Hermann Heiberg
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Hermann Heiberg

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Einer, wie viele.

Am Ende der Straße, da, wo der Weg in den Schloßpark einbog, lag ein zweistöckiges altes Haus mit eingesunkenen Steinstufen, einem halb verwischten Wappen über dem geschweiften Portal und von dichtem, grünem Schlinggewächs umschlungenen Mauern.

Die unteren Räume des Gebäudes bewohnte ein altes Ehepaar, das ein stilles, von der Welt abgeschlossenes Leben führte, aufhorchte, wenn in den Zeitungen von Krieg, Überschwemmung und Pestilenz draußen in der Welt die Rede war, auch gern ein Scherflein hergab, wenn die Not in dem Städtchen irgendwo anpochte, im Übrigen aber seine Gedanken aus sich selbst, den alten Besitz mit dem schönen Garten und auf ihren oben in der ersten Etage hockenden Mieter richtete.

Die Leute hießen Limprecht; der alte Mieter aber, der jeden Morgen schon in der Frühe den ehrwürdigen Kopf mit dem schneeweißen Haar aus dem von Laub umsponnenen Fenster herausbog nach dem Winde und nach den Wolken schaute und den Flug der Vögel verfolgte, war der frühere Stadtmusik-Direktor Westphal.

Er war in E. geboren und erzogen, hatte als Jüngling den Wanderstab in die Hand genommen, und nach der Rückkehr in seine Heimat sich daselbst als Musikus niedergelassen. Bald hatte er eine ständige Kapelle herangebildet, die Stadtmusikkapelle, und die Väter des kleinen Ortes hatten ihm zwanzig Jahre später, an seinem silbernen Hochzeitstage, den Titel eines Direktors beigelegt und ein Schriftstück mit dem Stadtsiegel überreicht, durch das er in seinem Alter pensionsberechtigt werden sollte.

Von dieser Pension lebte er auch jetzt, und seine Freude war die Natur, die Musik und ein Enkelkind, das ihm seine Tochter, – alle, die den Namen Westphal getragen hatten, waren gestorben, – hinterlassen.

In dem stillen Hause oben und unten, bei Limprecht's und dem alten Direktor, ging jegliches nach dem Uhrwerk; Frühstück, Mittagsmahl, Kaffee und Abendbrod wurden genau auf die Stunde eingenommen. Dazwischen füllten die Spaziergänge, die Arbeit, die das Hauswesen erforderte, und beim alten Westphal die Beschäftigung mit Musik die Zeit aus. Er spielte seine Flöte oder geigte, wie ihm die Laune kam.

Jeden Mittwoch und jeden Sonnabend zwischen fünf und sieben Uhr erschien seine Enkelin, Sibille Kraft, und leistete ihm Gesellschaft. Sie war nun zwanzig Jahre alt geworden und bei einer zu den Herrschaften des Hofes gehörenden Familie der Stadt – E. bildete zeitweilig die Residenz des regierenden Fürstenhauses, – als Hausdame angestellt.

Wer sie sah, mußte glauben, ein weibliches Mitglied des Hofes habe sich aus Laune oder aus bescheidenem Sinn in ein Hausgewand gesteckt. Wunderbar edel und vornehm waren ihre Züge, und herrlicher konnte Niemand gewachsen sein.

Es hatte sehr viele Opfer und Mühe gekostet, bis der Alte Sibille soweit gefördert. Jeden Groschen, den er zu ersparen vermocht, hatte er für sie aufgewendet. Voll Sinn und Schätzung für alles bessere und wertvolle war er bestrebt gewesen, ihr eine Erziehung zu geben, wie sie sonst nur die Mädchen der bevorzugten Stände genießen. – Sie teilte auch seine Begeisterung für Musik und sie besaß eine Stimme, deren reiner Ton an den unschuldigen Gesang der kleinen Geschöpfe erinnerte, die in den hohen Bäumen des Limprecht'schen Gartens jubilierten.

Wenn mittags die Hofuhr im Schloß zwei schlug, trat Frau Limprecht, eine kleine, zarte Frau, auf den kühlen, sauberen Flur bis an die Treppe und klingelte. Und wenige Minuten später erschien dann Westphal in einem weiten, grauen Anzug, tief am Halse ausgeschnittenen, weißen, aber ungesteiften Hemdkragen, und einem darunter befindlichen jugendlich flott geknoteten Halstuch.

