Hermann Heiberg
Aus allen Winkeln
Hermann Heiberg

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Versteckte Quellen.

Ein langes, stattliches Dorf! Große Bauernstellen. Dazwischen Wiesen, ein mit klarem, hellem Wasser vorüberrauschender Bach, ein grünes Gehölz, umarmend zahlreiche Gehöfte mit hohen Scheunen, dann die Kirche, umgeben von Buchen und Linden, auch ein Neubau mit roten Dachpfannen und einem Vorgarten, und zehn Schritt weiter ein unter verdunkelnden Ulmen liegendes, einstöckiges Häuschen mit blinden Fenstern ohne Gardinen, altem Gerümpel, aufgeschichtetem Kleinholz und einem trockenen Mistberg. aus dem das Unkraut wucherte. Und mitten im Dorf der Krug mit vorgebauter Scheunen-Einfahrt, hart daran ein stattliches Wohnhaus, und Pferde- und Kuhställe. Wohin das Auge blickte, Wohlhabenheit, Fülle und Gedeihen, Hähne krähten, Füllen wieherten, die Kühe brüllten von den Dorfwiesen herüber und eben – es war Abendzeit – kehrten die Hirtenjungen des Krügers Andersen mit den am Morgen herausgetriebenen Schafen wieder zurück.

Grade hielt der verstaubte, gelbangestrichene Postwagen vor dem Wirtshaus, und ihm entstiegen ein junger Mann und eine vornehm gekleidete junge Dame, die sich sogleich auf ein mit zwei ungeduldig scharrenden Schwarzen bespanntes Gefährt zuwandte und in demselben Augenblick auch von ihren Angehörigen, einem Herrn und zwei Damen, mit lebhaften Ausdrücken der Wiedersehensfreude begrüßt wurde.

Bevor aber die junge Dame in dem Wagen Platz nahm, wandte sie das Auge noch einmal auf das Wirtshaus; und als sie ihren Reisebegleiter, der mit dem Stallknecht wegen Fortschaffung seines Gepäcks verhandelte, noch dastehen sah, lenkte sie, die Ihrigen rasch verständigend, noch einmal zurück und sagte, ihm die schmale Hand entgegenstreckend:

»Verzeihen Sie, daß ich ohne Abschied von Ihnen ging, Herr Doktor. – Also nicht wahr, wir dürfen Sie bald auf Moorfelde erwarten? Meine Eltern werden sich sehr freuen, Sie kennen zu lernen.«

Der Angeredete, ein sorgfältig gekleideter, intelligent aussehender junger Mann mit kräftig ausgeprägten, äußerst sympathischen Gesichtszügen, begegnete den artig und warm gesprochenen Worten seiner bisherigen Gefährtin mit einem höflich verlegenen Ausdruck.

»Sie ehren mich außerordentlich, Komtesse! Ich bin Ihnen außerordentlich verbunden und werde Ihrer gütigen Erlaubnis sehr bald Folge leisten. Wenn ich nicht zu stören gefürchtet hätte, würde ich schon heute die Gelegenheit wahrgenommen haben, mich dem Herren Grafen und Ihrer Frau Mama vorzustellen.«

Aber das junge Mädchen schien nur halb mehr hinzuhören, neigte nur flüchtig noch einmal das Haupt und eilte mit dem Übereifer, der den meisten Menschen bei solcher Gelegenheit eigen, auf den Wagen zu.

Der alte Kutscher Heinrich legte die Hand auf den silberbetreßten Hut, hörte, wie der Schlag der offenen Kutsche zugeschlagen ward, und hatte nicht nötig, die beiden Schwarzen anzutreiben, da sie auf den ihnen bekannten Ton hin schon von selbst davon fortstürmten.

