Hermann Heiberg
Aus allen Winkeln
Hermann Heiberg

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Frau Grots Staatszimmer.

Mitten in der Straße, mit spiegelhellen Scheiben und allezeit munteren Blumen auf der einen Seite, und Bürstenbinderwaren aller Sorten auf der anderen in dem tief ausgebauten Ladenfenster, lag das winzige Häuschen mit seinem kleinen Giebelausbau. So niedrig war das Gebäude, daß man beim vorüberschreiten nicht umhin konnte, in die Scheiben zu blicken. Und da zeigte sich denn dem Passanten in blitzblanker Sauberkeit ein allerliebstes Gemach mit blütenweißen Gardinen, braungebohnertem Fußboden, einem hohen, fast bis an die Decke reichenden Mahagoni-Cylinder und sonstigem Mobiliar, das nicht minder gut erhalten war. Insbesondere aber fiel der vor dem Sopha stehende, mit einer roten Tischdecke und einer weißen Serviette versehene Tisch ins Auge, auf dem sich jederzeit ein Perückenstock mit einer langbebänderten Frauenhaube erhob, zum Schutz vor Staub und Sonne mit einem weißen Sacktuch sorglich verhüllt.

Eines Tages konnte der gegenüber auf der höher gelegenen Seite wohnende Architekt, Herr Herbert Holm, der zur Zeit in dem Städtchen Wisborg beim Umbau der Stadtkirche beschäftigt war, dem Verlangen nicht widerstehen, einmal den Bürstenbinderleuten einen nachbarlichen Besuch abzustatten. Ihn lockte es nicht allein, sich das kleine Häuschen im Inneren anzusehen. Was ihn weit mehr anzog, war die Mädchengestalt, die jeden Morgen hinter dem einzigen Fenster drüben erschien, Luft und Licht herein, allerlei Kleinigkeiten zur Befreiung von Staub herausflattern ließ und dann auch unter stetem, starken Erröten wohl einen Blick zu ihm, dem Beobachter, hinüberschickte. Denn Gretchen Grot – das war eine allgemeine anerkannte Thatsache – war das reizendste und anmutigste Geschöpf, das in ganz Wisborg und auf mindestens zwanzig Meilen in der Runde anzutreffen war. Dabei war sie auch innerlich von besonderer Art und unterschied sich von anderen [nicht nur] dank der Bildung, die sie in der ersten Mädchenschule empfangen hatte, sondern auch durch natürliche Veranlagung. Wenn sie im Bürgerklub auf einem Ball oder Kränzchen in ihrem einfachen weißen Kleide mit der rosa seidenen Schärpe erschien, belebten sich die Augen der jungen Leute und den ganzen Abend blieb sie die Meistumworbene. –

Die kleine, stille Stadt, deren Dächer die sinkende Sonne rötlich bestrahlte, rüstete sich nun eben zum Feierabend. Schon wirbelten die Rauchwolken aus den Schornsteinen der Feuerherde, die, seit Mittag zur Unthätigkeit verdammt, nunmehr ihrer nützlichen Bestimmung zurückgegeben wurden.

Auch der Architekt hatte sein Tagewerk hinter sich. Reißbrett, Zirkel und Stift waren beiseite gelegt, die Arbeiter abgelohnt. Der Bau war seinem Schicksal überlassen, bis wieder Klopfen und Hämmern am Dachstuhl ertönen, die Kelle angesetzt, und Leiter auf, Leiter ab, die Steine hinauf und die leeren Mulden hinabgetragen werden würden.

Holm mußte, als er den schmalen, mit weißen und schwarzen Steinfliesen belegten Flur beschritt und an die Schiebefenster des thürlosen, gleich einem langen, abgeschlossenen Kirchenstuhlraum gebauten Ladens trat, eine längere Weile warten.

Erst nach wiederholtem, vernehmbarem Klopfen öffnete sich eine hinten befindliche Thür, und Frau Grot, eine kleine Frau mit ernsten Augen, ein Tuch um die Schultern, erschien, mit gemessener, dem stark ausgeprägten Selbstgefühl der nordischen Handwerkerfamilien entsprechender Höflichkeit grüßend.

»Ich möchte eine Kleiderbürste von der besten Sorte,« führte sich Herbert ein.

Sie nickte nur, holte aus einer Schublade des Ladentisches verschiedene mit schwarzglänzendem oder braunem Rücken versehenen Muster hervor und suchte, während Holm diese besah, auch in einem die Wand ausfüllenden Glasschrank nach, in dem aufgehäuft war, was an feinerer Ware zu einem wohlassortierten Bürstenbinderladen gehört. In den Ecken befanden sich die größeren Gegenstände und von der Decke herab hingen: Besen mit langen Stielen, Kammerfeger, Leuwagen, Fensterwascher, grobe Bürsten, Schrubber, sogenannte Handeulen und anderes.

