ob der Himmel sich verfinstert oder die Sonne lacht, ob Menschen glücklich oder elend sind, Wissenschaft, Kunst und Fortschritt triumphiert, ob's Erfolg oder Mißerfolg giebt, Leben, Krankheit, Sterben und Auferstehung. ihm fehlt dafür jegliche Empfindungsfähigkeit.
Er war schier vor Sehnsucht nach der Heimat vergangen. Bei dem bloßen Gedanken, die Luft der Stadt zu atmen, die ihn geboren, seines Vaters Wohnung zu betreten, den alten, heißgeliebten Mann, seine Schwester und Marianne Cornelius wiederzusehen, hatte ihm der Atem vor Glückseligkeit gestockt. Alles hatte er um dessentwillen von sich geworfen. Er wollte wieder in seiner Heimat leben, arbeiten und verdienen, frohe Tage mit den Seinigen genießen, sich unabhängig und sorgenfrei machen, das Mädchen seiner Liebe, Marianne Cornelius, sich zu erobern suchen!
Und was war ihm geworden?
Statt dessen war sein Vater und war seine Schwester, letztere kurz vor dem Antritt der beabsichtigten Erholungsreise gestorben! Aber auch die Möglichkeit, in der Heimat zu bleiben, war dahin. In das Geschäft einzutreten, in dem sein Vater sich eines solchen Vertrauensbruches schuldig gemacht, mit freier Stirn umherzugehen, während er mit einem solchen Geheimnis beschwert war, gar um die Tochter des Hauses zu werben, er, des Diebes Sohn – das verbot ihm sein Ich. Und alle Gedanken waren auf den einen Punkt gerichtet:
Wie giebst Du das entwendete Geld zurück?
Unter furchtbaren Kämpfen, bei denen Liebe und Mitleid für die Schwester den Sieg davongetragen, hatte er die tausend Thaler von Herrn Cornelius genommen. Nun waren sie nicht einmal berührt. Zunächst mußte er also diese in die Hände des edlen Wohlthäters der Familie Ermeler zurücklegen. Dann galt's, Jahre lang auf alles verzichten, um die Schuld des Vaters zu tilgen.
Wie aber, und wo das beginnen? Zurückkehren in die ferne Welt, war ihm schon deshalb unmöglich, weil ihm die Mittel fehlten. Was er mitgebracht hatte, war darauf gegangen, um die vorhandenen Schulden des Verstorbenen zu bezahlen. Was aus dem Erlös des Verkaufes des Mobiliars herausgekommen, hatten das Begräbnis, der Umzug, die letzten Wochen zum Leben, die Krankheit der Schwester verzehrt.
Und doch konnte und wollte Ermeler auch in der Heimat nicht bleiben, da sie ihn täglich erinnern würde an Schuld und Versprechen, da in ihr die lebte, auf die er für immer zu verzichten hatte.
Der Mann sank hinab an den Hügel, unter dem die Seinigen ruhten. Er achtete nicht darauf, daß sich ein Gewitter am Himmel zusammenzog, daß Regen niederströmte, daß andere Leidtragende den Gottesacker verließen, daß er zuletzt allein zurückblieb.
Erst nach einer Weile erhob er sich, schlich über die schlüpfrigen Kirchhofspfade und nahm, über sich zuckende Blitze und krachenden Donner, die Richtung nach seiner Wohnung.
Als er sein Zimmer betrat, fand er einen Brief. Er öffnete ihn ohne Spannung. Sicher war es noch eine Rechnung, die zu berichtigen. Aber er zitterte, als ob ihn ein Fieber ergriffen habe, als er dann las.
Der Brief lautete:
»Geehrter Herr Ermeler!
Diesen Brief Ihnen zu schreiben, drängt es mich um meines Vaters, aber auch um Ihretwillen.
Mein Vater ist – lassen Sie mich offen sein – außer sich über Ihr Verhalten gegen uns. Seine lediglich seinem guten Herzen entspringende Anerbietung haben sie ohne jegliche Grundangabe abgelehnt.
Von dem Schicksal Ihrer Schwester nach Ihrem Fortgange, aber auch nicht einmal von ihrem Tode haben Sie uns Mitteilung gemacht, noch weniger sich bei uns sehen lassen. Jetzt heißt es, daß Sie unmittelbar vor der Rückreise nach Texas stehen. Ohne Worte, ohne Abschied also – –!
Sagen Sie selbst, was die Meinigen davon denken, wie sie Ihr Verhalten deuten sollen! Fürchten Sie, daß man Ihnen abermals durch Anerbietungen lästig fallen könnte?
Ich möchte Ihnen die Beschämung ersparen, von Papa jetzt nicht angenommen zu werden, wenn Sie etwa dennoch kommen sollten. Deshalb schreibe ich Ihnen. Geben Sie ihm vorher eine Erklärung, die Sie genügend entlastet!
