Hermann Heiberg
Aus allen Winkeln
Hermann Heiberg

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Und er ließ sie doch.

Langsam, gewohnheitsmäßig um sich spähend, mit dem Morgenstern in der Hand, schritt der Nachtwächter durch die schwachbeleuchtete, fast dunkle Birkenstraße des sich weit ausdehnenden Villenviertels.

Das Geräusch seiner Schritte gehörte zu der stillen Nacht; es war keine Störung, sondern es erhöhte den Eindruck der stumm schlafenden Einsamkeit; es waren gleichsam feierliche Laute, durch die alles Unheimliche, Versteckte, Lauernde verscheucht ward.

Nun aber ein plötzliches Poltern dort hinter der großen umgitterten Villa, vor deren Mauern ein smaragdner Rasen mit seltenen Gewächsen sich ausbreitete, mit weißem Kies bestreute Wege wie Geisterpfade aus dem Dunkeln hervorleuchteten.

Und dann war auch der alte Wächter, ein pflichttreuer Mensch, blitzrasch zur Stelle. Er fand die Gitterthür nur angelehnt, eilte an dem hohen, mit großen Laternen versehenen Portal zur Rechten vorüber und sah, als er um die Ecke bog, ein dunkel gekleidetes weibliches Geschöpf neben einer offenbar eben herbeigerollten Tonne stehen und mit den Blicken das Maß des Abstandes zwischen deren Höhe und einem oben befindlichen, auf Spaltenbreite erleuchteten Fenster messen.

Als aber die fremde Gestalt vor ihr auftauchte, entfloh sie, von jäher Furcht ergriffen, und gewann, ehe er es hindern konnte, den hinter dem Hause befindlichen, mit dichten Bosketts und laubreichen Bäumen bestandenen Garten.

Im Nu hatte sie das Dunkel verschlungen.

Aber er eilte ihr nach in der Richtung, in der sie, atemlos, keuchend, in der deutlich vernehmbaren Angst ihres schuldbewußten Innern, dahingeeilt war.

Und er faßte sie auch mit eiserner Faust unten an der Grenze des Parks, als sie eben im Begriff stand, eine eiserne Gartenpforte, durch die man einen Ausgang zu einer sich hier vorüberziehenden, noch unbebauten Straße gewinnen konnte, aufzuklinken.

»Setzen Sie sich nicht auf. Machen Sie kein Geräusch! Sie sind verhaftet! Nein, nein, keine Widerrede! – Sie müssen mit zur Wache!« – Er wollte noch mehr sprechen, er wollte sie fester fassen, als sie jählings sich von ihm zu lösen wußte.

Sie glitt auf die Erde hinab, umklammerte seine Kniee und hauchte:

»So wahr ich hier vor Ihnen liege, Wächter – ich wollte nichts böses thun. Ich bin kein Dieb! – Ich wollte nicht stehlen. – Ich wollte niemandem schaden. Ich wollte nur einmal in die Stube gucken! –

Lassen Sie mich frei. Ich flehe Sie an –«

»Na, so was von Ausrede! Nein, nein! Vorwärts! vorwärts! Ich kann mich auf nichts einlassen. Was Sie zu sagen haben, können Sie auf der Polizei-Revierwache vorbringen. Ich muß jeden arretieren, der verdächtig ist. – Sie sind sehr verdächtig. Sie schleichen sich in dunkler Nacht auf ein Grundstück, wollen in ein Fenster eindringen, laufen davon –«.

Dabei zwang er sie, sich zu erheben, schloß die Pforte auf und trat mit ihr hinaus aufs freie Feld.

Eben schob sich vorübergehend der Mond durch das ihn bisher verdunkelnde Gewölk und warf ein fahl unheimliches Licht auf die vor ihnen sich dehnende, weite, kahle Ebene. Und dann entstand ein Kampf.

Die Frau klammerte sich an das eiserne Gitter, das auch hier das Grundstück einschloß, und er zerrte an der sich mit verzweifelten Kräften wehrenden, als ob er sie und die Umzäunung zu Boden reißen wollte.

»Ich gehe nicht mit! – Sie können machen was Sie wollen! – Ich geh – nicht – freiwillig –« keuchte das Weib.

»Ich habe nichts verbrochen, ich will Ihnen – alles sagen – hören Sie mich.« –

Aber nun ergriff den sonst so ruhig besonnenen alten Mann der Zorn.

»Zum letztenmal! Folgen Sie mir!« drohte er, heiser die Worte herausstoßend, erhob seine Waffe und schwang sie gegen ihr Haupt.

Und da löste sie freiwillig die Hände, und indem sie ihr totenblasses, gramverzerrtes Angesicht zu ihm wandte, sagte sie mit einer rührend flehenden Stimme:

»Gut denn! Nur eine Bitte! Lassen Sie mich vorher noch einmal sprechen. Es währt wenige Augenblicke. Wenn Sie dann wollen, daß ich mit Ihnen gehe, werde ich unweigerlich folgen. Ich verspreche es.«

Finster, widerwillig hatte er ihr zugehört, aber er gab einer solchen Antwort nach, weil er unter dem Lichte des Mondes solchen Seelenschmerz in ihrem Angesicht erblickte, und eine solche Wahrhaftigkeit durch ihre Worte klang, daß sich plötzlich ein schwankendes Gefühl seiner bemächtigte, ja, ihn, ohne daß er sie noch gehört, Mitleid ergriff.

Und dann sprach sie: Ich heiße Margarete Elm. Ich wohne draußen in der Vorstadt. Ich bin aus guter Familie. Mein Mann ist Techniker, aber schon lange ohne Arbeit und Verdienst. Wir haben fünf Kinder, und weil wir sie nicht ernähren können, – weil sie hungerten – hat mein Mann eines der Mädchen gegen eine gute Entschädigung hier an den Kommerzienrat in der Villa gegeben. Es ist von ihnen an Kindesstatt angenommen, – Bedingung war, daß ich meine Grete nie wiedersehen dürfte, niemals herkommen, ihr nie aufpassen, sie sollte für mich tot sein. – Ich gab feierlich Wort und Handschlag. –

Aber in den letzten Wochen riß es mir an Herz und Seele nach meinem süßen Kinde, als ob ich verbluten solle! Ich habe keinen Schlaf, Ich kann nicht arbeiten, ich höre und sehe nichts, ich denke immer nur an mein Kind, und ich wäre heute vor Qual und Sehnsucht gestorben, wenn ich nicht hätte hergehen können. Es schläft in dem Zimmer, in das ich hineingucken wollte. Dreimal habe ich es schon wiedergesehen in seinem Bett. Sie brennen ein Nachtlicht – der liebe Gott hat es für mich hingestellt –«

Sie hielt inne, brach in flutende Thränen aus und schluchzte herzzerreißend.

Und dann fest: »So, jetzt wissen Sie alles, Wächter. Ich werde nie wiederkommen. Ich schwöre es! Ich halte mein Wort.« – Sie erhob die Hand wie eine Priesterin. »Nun aber lassen Sie mich meines Weges gehen. Wenn Sie ein Mensch sind – und wenn Sie gar Kinder haben, werden Sie keine Hand an mich legen.« –

Und während ihr der erschütterte alte Mann durch eine stumme Geste die Freiheit zurückgab, drängte sie sich mit leidenschaftlicher Dankgebärde zu ihm, drückte stumm und fest seine Rechte und war wie ein Schatten, den die Nacht verschlingt, über den dunklen Feldern seinen Blicken entschwunden – –

 


 


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