Nachdem der Handel abgeschlossen war, blieb Holm noch stehen, machte die freundlicher gewordene Frau gesprächig und ließ auch ein Wort über das niedliche Wohnzimmer fallen, das auf der anderen Seite des schmalen Hausflurs lag. Er fragte, ob er einmal hineintreten dürfe.

»Oja, gewiß, mein Herr« – gab die Alte ohne zimperliche Einwendungen zurück. Nur wegen der mangelnden Sauberkeit machte sie, während sie voranschritt und dem Gaste zur nachahmenden Beachtung, die Füße fleißig auf einer vor der Thür liegenden Matte abwischte, eine entschuldigende Bemerkung: »Sie dürfen sich man nich viel umsehen – Herr – Herr – Herr Baumeister Holm von drüben – nich wahr? Dja richtig, so meinte ich auch. – Wir konnten nämlich heute nich bei's Reinemachen kommen; meine Tochter Grete leidet an die Brust, is charnich recht chut – und ich hatte so viel in diese Woche – bitte, bitte. –Nein, nein, geh'n Sie man zuerst herein, Herr Baumeister.« –

Holm sah sich in dem allerliebsten Zimmerchen um. Die Blumen, namentlich die Rosen, strömten jetzt am Abend ihren stärksten Duft aus, aber die Luft war nicht dumpf. Kein Stäubchen fand sich trotz der Erklärung der alten Frau. Alles blitzte und glänzte, als sei es nie benutzt. Auch die Haube mit den gelbseidenen Bändern, die heute von dem schützenden Tüchlein befreit war, schien noch niemals gebraucht zu sein. Holm äußerte sich darüber. Er fragte, ob sie das Gemach gar nicht bewohnten.

»Nein, da is es uns doch zu schade zu, Herr Baumeister,« entgegnete Frau Grot, während sie wie liebkosend mit der Hand über die gehäkelte Decke strich und dann auch die Haube in eine noch akkuratere Stellung brachte. Aber während sie diese Worte sehr ernsthaft sprach, legte sich, als sie ihm auf seine Frage nach der Haube Antwort erteilte, um ihren Mund ein feines Lächeln.

»Die setz' ich nur zu Vogelschießen auf, und daß sie hier immer steht, darüber schilt Grete auch. Aber das is mal so. Wenn die da steht, so is mein Herz froh.« Und dann wieder: »Nein, nein, unser kleines Staatszimmer möchten wir doch gern immer was blank haben. Einmal – stand da ein Sarg in –.« Die Frau erhob den Schürzenzipfel und wischte sich eine Thräne aus dem Auge. Und mit tief beschwertem Ausdruck schloß sie: »Was mein Sohn war, der is hier gestorben, als er von die Wanderschaft kam. Plötzlich kriegt er das in die Brust – galoppierende Schwindsucht, sagte der Doktor –«

Sie hielt das Haupt gesenkt und holte schwer Atem; dann traten sie wortlos auf den Flur zurück.

Aber Holm, dessen Interesse nur noch stärker geweckt worden war, wünschte mehr zu sehen. Er fragte, welche Räume sie außerdem noch in dem kleinen sauberen Häuschen besäßen; er möchte gern auch die in Augenschein nehmen, wenn es gestattet sei. Die Frau nickte und schritt ihm voraus.

Hinter dem Laden, nach dem Hof hinaus, lag noch ein schmales, etwas dunkles Zimmer. In das traten sie zunächst. Es war sehr einfach eingerichtet, aber auch hier blitzte alles in Sauberkeit. Eine Treppe führte in einen großen Keller. Dort befand sich die Werkstätte und der Raum, in dem sie eigentlich wohnten.

Sie stiegen hinab und begrüßten den alten Grot, einen bleich aussehenden Mann mit einem weißen, rundgeschnittenen Vollbart. Handwerkstisch, Handwerkszeug und Arbeitsmaterial füllten die vordere Lichtseite aus. Er selbst saß, dem Kellerfenster zugewendet, an einer Art von Drechselbank, die mit allem Möglichen bedeckt war. An der anderen Wand standen, einen behaglichen Eindruck hervorrufend, ein Sopha, ein Eßtisch und Stühle. Hier aßen sie. Nebenan lag die Küche, von der man, emporsteigend, den Hof wieder erreichte.

