Hermann Heiberg
Aus allen Winkeln
Hermann Heiberg

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Wer will richten?

Großes Aufsehen erregte es in R. als die Anzeige von dem plötzlichen Ableben des Arztes Doktor Bunge in der Morgenzeitung erschien. Daß auch ein Arzt im besten Mannesalter sterben konnte, überraschte. Man nahm hier, wie überall stillschweigend an, daß die Doktoren ein Patent auf größere Lebensdauer vom Himmel mit auf den Weg erhalten hätten. Nun wars doch anders!

Als der Doktor von einem Landausfluge in offenem Wagen heimgekehrt war, hatte er über fieberhaftes Unbehagen geklagt, dem Schüttelfrost, schwere Atemnot und unheimliche Angstgefühle gefolgt waren, und schon am nächsten Frühmorgen hatte ihn ein Herzschlag vom Leben befreit.

Das Räderwerk war wie bei einer Uhr plötzlich ins Stocken geraten, und Frau Dr. Bunge, einstige Lina Nothnagel, und ihre sanfte Stieftochter, Elise standen am Sterbelager und wischten die Augen.

In den Schmerz der Witwe mischten sich freilich Ueberlegungen selbstischer Art; diese beherrschten sie weit mehr, als der Kummer um den plötzlichen Verlust, während Elise nur daran dachte, welch ein beispiellos guter Mann, welch ein zärtlich liebevoller Vater der Tote gewesen sei.

Auch während der kommenden Tagesstunden richtete die Frau ihren Sinn lediglich auf äußerliche Dinge. Sie bestellte die Leichenwäscherin und den Sarg und besuchte den Küster, der das Grab graben sollte.

Elise aber schlich immer wieder an das Bett des Entschlafenen, schaute in sein stilles, liebes Angesicht, und suchte noch im Tode ihre Seele an die seinige zu schmiegen. –

Sehr viele Männer sprechen niemals über ihre Vermögens-Verhältnisse mit ihren Frauen. Oft ists Scheu.

Sie hoffen, daß Gott sie am Leben erhalten werde. Was werden soll, wenn sie sterben, daran wollen sie nicht denken. Früher kleidete Gott die Lilien auf dem Felde, so wird er auch heute noch der Verlassenen sich annehmen.

Doktor Bunge hatte auch zu denen gehört, die den Erörterungen darüber aus dem Wege gehen und zudem mehr dem Tage, als dem Gedanken an die Zukunft leben. Er hatte es nicht anders vermocht. Sein Herz war zu weich, seine Hand allzu offen gewesen.

Auch besaß er wie er glaubte, eine gute Gesundheit. Meistens vermögen Aerzte sich weder selbst richtig zu beurteilen, noch zu kurieren. Und so war auch er plötzlich einem unbekannten Leiden erlegen, und so hatte er kein Vermögen erworben, von den Früchten seiner rastlosen Thätigkeit nichts hinterlassen.

Aber weil die Frau doch auf eine Hinterlassenschaft angewiesen war, so ging sie noch am Abend des Sterbetages mit unruhvoller Erwartung an den Schreibtisch ihres Mannes.

Zahlreiche Briefe überschwänglich gehaltenen Inhalts von weiblichen Patienten des Verstorbenen, die sie zunächst hervorzog, erregten ihren Aerger aus doppelten Gründen: einmal weil er sie vor ihr verborgen hatte, und andererseits, weil die Schreiberinnen jung und hübsch waren. Auch warf sie die Schriftstücke gleich in den Ofen.

Unberichtigte Rechnungen, Familienpapiere, Tauf-, Impf- und Eheschließungsschein, das Doktordiplom und Schul-Abgangszeugnisse legte sie, ebenfalls enttäuscht, beiseite. Aber nach einem großen Kouvert, ».Nach meinem Tode zu öffnen« überschrieben, griff sie, indem ihr Mund die verheißungsvollen Worte unwillkürlich einmal leise und einmal laut und von einem hastig raffenden Griff nach dem Schriftstück begleitet, hervorstieß.

Und während Elise mit ihren stillen, traurigen Augen dasaß und ihr bei diesem Erinnerungszeichen an den Verstorbenen nur noch tiefer das verwundete Herz schmerzte, riß Frau Malwine mit gieriger Ungeduld das Kouvert auseinander und las, was vor ihren Augen erschien:

»Liebe Frau!

Für alle Fälle wirst Du nach meinem Tode die Zinsen des Kapitals haben, mit dem ich mein Leben versicherte.

Es ist die Police diesen Zeilen angefügt.

Es ist leider nicht viel, aber es wird Dich und meine herzliebe Elise, wie ich hoffe, vor Sorgen schützen.