Wenige Sekunden noch, dann war das Gefährt unter den Staubwolken der Landstraße verschwunden, und auch der junge Doktor Harmsen, der dem Wagen eine Weile nachgeschaut, aber vergeblich gehofft hatte, daß ihm die junge Gräfin noch einen Abschiedsblick gönnen werde, machte sich zu dem Pfarrhaus, in dem seine Eltern wohnten, auf. Hinter ihm schritt pustend Friedrich, der Stallknecht, mit dem großen, schweren Koffer, und neben ihnen lief Kule, der Teckel, laut und vergnügt bellend. »God'n Tag« hieß es oft, während sie dahinschritten. Jeder kannte den Pastorensohn, und alle wußten, daß er seit Jahren sich auf der Universität befand, aber niemandem war es bekannt geworden, daß er inzwischen den Doktor gemacht hatte, und daß ihn seine Eltern um diese Zeit im Pastorenhaus erwarteten. Es war auch begreiflich, da Ernst Harmsen die Alten überraschen wollte, und deshalb seine Ankunft nicht gemeldet hatte.

»So Friech, sett man hier dahl up de Vördehl!« entschied der junge Mann, als sie vorsichtig, jedes Geräusch vermeidend, in das Pastorenhaus eintraten.

»Und hier en lütt Drinkgeld, Friech!«

»Dank ok, Herr Harmsen!«

Nun stand der Doktor allein in dem nach Rosen und Apfelstroh duftenden Flur.

Er schaute sich um. Alles war wie sonst, auch die alte, steife Wanduhr mit dem kräftig arbeitenden Uhrwerk pendelte wie in seinen Knabenjahren tik tak, tik tak, und dieselben schmal eingerahmten, von der Sonne seit Jahren verbleichten Lithographien, schwarze und bunte, hingen an den kalkweißen Wänden.

Nun ward die Thür zur Rechten geöffnet, und ein Hund aus dem Zimmer gelassen. Als er den Fremden erblickte, bellte er laut, fast wütend, dann aber sprang er, seinen jungen Herrn wiedererkennend, mit ausgelassener Freude an ihm empor.

»Na, Perle! – still! – Willst Du still sein!« – –»Wer ist da?« ließ sich eine Stimme, die Stimme des Pastors, vernehmen, und er selbst guckte mit mißtrauisch zusammengekniffenen Augen durch die Thürspalte auf den Flur. Aber auf der andern Seite, zur Linken, ward auch aufgemacht und das lebhafte, frische und kluge Gesicht einer Alten ward sichtbar.

»Ich bin's, Ernst Harmsen, Herr Pastor und Frau Pastorin,« rief der Mann, militärisch sich zusammenschiebend und die Hand an die Mütze legend. »Melde gehorsamst, daß ich den Doktor gemacht habe.« – Und dann ein jubelnder Schrei aus zwei Kehlen, und weil sich Perle doch auch äußern mußte, unruhiges, stürmisches Bellen dazu!

* * *

»Geh, wenn Du Lust hast, aber Du wirst sicher enttäuscht werden, Ernst!« hatte die alte Frau trotz Ihres Mannes eifriger Gegenrede gesagt, »die neuen Besitzer auf Moorfelde sind kühle und hochmütige Menschen, Komtesse Lucilia ist ein wenig besser, weil sie gern die Menschen zu ihren Dekorationszwecken benutzt, aber Herz hat sie auch nicht, nur der Verstand ist bei ihr ausgeprägt und der Sinn für Äußerlichkeiten. Immer geht sie mit dieser kaltverschlossenen Miene umher, und die kann nicht täuschen!« Die Worte gingen dem jungen Doktor durch den Sinn, während er in dem alten Pastoratsgarten auf- und abwanderte und zuletzt vor einem von weißen, wilden Rosen umzingelten Sandsteinepitaph stehen blieb, das zu einem Grabe gehörend, eigentlich in das angrenzende Revier des Kirchhofes gehörte, aber wer weiß, wie's gekommen, zur Hälfte in den Garten hineinragte.