Der alte Mann hatte etwas ungemein bescheidenes in seinem Wesen, und obschon man jederzeit merkte, wie sehr er auf allen Gebieten zu Hause war, suchte er doch nie seine Meinung zur Geltung zu bringen. »Jeder könne auf seine Weise recht haben,« äußerte er. Und allem gemeinen und unsauberen ging er aus dem Wege.

Immer erzählte Westphal von Sibille, und dann hob er die Stirn, und ein Ausdruck von frommer Einfalt erschien in den Zügen des weiß umrahmten Kopfes. Entweder berichtete er, taktvoll die Mitte haltend, von dem, was sich im Gräflich Terno'schen Hause zugetragen, oder von seiner Enkelin Aussichten.

Über eine Angelegenheit schwieg er aber stets und zwar darüber, daß Graf Ludwig Terno, der als Assessor am großherzoglichen Amtsgericht thätig war und im Hause seiner Eltern wohnte, sich für Sibille ungewöhnlich interessierte.

Anfangs hatte Sibille über seine Artigkeiten gelächelt, neuerdings aber fühlte sie sich äußerst beengt und hatte mehrfach die Hoffnung ausgesprochen, daß der junge Graf versetzt werde.

»Was soll's nützen, Großvater? Und immer habe ich Furcht, die im Hause merken es, wie er um mich herum ist. Dann fällt doch die Schuld auf mich und die Folgen sind gar nicht abzusehen!« Sie hatte recht; aber doch freute es den Alten, daß man sie beachtete. Sie war ja auch schöner, als irgend ein Mädchen in der Residenz, als eine der jungen Komtessen am Hofe. –

Es war in der ersten Woche des Mai, der früh in weicher, warmer und prangender Schönheit eingezogen, als Sibille um die gewohnte Zeit die alte Eichentreppe im Limprecht'schen Hause emporstieg und an die Wohnstubenthür Westphal's klopfte.

Es folgte nicht gleich ein »Herein«. Der Alte hörte nicht, er spielte eben. Schmelzende Flötentöne erfüllten das Gemach und drangen hinaus in den kleinen, parkartigen Garten.

Sibille blieb stehen und lauschte; endlich aber öffnete sie ohne Antwort und trat leise – der Alte stand dem Garten zugewendet – ins Gemach und umarmte ihn zärtlich.

Bald darauf waren sie im eifrigen Plaudern. Aber der Gegenstand des Gespräches hatte heute einen sehr ernsten Charakter. »Er war bei mir im Zimmer,« – zitterte es aus des Mädchens Munde, »trotz meines Verbots. Wohl eine Stunde sprach er auf mich ein, und als ich immer dasselbe wiederholte: daß ich ihn nicht liebe, wie man einen Mann lieben müsse, und auch eine solche Neigung gänzlich aussichtslos sei, zog er zuletzt eine Pistole aus der Tasche und schwur, daß er sich, wenn ich auf meiner Weigerung beharre, werde, töten werde.«

Ein Angstlaut ging unwillkürlich aus Westphal's Munde. So stürzte sich der Wolf auf das unschuldige Lamm! Glück und Frieden waren nun dahin; die Leidenschaft, die stets ihr Haupt erhob – plötzlich, unversehens, wie der Sturm – hatte auch hier ihr Opfer gefunden.

»Ich gehe zum Grafen, morgen um seine Sprechstunde; ich werde ihm alles vorstellen,« entschied der Alte erregt und hielt Sibille, die bereits wegen der vorgerückten Zeit voll Unruhe dagestanden, zurück.

»Nein, nein, Großvater, thu's nicht! Wir müssen erst überlegen. Hoffentlich denkt Graf Ludwig morgen schon ruhiger. Aus Klugheit behandelte ich seine Drohungen als eine Kinderei, wand ihm die Pistole aus der Hand und verschloß sie in meine Kommode. Ich schreibe Dir oder komme nachmittags wieder.« – Nun eilte sie mit ihrem leichten Schritt die Treppe hinab.