Holm sah während des Gesprächs mit dem Alten, der viel Intelligenz an den Tag legte, hinaus und bemerkte einen stolz einherspazierenden Hahn, gackernde Hennen, eine eiserne Pumpe mit fließendem, klarhellem Wasser, und an der Wand des Nachbargrundstückes Epheu in dichter Ueppigkeit. Er meinte, es sei nicht gesund, so in der Tiefe zu wohnen, sie hätten doch oben Gemächer dazu.

»Ach, das ist Gewohnheitssache, lieber Herr. Die Arbeit giebt viel Schmutz, und das mag meine Frau nich. Grete wohnt oben.«

Er beantwortete alles auf einmal, schob, sich gemütlich gebend, den Daumen in den Kopf der kurzen Pfeife und griff, nachdem er sich die hängengebliebene Asche an der blauen Arbeitsschürze abgewischt, nach einem Schwefelzündholz. Ein scharfer, die Lungen reizender Geruch erfüllte den Raum. Auch über diesen altmodischen Gebrauch gab er auf eine Bemerkung Holms gleichmüthig zur Antwort:

»Ach das ist Gewohnheitssache, Herr Baumeister. Da weiß man nichts von – –« Aber er hustete doch, und der Husten klang hohl und krank.

Als Holm nach Verabschiedung von dem Alten mit Frau Grot wieder oben angelangt war, trat Grete, nach der er zu fragen, er wußte nicht warum, sich gescheut hatte, ins Zimmer. Sie schrak sichtlich zurück, als sie den ihr nur zu wohlbekannten Nachbar von drüben erblickte. Aber ein Gespräch entwickelte sich sogleich ohne Verlegenheit auf beiden Seiten, und während die Alte wortlos und nur ab und zu mit dem Kopfe nickend, dabei stand, fragte Holm dies und das, erwähnte, daß er Grete am Fenster sehe, sich stets über ihren großen Fleiß freue und sich nur darüber wundere, das sie tags über fast nie am Fenster sichtbar werde.

»Sie sind nur nicht da, Herr Baumeister, deshalb haben Sie mich nicht gesehen. Ich sitze meist oben mit meiner Handarbeit oder lese. Die Bücher hole ich mir aus der Leihbibliothek. Mutter erlaubt's mir.«

Ihre Stimme klang etwas heiser, und dann und wann ertönte ein Hüsteln, das Holm auch bei dem Vater aufgefallen war.

»So, so – dann wissen Sie sich gut zu verstecken. – Und auf der Straße sehe ich Sie auch niemals. Sie kommen wohl selten heraus?«

Grete schüttelte den Kopf.

»Und doch möchte ich so gern recht viel draußen sein,« erklärte sie. »Aber auf etwas freue ich mich. In vier Wochen haben wir Vogelschießen auf der Freiwiese. Dies Jahr will der Vater mit ausmarschieren. Nicht wahr, Mutter –?«

»Dja, er spricht wenigstens davon. – Einmal will er es noch mitmachen, sagt er, obgleich es nich mehr so is, wie früher.«

»Und Sie werden auch dabei sein, Frau Grot?« schob Holm ein. Und als sie zustimmte, fuhr er scherzend fort: »Dann setzen Sie wohl auch die wunderhübsche Haube auf, die im Staatszimmer steht?«

»Siehst Du Mutter!« fiel Grete, Holms lustigem Lächeln mit gleichem Humor begegnend, eifrig ein, »Der Herr Baumeister macht sich auch darüber lustig.«

»Fängst Du schon wieder an?« drohte die Alte gutmütig. »Wo soll ich sie denn hinsetzen?«

»Auf Ihren Kopf denke ich, Frau Grot! Sie sind ja noch eine zierlich schmucke Frau, daß nichts schön genug für Sie sein kann,« stieß Holm mit freundlicher Artigkeit heraus.

»Ja, ist's nicht wirklich wahr?« bestätigte Grete mit einem dankbaren Blick für Holm und küßte und liebkoste die sich nur schwach sträubende Alte zärtlich.