»Hier ruht der wohledle Graf Adalbertus Kielmannsdorff-Moorfelde, geb. den« – die Buchstaben und Zahlen waren verwischt – »zu Gott gegangen den 4. Juli 1729.«

Vor einem Jahr war die alte Linie ausgestorben, und Moorfelde, eine der größten Herrschaften des Nordens, war auf einen bis dahin gänzlich verarmten Seitenstamm der Grafen Kielmannsdorff, welche der Verhältnisse halber sogar den Adel abgelegt hatten, übergegangen. Man sagte, die Mutter der beiden Töchter, die ältere Lucilia, Lux genannt, hätte, um zu leben, im Salzburgschen wo sie vor dem Erbschaftsantritt gewohnt, Musikunterricht erteilt. Alle Kielmannsdorffer waren ungewöhnlich musikalisch.

»Ich gehe doch und zwar noch heute,« murmelte der Doktor, pflückte, zerstreut sich herabbeugend, eine rote Nelke und sog den Duft ein.

»Sie ist schön, klug und – hat auch Herz; meine Mutter mag sagen, was sie will. Ein Geschöpf, das sich für Musik zu begeistern vermag, kann nicht ohne Gemüt sein. Und was ist's denn weiter? Sind sie liebenswürdig, komm' ich wieder, sind sie's nicht, dann Adieu – schöne schlanke Lux. Es giebt noch andere Nelken, die im Sonnenschein duften. Sieh!« Und der Mann warf die eben gepflückt Blume auf das Sandsteinepitaph und riß eine andere aus dem vollen roten Büschel der heiß in der Sonne brennenden Pflanze. – Und dann war es Abend, kurz vor dem Nachtessen im Pfarrhause, und wieder wanderte der Doktor in dem nun von der Sonne verlassenen, stillen Gärtchen auf und ab und flüsterte, während das Naß in seine Augen trat: »Die erste furchtbare Enttäuschung meines Lebens. Und doch – und doch liebe ich Dich – Lux – süße kleine Lux. –«

In diesem Augenblick erscholl eine Stimme: »Ernst, komm, das Abendessen ist bereit!« und der Doktor folgte dem Ruf und nahm unter einer an das Speisegemach stoßenden, von wildem Wein und Schlinggewächsen umrankten Veranda Platz. Da es Sonnabend war, entfernte sich der Pastor nach Beendigung der Mahlzeit noch eine Weile wegen des Kanzel-Vortrages, die Frau aber sagte:

»Nun erzähle, Ernst. Wie wars bei Kielmannsdorff's? Haben sie Dich artig aufgenommen?«

Der junge Mann zog die Schultern. »Sie hatten Besuch, aber die Tafel war bereits aufgehoben, und ich sah, daß sie im Park auf- und abwandelten. Dennoch ließ die Gräfin heraussagen, sie ließen sich entschuldigen, sie seien bei Tisch, und ich ging unverrichteter Sache wieder davon. Aber das war nicht einmal das Schlimmste.

Als ich hinten an der Parkpforte vorüberging, um auf die Landstraße zu biegen, ward sie geöffnet, und Komtesse Lux trat mit einer jungen Dame heraus. Ich grüßte trotz des Affronts höflich, sie aber bewegte höflich gelassen den Kopf und zeigte nicht die geringste Verlegenheit über die Lüge, mit der mich der Diener abgespeist hatte.

»Also alles, wie ich Dir vorhersagte, mein Sohn. Warum folgtest Du meinem Rat nicht? Dann hättest Du Dir den Ärger erspart und Dir wenigstens die angenehmen Eindrücke von dem Fräulein bewahrt!« stieß die alte Frau Pastorin in starker Auflehnung heraus.

Aber kaum hatte die Frau geendet, als die Magd einen Brief überreichte. »Von Moorfelde! Der alte Schäfer hat ihn gebracht für den Herrn Doktor.«

Der junge Mann öffnete das Kouvert hastig. Auf einer Karte stand »Lucilia, Comtesse von Kielmannsdorff« und darunter:

»Das heute Geschehene kann nur mündlich aufgeklärt werden. Wollen Sie morgen während der Kirche mich am Parkthor erwarten? Es bittet darum

Lucilia v. K.«

»Nun was ist's?« forschte die lebhafte Frau Pastorin.