* * *

Das Haus des Grafen Terno lag kaum hundert Schritte entfernt in einer einsamen Straße, die sich neben dem Schloßpark hinzog. Es befanden sich hier mehrere Kavalierhäuser, die sämtliche weitläufige Gärten, und da das Souterrain ungewöhnlich hoch aufgebaut war, alle vielstufige Treppen besaßen. – Sibillens Gemächer lagen oben nach hinten, am äußersten Ende eines das Haus durchschneidenden Korridors.

Sie waren ganz im Styl der alten, adeligen Häuser gehalten: hoch luftig, mit Rokkokostuck und hellen, anmutigen Tapeten.

Als Sibille von dem Besuch bei ihrem Großvater zurückkehrte, begab sie sich rasch hinauf; in einer halben Stunde mußte das Abendbrod aufgetragen sein, und noch hatte sie einige Anordnungen zu treffen.

Da begegnete ihr Graf Ludwig im Korridor; eben war er im Begriff, sich in seine, auf dem entgegengesetzten Ende befindlichen Gemächer zu begeben.

Sie wollte ihm eilend ausweichen; ihr Herz klopfte angstvoll, aber er hielt sie mit stürmischen Bitten und forderte, das sie ihm gute Worte sagen solle, bevor sie gehe. – Er würde sie heute nicht mehr beim Abendbrod sehen können, da er einer Einladung folgen müsse. Sie möge barmherzig sein und ihm noch einmal am kommenden Tage gegen sechs Uhr eine Unterredung gewähren. Er habe eine Idee, durch die noch alles gut werden könne.

Aber Sibille wich ihm abermals aus. »Es kann nur alles gut werden, wenn Sie sich Ihre Neigung aus dem Sinn schlagen, Herr Graf. Ich liebe Sie nicht, wie Sie mich, ich wiederhole es! Wenn auch also sämtliche Hindernisse überwunden wären, so ist durch diese Erklärung alles erledigt, jede neue Besprechung überflüssig.«

Doch kaum hatte Sibille diese Worte gesprochen, als der Mann, ein vollblütiger, dunkler Mensch mit scharf markierten Zügen und blitzenden Augen des Mädchens Rechte ergriff und ihr Handgelenk in seiner Liebesqual so heftig drückte, daß sie laut wimmernd aufschrie.

Da kam man die Treppe herauf, und beide flogen auseinander. –

Fast die ganze Nacht vermochte der alte Westphal nicht zu schlafen; unruhig wanderte er in seinem Zimmer auf und ab und suchte sein Inneres zu besänftigen. Er wußte, Sibillens Ruhe war nur künstlich gewesen.

Was sollte das Ende sein? Wenn er, Westphal sie aus dem Terno'schen Hause fortnahm, würde alle Welt nach den Gründen fragen.

Auch wußte der Alte nicht, wohin er sie bringen sollte. Bei ihm zu wohnen, hatte sie abgelehnt; sie brauchte Thätigkeit, – sie wollte selbst etwas verdienen, das bischen Pension ihm nicht schmälern, – und er hatte nicht dagegen gesprochen. Der pflichttreue Sinn dieser Menschen kam überall zum Ausdruck.

Gern hätte er jetzt, in der Nacht, seine Geige in die Hand genommen, sie, die ihm so oft die kummervollen Gedanken verscheucht, so oft über Lebensweh weggeholfen. Aber das hieß die drunten, hieß die Nachbarschaft stören.

Der alte Mann schaute hinaus in den stillen, vom Mondlicht wie in einen Zauberschlaf gebannten hatten. Drüben, – drüben hinter den Bäumen schlief sein alles in der Welt, – schlief seine Sibille. – – –

In diesem Augenblick erscholl gerade aus jener Gegend ein lauter, durchdringender Wehruf durch die schweigende Nacht, und angstvoll horchte der alte Mann hinüber und faßte sich an das zitternde Herz. Ihm war's in seiner Gemütsbeschwerung, als ob er Sibillen's Stimme gehört hätte. – Erst gegen morgen vermochte er einzuschlafen.

* * *

Am kommenden Vormittage wußte der Alte seiner Enkelin durch das Hausmädchen ein Briefchen zuzustecken. – »Laß' mich rasch wissen, wie es Dir geht, der Tag ist schön und glückverheißend. Sag' mir, ob es in Deinem Herzen und Gemüt ruhig ist.« –

Eine Stunde später kam eine Antwort: »Sorge Dich nicht! Ich sprach den Grafen diese Nacht und hoffe, alles wird noch ein gutes Ende nehmen.«

Dann hörte er tagelang nichts von ihr, aber dieses Schweigen machte ihn nicht sicher, erfüllte ihn vielmehr mit unruhigen Zweifeln. Immer wieder griff er nach seiner Flöte und Geige und spielte, um die Qual zu lösen.