Sie waren, während der Wiederschein dieser neckischen Reden noch auf ihren Zügen lag, auf den helleren Flur hinausgetreten. Als hier Holm noch einmal des Schützenfests gedachte und die Hoffnung aussprach, die Frauen dort wiederzusehen, auch mit Grete ein paar Tänze zu tanzen, stimmte die Alte lebhaft zu. In Gretes Angesicht aber erschien ein ungläubiger Ausdruck; die Augen lachten. Jedoch die feinen Lippen dehnten sich spöttisch, als traue sie seinen Worten nicht. –

In der Folge sah Holm, wie früher, Grete Grot morgens mit ihrer zart durchsichtigen Gesichtsfarbe am Fenster droben erscheinen und stets mit gleicher fleißiger Emsigkeit sich rühren. Er fand auch, nach wie vor, wenn er beim Vorüberschreiten verstohlen in Frau Grots sorgsam gehütetes Staatszimmer guckte, die bedeckte Spitzenhaube mit den breiten gelbseidenen Bänden auf dem Sophatisch stehen. Alles blieb, wie es gewesen, desgleichen der halbscheue Blick, den Grete vom Fenster aus zu ihm hinübersandte. Zu einem offenen Gruß hatte sie sich nur einmal, am Morgen nach seinem Besuche, verstanden, obschon Holm immer sehnsüchtig danach ausschaute und häufig durch längeres Hinüberblicken sie dazu zu ermuntern suchte.

Er fragte sich, ob ihre Zurückhaltung Gleichgültigkeit oder, wie er hoffte, als mädchenhafte Befangenheit zu deuten sei. Jedenfalls wars eine Thatsache, und durch diese Zurückhaltung verschärfte sich sein Interesse für sie, ja, er konnte es nicht erwarten, daß das Vogelschießenfest herankam, damit er wieder ihre Stimme höre, mit ihr plaudern, gar sie in seine Arme nehmen und mit ihr im Tanze dahinfliegen könne.

Grade das Gemisch von feiner Würde und freimütiger Bescheidenheit zog ihn mächtig an, und wenn einmal nachdenklichere Stimmungen ihn ergriffen hatten, wars schon geschehen, daß er sich ausgemalt, Grete sei sein junges Weib geworden. Er hatte sie mitgenommen und sich irgendwo ein eigenes Heim gegründet. Da er vermögend war, konnte er jeden Augenblick heiraten, und an einem anderem Ort würde er nicht unter dem gesellschaftlichen Vorurteil leiden, daß sie einer kleinen Handwerkerfamilie entstammte.

Endlich kam das lange erwartete Fest heran, und schon am frühen Morgen, bei wolkenlos heiterem Himmel und strahlender Sonne, zogen die Tambours durch die Stadt und hielten vor jedem Hause, in dem ein Schützenbruder wohnte, und weckten ihn mit ihrem lauttönenden Wirbel.

Auch vor Grots kleinem Häuschen standen sie still und rasselten so laut auf ihren Trommeln, daß ein paar Nachbarhunde heftig zu heulen begannen.

Aber in der Wohnung rührte sich nichts. Alles war wie ausgestorben, und auch oben, hinter Gretchens Scheiben, schien alles wie ausgeräumt. Als Holm nach dem Frühstück nochmals wieder hinüberschaute, sah er sogar, daß früher nie von ihm bemerkte Vorhänge, auf die ein ländlicher Künstler ein vieltürmiges Kastel und einen Schloßgraben mit etlichen steifhalsigen Schwänen mit Hintenansetzung jeder Kunst gemalt hatte, an dem Fenstern des kleinen Staatszimmers herabgelassen waren.

Ohne sich Rechenschaft darüber geben zu können, ergriff ihn eine starke Unruhe. Ein unbestimmtes Gefühl sagte ihm, daß das nichts gutes zu bedeuten habe. Er zog die Klingel, und als seine Wirtschafterin erschien, erzählte sie, bevor er noch anzuheben vermochte, in großer Erregung, daß der alte Grot in verwichener Nacht an einem Lungenschlag gestorben sei.

Und während dann eine Stunde später die Schützenbrüder mit Hornmusik, Dreimaster, Degen und einem Vorreiter mit breitem roten Bandelier und wallender Fahne, durch die Stadt und später auf die vom Sonnenlicht umflutete Freiwiese zogen, die Schüsse knallten, und der Gott des ausgelassenen Frohsinns auf den Thron gehoben ward, saßen die beiden ihres Ernährers beraubten Frauen hinten im halbdunklen Keller und erstickten schier in Thränen.