Aber Ernst Cornelius wich aus, und am nächsten Tage, während sich alle in der Kirche befanden und der eifrigen Rede des Alten zuhörten, stand er im heißen Sonnenschein und wartete auf Lux. Und er wartete geduldig bis das Geräusch der von der Kirche abfahrenden, in die Nachbardörfer zurückkehrenden Bauernwagen an sein Ohr schlug. Und da auch Kielmannsdorffs jeden Augenblick vorüber kommen mußten, verbarg er sich – durch vergebliches Harren nicht wenig erregt – hinter einem Walle und spähte, als das Gefährt wirklich bald darauf nahte, mit funkelnden Augen, ob sich Lux in demselben befinde.

Ja, sie saß darin, und sobald sie am Parkthor vorüberfuhren, gingen ihre Blicke unruhig hin und her. –

Dem Doktor fiel eine Last von der Brust, weil er hoffte, daß sie entschuldbar sei.

* * *

Als der nächste Vormittag keinen Brief und keine Aufklärung von Lux brachte, überfiel Ernst Harmsen eine schier nicht zu bändigende Unruhe und um die Qualen der Enttäuschung und des Ingrimms zu besänftigen, griff er nach dem Kirchenschlüssel, begab sich in die Kirche und stieg die Stufen zur Orgel hinauf.

Schon als Knabe hatte er hier oben gesessen und gespielt, denn er war so musikliebend und talentvoll, daß er ursprünglich hatte Musiker werden wollen. Nun wies er den mitgenommenen Küsterjungen an, die Bälge zu treten, und dann rauschten die Klänge durch die Kirche.

Es klang wie Sturm und Gewitter, wie Zorn und Verhängnis, und dann drangen sanfte Klagelieder durch den Raum und schwollen erst allmählich wieder zu einem wilden Durcheinander empor.

Wohl eine Stunde spielte der Mann, dann stieg er langsam die Stufen hinab, um nach Hause zurückzukehren. Aber als er den Treppenabsatz erreicht hatte, staunte er nicht wenig, als er eine weibliche Gestalt auf der letzten Stufe sitzen sah und bei näherem Zuschauen – Lucilia erkannte.

Rasch eilte er hinab, und trat auf sie zu. »Ich kam selbst,« begann das Mädchen mit unnatürlich ruhiger Miene, »um Ihnen meine doppelte Entschuldigung auszusprechen. Gestern wünschten meine Eltern, daß ich mit in die Kirche führe, es geschah erst im letzten Augenblick, und ich hatte keine Zeit mehr, Sie zu benachrichtigen. Und dann Ihr Besuch! Meine Mutter hatte Ihren Namen nicht verstanden, ich wußte von Ihrer Ankunft nichts, und als Sie vorüberschritten, glaubte ich, Sie wären auf einem Spaziergange. Ich hoffe, daß Sie die unangenehmen Eindrücke überwinden und uns bald abermals besuchen.«

Aber Harmsen war plötzlich wie umgewandelt. Der kalte, geschäftsmäßige Ton, in dem Lucilia sprach, ernüchterte ihn nicht nur, sondern machte sein Blut heiß. Auch drängten sich dem Manne Entgegnungen auf, die ihm, wenigstens jetzt in seinem Zorn, angemessen zu sein erschienen. Sie hätte leicht einen Grund finden können, von der Kirche fortzubleiben. Sie mußte ihn finden, denn es war empörend, ihn zwei Stunden lang in dem glühenden Sonnenbrand stehen und dann während dieses und des folgenden Tages nichts von sich hören zu lassen. Und was sie ihm von den Anfälligkeiten bei seinem Besuche erzählte, glaubte er nicht. Der Gedanke, diesem mehr als rücksichtslosen, hochmütigen Volk mit ebenso hochmütiger Abwehr zu begegnen, beherrschte ihn allein.