»So eifrig haben Sie lange nicht mehr musiziert!« warf die alte Frau Limprecht beim Mittagessen hin. »Mein Mann glaubte sogar, die letzte Nacht den Ton Ihrer Violine gehört zu haben.«

Er sagte nichts, der alte Mann, er neigte nur das Haupt und leitete das Gespräch auf andere Dinge über.

Dann kam wieder der Mittwoch, der Tag, an welchem Sibille erscheinen mußte. Des Alten Herz klopfte. Nun würde er – der alte Mann verließ sich auf seinen Blick – in ihrem Angesicht lesen, wie die Dinge standen.

Er erschrak, als er sie wiedersah. Anders war ihr Ausdruck; etwas Scheues lag in dem Blick ihrer dunklen Augen, doch war sie warm, zärtlich und sanft.

»Laß' die Dinge vom Grafen, Großvater« – erwiderte sie abwehrend. »Es muß werden, wie der Himmel will. Ich bin ruhig, er ist gut und freundlich gegen mich.«

Der Mann warf einen langen, fragenden Blick auf seine Enkelin; eine Thräne trat in sein Auge. Sie aber küßte ihn mit ihren süßen Lippen, und wußte sich so sorglos und heiter zu geben, daß er sich selbst betrog und ihr glaubte. –

Und der Frühling ging, und der Sommer kam, und die Tage wanderten, wie immer. Drunten fegte die Frau den Flur, wirtschaftete in Küche und Keller, Limprecht jätete und grub im Garten und spannte zum Schutz gegen die zudringlichem Spatzen Netze über die Obstbäume aus. Und droben saß der alte Mann in seinem einsamen Gemach, schaute in das schneeige Blütengewirr der Kirschbäume und sog den Duft der Nachtviolen um die Abendzeit ein. Jeden Tag aber entlockte er seiner Geige herrliche Töne, und oft sprach Sibille gar nicht, hörte ihm nur zu und verbarg ihr Haupt in den schmalen Händen.

»Was ist, mein süßes Kind?« drang's aus des Alten Brust. »Dein alter Frohsinn ist fort, mir ist's, als ob etwas an Deinem Herzen nage. Ist's etwas mit dem Grafen, mit einem Anderen? O, schütte mir Dein Herz aus, mich dürstet nach Deinem Vertrauen. Was habe ich sonst auf der Welt?«

Er sah dann nicht den unbeschreiblich wehmütigen Blick ihrer Augen, sie wußte sich zu beherrschen. Es sei nichts, des Sommers Hitze, der Frauen physische Schwäche, die Arbeitsanspannung.

Und endlich erschien der Herbst. Er war kalt, ein schneidender Wind jagte durch die Luft. Schon glühten in den Eisenöfen die Kohlen und spendeten Licht in der Dämmerung. Dann musizierte Westphal am liebsten; durch das Dunkel zitterten schwermütig die Töne. Oft war's ihm selbst, als geige er sein Totenlied. Die alte Lebensfreudigkeit war dahin. –

Sibille sah aus wie ein Geist, sanft war ihr Wesen, aber etwas namenlos hilfloses lag in ihren Zügen. –

Um diese Zeit war einmal mittags viel die Rede vom Hofe. Limprecht's erzählten, die Herrschaften rüsteten sich zur Abreise. Anfang November wolle der Fürst mit seiner Umgebung nach Italien. Frau Limprecht erwähnte auch beiläufig, und als etwas bekanntes, daß der junge Graf Terno schon seit zwei Monaten von E. fort sei. Es sei ihm gelungen, als Attaché bei einer der Gesandtschaften im Süden eine Anstellung zu erhalten.