Wenn ich einen Rat geben darf, so sucht eine Pension zu errichten.

In der Schlafstube, in der untersten Schublade hinten, befindet sich in dem hölzernen Kasten, zu dem der Schlüssel in meiner Geldbörse steckt, eine bedeutende Summe in Wertpapieren.

Sie gehört aber nicht mir. Ich fand sie während des französischen Feldzuges in dem Schlosse Eterné bei Etampes, woselbst ich als Militärarzt einquartiert war, in einem Wandschrank, und nahm sie, von dem Augenblick fortgerissen, an mich.

Ich habe mich aber weder überwinden können, die Papiere anzutasten, noch war ich später in der Lage, sie dem Eigentümer zurückzustellen. Ich vermochte es nicht, da dieser, wie ich auf meine Nachforschungen erfuhr, inzwischen in Paris kinderlos aus dem Leben geschieden war. –

Lebet wohl! Ich segne Euch! Habt Dank für alles Gute. Bewahret mir ein nachsichtiges Angedenken. Ich habe Euch sehr lieb gehabt.«

Frau Malwine ergriff nach der Lektüre dieses Schriftstückes eine namenlose Unruhe und Spannung. Sie flog, ihre tiefbewegte Stieftochter mit sich ziehend, an den von dem Verstorbenen bezeichneten Ort, und als sie dort wirklich ein schweres Packet mit einem Inhalt an Wertpapieren in Höhe von 250,000 Franks fand, sank sie erst taumelnd zurück und erklärte dann sogleich, daß sie die unerschütterliche Absicht habe, nicht einen Sou von diesem Gelde herausgeben, sondern vielmehr als gute Prise behalten zu wollen.

Freilich folgte diesem Glücksrausch eine sehr harte Enttäuschung. Als sie zwei Tage später an dieselbe Schublade ging, waren Kasten und Geld verschwunden, und sie kamen auch trotz aller angestellten Nachforschungen nicht wieder zum Vorschein. Sie waren offenbar von einem Diebe entwendet worden.

Frau Malwine wurde aus Aerger nicht nur von der Gelbsucht und dann von einer anderen schweren Krankheit befallen, sondern sie vergaß auch, ein Grabgitter und Kreuz für die Ruhestätte ihres Mannes zu bestellen. Sie vergaß sogar ihn selbst sehr bald und heiratete wiederum einen Arzt, der sich teils in ihre volle Büste, teils in das ihr von dem Verstorbenen hinterlassene Lebensversicherungs-Kapital verliebte.

Und wenig später nach dieser Heirat – gerade dreiviertel Jahr nach dem Tode des Doktor Bunge – schrieb Elise Bunge einen Brief nachstehenden Inhalts an eine Freundin in Hamburg.

Heilbronn, den 25. Mai 18 . .

Meine liebe Anna!

Deine letzten kurzen Zeilen, für die ich Dir von ganzem Herzen danke, habe ich nicht früher beantworten können, weil ich unterwegs auf der Reise nach Stuttgart, woselbst ich eine Stelle als Erzieherin übernommen habe, hier in Heilbronn erkrankte und liegen bleiben mußte.

Erst heute bin ich nach wochenlangem Bettliegen zum ersten Male aufgestanden und noch so schwach und elend, daß ich diese Zeilen nur mit äußerster Anstrengung niederzuschreiben vermag.

Ich bin aus R. weggegangen, weil ich mich mit meiner Stiefmutter vollständig überworfen habe. Wir verstanden uns bei unserer gänzlich verschiedenen Charakterveranlagung und Lebensauffassung, wie Du weißt, schon immer sehr wenig. Nach dem Tode meines Vaters aber gerieten wir zufolge unserer Ansichts-Abweichungen über den Begriff von Dein und Mein in einen so heftigen Konflikt, daß sich schon damals die Absicht in mir gestaltete, eine dauernde Trennung zwischen uns herbeizuführen.

Dies ward zunächst vereitelt durch eine schwere Krankheit, der meine Stiefmutter unterlag. Ich pflegte sie Monate fast Tag und Nacht.

Als sie dann aber nach ihrer Wiedergenesung nichts Eiligeres zu thun hatte, als sich mit einem wenig angesehenen, mir grenzenlos unsympathischen Mann zu verloben, auch dadurch an den Tag legte, wie gering sie das Ansehen an meinen Vater in Ehren hielt, brachte ich meinen Vorsatz mit aller Entschiedenheit zur Ausführung. Freilich wurde mir das sehr schwer, da ich so viel wie nichts mein eigen nannte, und sie mich nicht nur durchaus unvollkommen unterstützte, sondern zuletzt sogar aus dem Hause wies. – – –

So wirst Du es denn begreiflich finden, daß ich, zudem von allen Mitteln entblößt, – sogar noch mit Verpflichtungen in dem hiesigen Hotel garni »Zum Stern« belastet – schier der Verzweiflung nahe bin!