Nicht wahr, Sie werden meine Zeilen nicht mißverstehen? Sie können es nicht, wenn Sie sich erinnern, wer sie schrieb, daß sie schrieb, Ihre seit jenem Tagen des Abschieds, mit unveränderten Gesinnungen Ihnen zugewandt gebliebene
Marianne Cornelius.«
Der Mann schrie auf. Wo waren die Wasser, die flammende Pein in seinem Innern zu löschen? Es war zu viel, was der Himmel ihm sandte. Endlich erhob er sich, trat ans Fenster der hochgelegenen Etage und schaute regungslos hinab. Mehr ging durch seine Seele in der kurzen Spanne Zeit, denn seit Tagen.
Endlich trat er mit einem entschlossenen Ausdruck in den Zügen zurück, setzte sich an den Schreibtisch und schrieb den nachstehenden Brief:
»Ihre Zeilen, hochverehrtes Fräulein, haben mir den letzten Rest der Fassung genommen, die ich noch besaß. Sie ging dahin durch den Schmerz, durch das Bangen vor der Zukunft, und durch die Last, die infolge einer anderen Angelegenheit auf meiner Seele liegt.
Das alles nahm mir auch bisher die Fähigkeit zu Entschlüssen und Handlungen, verhinderte mich, daß ich der vornehmsten Verpflichtung gegen Ihre Familie mich entledigte.
Vielleicht urteilen Sie milder, indem ich Ihnen dieses sage. Ich bitte Sie herzlich darum. Aber ich habe noch ein anderes, ebenso bedeutungsvolles Ansuchen Ihnen vorzutragen. Ich möchte Sie, da Sie mich Ihrer alten Gesinnungen in so gütiger Weise versichern, bitten, mir einen Rat zu erteilen. Er soll meines künftigen Daseins Richtung sein!
Wenn Sie Ja zu sagen vermögen – und mein Dankgefühl wird in solchem Falle schrankenlos sein – dann bitte ich Sie um 11 Uhr morgen mittag am Thor unter den Linden treffen zu dürfen.
Verzeihen Sie, daß ich Sie dahin zu kommen bitte, aber ich weiß mir nicht anders zu helfen.
Ihr Ernst Ermeler.«
* * *
Schon seit einer geraumen Zeit wanderten sie zusammen durch den Weg des Tiergartens.
Die Natur lag in einer Art Verklärung.
In der Luft regte sich nichts, der Himmel blaute sich wolkenlos, und die Sonne warf ihre Ströme herab und hüllte alles ein in leuchtende Farben und Gold.
Und nun eben hatte er geendet. Er hatte ihr alles gesagt ohne Rückhalt, wie ihn die Sehnsucht nach der Heimat schier verzehrt hatte, wie ihm zu Mute gewesen, als sein Vater die Beichte vollendet, wie er sie, Marianne wiedergesehen, wie ihn durch ihres Vaters hochherzige Anerbietungen die Scham erfaßt und ihm das Blut in die Stirn getrieben, wie er geweint habe, als er seine Schwester begraben und wie tot seine Seele gewesen in den nachfolgenden Tagen.
Und nun sollte sie entscheiden. was bei solcher Sachlage eines Ehrenmannes Schuld und Pflicht, der zugleich – hier zog er sie auf einen einsamen Pfad, drängte sich mit seinem innersten Wesen zu ihr und suchte schwermütig ihr Auge – die Tochter des Herrn Cornelius liebte, liebte mit der ganzen Leidenschaft, deren eine Menschenseele fähig ist.
Und sie neben ihm zitterte und hielt erst das Auge gesenkt. Dann aber erhob sie das Haupt und sagte in einem Ton, der das Gemüt des Mannes ergriff, als ob alle Glückswirbel auf einmal ihn erfaßt hätten:
»Ich will hingehen und meinem Vater sagen, daß ich Sie liebe, mehr liebe als alles in der Welt. Und das soll nicht nur ihm, sondern aller Welt verkündet werden! Aber ein Geheimnis wollen wir für alle Zeit und Ewigkeit für uns bewahren, woher – nachdem Sie meines Vaters Mitarbeiter, sein Socius geworden, und als solcher sich etwas erworben haben, –die Summe von tausend Thalern stammt, die eines Tages ihm ins Haus gesandt ward von fremder Hand.
Ist's recht so Herr Ermeler – Ist's recht so – Ernst – mein Ernst – mein über alles geliebter – Ernst –?«
Sprechen konnte er nicht, aber er fiel nieder an ihrer Gestalt, und während er ihre Hände küßte, schossen stromweise die Thränen aus seinen Augen. –