Der Alte schüttelte ungläubig den Kopf. »Nein, das muß ein Irrtum sein; davon hätte mir doch Sibille erzählt!« warf er hin. Aber er stockte selbst, und es versetzte ihn in bangende Unruhe, daß sich bei seinem Einwand die Augen seiner Mitbewohner mit einem so eigentümlichen Ausdruck auf ihn richteten. –

»Heute kommt ja Fräulein Sibille, es ist Sonnabend. Da werden Sie erfahren, wohin die Herrschaften gehen« – warf die Frau hin. »Ihre Tochter bleibt doch wohl nicht in der gräflichen Familie?«

»Natürlich. Weshalb nicht?« wandte der alte Mann mit stolz gehobener Stimme ein.

Die Leute wechselten einen Blick mit einander und schwiegen. –

Bald darauf ging Westphal in sein Zimmer. Das Essen mundete ihm nicht recht. Es saß etwas schweres auf seinem Herzen, das ihm den Atem nahm; auch zählte er um die Nachmittagsstunde die Minuten, bis Sibille kommen werde.

Endlich, kurz vor sieben Uhr, wurde das Geräusch von Schritten auf der Treppe vernehmbar. Rasch erhob sich der Alte, – er hatte bisher vergessen, die Lampe anzuzünden – und wandte sich gegen einen kleinen Tisch, auf dem sie ihren Platz hatte. –

Nun öffnete sich die Thür. »Ah, Sibille! Meine Sibille!« rief der Mann durch die Dunkelheit. »Einen Augenblick! Gleich zünde ich Licht an und« –

Aber er kam nicht weiter. – Er hörte einen grausam, wimmernden Ton, – ein Sterbeschrei – und das Hinfallen eines Körpers. Atemschwere Angstlaute lösten sich aus des Mannes Brust. In seinen Händen zitterte das zu Ende glimmende Schwefelhölzchen. Er beugte sich, in den Gliedern zitternd, herab, sah Sibille blutend am Boden liegen, warf sich neben sie auf die Kniee und nahm sie in seine Arme.

»Sibille! Sibille!« Es klang herzzerreißend. Aber herzzerreißend klangen auch die Worte, die sich aus des Mädchens Munde rangen:

»Bei Dir – wollte ich – sterben! – Verzeih – das furchtbare Herzeleid – das ich Dir mache.« – Hier quollen die Blutstropfen aus dem geöffneten Mieder und die Stimme erstarb. – »Ich durfte nicht mehr leben. – Ich stieß mir ein Messer in die Brust, – eben hier – vor der Thür. – Er hat mich verlassen, – betrogen – entehrt. – Heute schrieb er, – es sei ein Irrtum, – er werde mich nicht wiedersehen. – Komm, – komm rasch, – umarme mich noch einmal fest, – fest, – zum legten Mal – zum letzten – – Verzeih' – – –«

Dann sank sie hin, und eine tiefe Blutlache bedeckte den Boden.

* * *

Zwei Jahre und ein halbes später!

Vor der Thür standen Limprecht's und plauderten mit einigen zum Besuch gekommenen Freunden aus der Nachbarstadt. Eben drang die wildklagende Musik einer Violine durch die geöffneten Fenster, dazwischen unheimliches Lachen,

»Wer spielt? Wer lacht so unheimlich?« fragten jene bestürzt.

»Es ist unser Einwohner, der irrsinnige Westphal, der frühere Stadtmusik-Direktor.«

»Irrsinnig?«

Die Alte nickte. »Ja, ja! Aber er thut niemandem etwas. Zweimal in der Woche geigt er und lacht und geht dabei um einen Fleck auf dem Fußboden herum. Er zeigt die Spuren einer Blutlache, die sich nicht verwischt, – – Seine Enkelin Sibille, ein sehr schönes Mädchen, nahm sich vor Jahren das Leben weil – weil –«. Hier ging der alten Limprecht Stimme ins Zischeln über,

Eben flog mit lauten, zwitschernden Tönen ein süß zankendes Vogelpaar vorüber und nahm den Weg in den blütenreichen Garten hinter dem Hause. Es setzte sich dort in die Bäume und sang mit zärtlicher Stimme, sang so rührend, daß der Violine Ton, daß das häßliche Lachen des Alten jählings verstummte.

Der alte Mann wandte sich zum Fenster, schob den schneeweißen Kopf mit den traurigen, irren Augen hinaus und horchte und horchte. Er glaube Sibille, seine Sibille, singen zu hören. So, so märchenhaft unschuldig hatte es geklungen, – und langsam flossen die Thränen über die alten Wangen – –

 


 


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