Wo sonst die weiße Spitzenhaube mit den seidenen Bändern gestanden, da fand am folgenden Tage ein schwarzer Sarg seinen Platz, und die sanftfarbigen Rosen entblätterten sich, und statt des feinen Duftes, der ihren Kelchen entströmt war, erfüllte ein dumpfer Totengeruch Frau Grots Staatszimmer. – –

* * *

Wochen und abermals Wochen vergingen, ohne daß Holm Grete Grot zu sehen bekam. Kein Fenster öffnete sich. Selbst am Begräbnistage des fleißigen Alten war er ihrer nicht ansichtig geworden. Nur ein Mal hatte er noch ein Zeichen ihres lebendigen Daseins empfangen, als die Post ihm einige Tage nach der Beerdigung einen Brief gebracht hatte. In den Umschlag war eine kleine Karte geschoben, auf die sie ihren Namen geschrieben hatte. Auf der Rückseite aber standen die Worte: »sagt innigsten Dank für den herrlichen Kranz und Ihre gütige Teilnahme.«

Bisher hatte Holm sich nicht entschließen können, die beiden Frauen zu besuchen. Ein, meist feinfühlige Menschen beherrschendes Gefühl: aufdringlich zu erscheinen, hatte auch ihn veranlaßt, das Trauerhaus zu meiden.

Nun aber hielt's ihn nicht länger. Zu dem Drang nach Teilnahme gesellte sich eine nicht zu bezwingende Sehnsucht nach Grete. Die ganze Zeit über hatte er sie in einem schwarzen Kleide, die weichen Wangen blaß, die Augen rot verweint, im Geiste vor sich gesehen, und ein tiefes Mitleid, der Liebe stille Schwester, hatte sich mächtig in ihm geregt.

Wie beim ersten Male klopfte er, vor dem Laden stehend, an die Thür, ohne daß jemand erschien. Endlich kam die alte Frau, bleich, mit abgezehrten Wangen herbei.

»Ach Sie – Herr Baumeister –«. Jählings schossen ihr die Thränen über die Backen. Dann zog sie ihn in das Gemach nach dem Hofe, bat ihn, sich niederzulassen und erzählte von ihres Mannes Krankheit.

Er hörte still zu, und zuletzt fragte er nach Grete.

Da schüttelte sie erst den Kopf, dann erhob sie die Schürze und klagte verzehrend schluchzend: »Sie liegt auch schon seit acht Tage mit einen furchtbaren Husten nieder. Wenn ich sie man nich auch verlieren thu – –«

Ein Schauer rieselte dem jungen Manne durch die Brust, und einen Augenblick glaubte er, das Herz müsse ihm still stehen.

Nach einer Pause erhob er sich, strich mit der Hand über der Weinenden Schulter und suchte durch Trostworte ihr tief bedrücktes Gemüt aufzurichten.

»Ich weiß. Es steht in Gottes Hand!« stieß sie, die Thränen verschluckend, heraus. »Und ich thu ja, was ich kann. Wenn ich sie man nach oben kriegen könnte. Ich will's versuchen, – aber sie is so swach, daß sie sich nich aufrichten kann.« Von den Eindrücken überwältigt, erhob sich Holm zum Abschied. Noch bat er, Grete zu grüßen.

»Ach das wird sie sehr freuen, Herr Baumeister. Immer spricht sie davon, daß sie mit Herr Baumeister auf die Schützenwiese tanzen sollte –« Ein wehmütiges Lächeln glitt bei den Worten über der Alten Züge, und endlich schieden sie unter stummem Händedruck.

Am nächsten Tage sandte Holm Grete Blumen und später einen herrlichen Rosenstock. Täglich ließ er sich nach ihrem Befinden erkundigen. Aber was ihm als Antwort wurde, klang immer trauriger, und er selbst ward von Tag zu Tag bedrückter, so daß er Wochen lang für sich blieb, jeden Umgang mied, aber auch nicht mehr nach den wohlbekannten Fenstern hinüberschaute. Er konnte es nicht über sich gewinnen. –

* * *

Und wieder haben sie dann in Frau Grots Staatszimmer, das für Lebendige bestimmt war, in dem aber nun einmal nur Tote wohnen sollten, einen Sarg hineingetragen. Es war geschehen, obgleich die alte Frau jäh aufgeschrien hatte und nicht glauben wollte, daß es wahr sei.

Diesmal half Herbert Holm selbst den Sarg, der fast das Liebste barg, was er auf Erden besessen hatte, mit an die Gruft zu tragen. Was kümmerte ihn der Menschen Reden und Zischeln! Alles draußen ist nichtig, wenn der Schmerz um einen verlorenen teuren Menschen seine Wohnstätte in unserm Innern aufgeschlagen hat.

Es duldete ihn auch in Wisborg nicht ferner. Er bat um Versetzung und erhielt sie.

Und nun hat denn endlich die alte Frau ihrer Tochter Grete den Willen gethan. Im Staatszimmer schaukelt keine weiße Spitzenhaube mit gelben Bändern mehr auf dem Haubenstock. Frau Grot braucht keine mehr, auch ist ihr Haar so weiß geworden, daß die Farben nicht mehr zueinander passen würden. – – –

 


 


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