Schicke mir, ich bitte Dich inständigst, liebe Freundin Anna, Geld, damit ich mich erholen, meine Schulden berichtigen und demnächst die mir noch bis jetzt offen gehaltene Stelle antreten kann.

Nicht wahr, Du erfüllst das dringende Gesuch einer Verlassenen, die überdies von einem schweren Seelenkampfe heimgesucht wird, den sie nur mit sich selbst auszuringen vermag.

Ich werde nicht ruhen und rasten, bis ich Dir alles zurückerstattet habe. Glaube es, verlasse Dich darauf.

Antworte baldmöglichst Deiner im Voraus von ganzem Herzen dankbaren

Elise Bunge.

Nachschrift. Ach liebe Anna! Wenn Du mir nicht hilfst, muß ich untergehen. Ich fühle es. – –

* * *

Es war auf dieses Schreiben kein Geld eingetroffen. Wie selten empfängt ein Bittender, noch dazu ein Verzweifelnder Antwort oder gar eine Zusage auf eines solchen Briefes Inhalt!

Aber das Begräbnis der durch solche Seelennot der Wideraufrichtungskräfte völlig Beraubten, acht Tage später Dahingeschiedenen, hatte stattgefunden.

In einer fernen Ecke des Kirchhofes hatte der Totengräber eben den Sarg hinabgesenkt und gewohnheitsmäßig handelnd, ein Paar Schaufeln Erde nachgesandt. Nun war die Kranke und Verlassene erlöst, und über ihr blaute ein hehrer, hoher Frühlingshimmel, und von dem heimlichen Gesang kleiner Vögel gleichsam begleitet, tanzten zwei gelbe Zitronenfalter im Zickzackfluge über die Grabstätte dahin, verschwanden, kehrten zurück, schwebten noch einmal, voll frohen, siegreichen Lebens über die Totenstätte und wurden, von der zitternden Goldluft getragen, endlich vom heißen Sonnenlicht und von der Ferne verschlungen.

Der alte, weißhaarige Mann aber stützte sich auf den Spaten und hörte, was der Hausdiener des Hotels, der den Sarg hierhergebracht, ihm noch vor dem Abschied zu sagen hatte.

Die Tote sei aus dem Norden. Das Geld, das der Wirt bei ihr gefunden, reiche lange nicht. Man habe nach ihrer Heimat, an die Mutter, von der sie während ihrer Krankheit erzählt, geschrieben, sie möge den Rest bezahlen. Dann solle wenn dieses eingehe auch ihm, dem Berichterstatter, noch ein Trinkgeld werden.

Was aber der Alte wohl von dem Blatt Papier und von dem Brief mit dem großen Siegel in fremder Schrift geschrieben, meine, die er und das Hausmädchen beim Aufmachen des Bettes unter den Kissen gefunden und an sich genommen hätten.

Der alte Mann griff nach dem Gebotenen und las erst das, was auf dem Blatt Papier geschrieben stand.

»Zur Rettung des reinen Andenkens an meinen geliebten Vater machte ich mich eines Vergehens schuldig. Ich nahm und leugnete die Entwendung.

Gott im Himmel verzeihe mir! –«

Und dann sagte der Alte, den Brief entfaltend: »Ja das kann ich lesen. Es ist französisch. Ich war einmal früher im Elsaß. Ich will es dir übersetzen.

Fräulein Elise Bunge.
Poste restante Hauptpostamt
Hamburg.

Auf Ihren Wunsch wird Ihnen bescheinigt, daß das dem verstorbenen Baron Emil von Eterné auf Schloß Eterné gehörige Eigentum (250,000 Franks in französischer Rente) hier eingegangen, und da mit dem Dahingeschiedenen die Familie ausgestorben, der Fiskus-Kasse überwiesen worden ist.

Ministerium für öffentliche Finanzen.
gez. Henri Develle.

Der Alte laß das kopfschüttelnd und noch einmal, und dann den Zusammenhang ahnend und von Mitleid um die ergriffen, die er eben in die Erde gebettet, zerriß er beide Papiere und übergab sie, dem Auskunft-Einholenden solche als völlig wertlos bezeichnend, den Winden.

Ueber das Antlitz der Toten drunten im Grabe aber glitt ein Ausdruck heißen Dankes dafür, aber auch für die Erlösung von allen Leiden und aller Seelenqual. – –

 


 


 << zurück weiter >>