Infolge dessen sagte er, mit ihr den Weg durch den einsamen Kirchenraum nehmend:

»Ich hatte die ganze Angelegenheit bereits vergessen, mein Fräulein, und da ich überdies darauf verzichte, mich Ihnen und den Ihrigen in irgend einer Weise wieder zu nähern, ist das, was Sie die Güte haben, mir zu sagen, gleichgültiger Natur. Immerhin bin ich Ihnen jedoch für Ihre Mühe verbunden.«

Schon während der Mann sprach, hatten sich die Züge in Lucilias Angesicht unheimlich verändert, und als er nun geendet, wich jeder Blutstropfen aus ihrem Gesicht. Das Mädchen besaß keine sympathisch wirkende, aber eine imposante Schönheit. Wo die Linien weniger zart auftraten, zeigte sich eine sinnereizende Fülle, die durch Schnitt und Farbenwahl des Gewandes noch mehr gehoben ward.

Ein helles, seidenes Kleid mit sanften Blumen umschloß ihren Körper; dunkles, kastanienbraunes Haar stach entzückend ab gegen den zarten Anhauch ihrer Wangen, das Schneeweiß ihrer Zähne und das Elfenbein ihrer Hände.

»Ich fand Sie bei unserem Zusammensein während unserer langen Reise offenherzig, gerade und sehr liebenswürdig, Herr Doktor. Das erweckte mein Interesse, wenn ich es auch anders äußern mag, als andere. Ich sehe aber, daß Sie unhöflich sein können – unhöflich zudem gegen eine Dame, die – alle Vorurteile abstreifend – Sie sogar aufsuchte! So haben wir denn beide gewonnen, wenn wir uns nicht wieder sehen. – Nein, bitte mein Herr, ich habe nichts mehr zu hören! Adieu.« –

Im Nu war sie aus der Kirche verschwunden. Der Doktor aber fiel nieder in einen der Kirchenstühle, ließ den Kopf auf den Rand eines der hochlehnigen Vordersitze fallen und stöhnte. Und er blieb so fast regungslos sitzen, bis des Knaben schüchterne Worte sein Ohr trafen:

»Kann ick to Middag eten gahn, Herr Doktor Harmsen?«

Da schrak er empor, winkte dem Buben, zu gehen und schritt langsam den sonnenbeschienenen Pfad durch's Dorf in's Pastorat zurück.

* * *

Wo etwas unerreichbar, wächst der Wert des Ersehnten für den Menschen in's Ungemessene.

Ernst Harmsen, der Scheu trug, sich den Seinigen anzuvertrauen und sich deshalb durch Aussprechen nicht erleichtern konnte, ging acht Tage von Liebesqual und Sehnsucht verzehrt, wie ein Kranker umher. – Einigemale hatte er ein Schreiben an Lucilia aufgesetzt und in diesem alles zu erklären versucht. Aber wenn er es vor dem Absenden noch einmal wieder durchlas, zerriß er wieder, was er geschrieben, und ergab sich von neuem einem grübelnden Schmerz.

Alle Vernunftseinwendungen seines besonnenen Ichs, diejenigen, welche ihm vorhielten, daß nutzloses Klagen und unthätiges Verzweifeln nur Sache der Schwächlinge sei, daß es noch andere und für ihn sehr nützliche Dinge gab, als die Zeit mit einer aussichtslosen Liebelei auszufüllen, verfingen nicht.

Am Spätabend, nach dem Nachttisch, wanderte er, vorschützend, daß er noch einen Spaziergang in's Dorf machen wolle, nach Moordorf hinaus. Es trieb ihn, wenn er Lucilia auch nicht sehen werde, in ihre Nähe. Dort angekommen, schlich er sich – die Dunkelheit und die dichten Büsche begünstigten ihn – in den Park bis an das Gartenzimmer, wo er die Familie hinter den Fenstern zu bemerken glaubte. Als er eben die Veranda erreicht und sich hinter einem Jasminboskett versteckt hatte, ward die Thür aufgerissen. Fast zu gleicher Zeit wurde auf dem Piano präludiert und eine Stimme erscholl:

Blast nur ihr Stürme, blast mit Macht,
Mir soll darob nicht bangen,
Auf leisen Sohlen über Nacht
Kommt doch der Lenz gegangen.

Da wacht die Erde grünend auf,
Weiß nicht, wie ihr geschehen,
Und lacht in den sonnigen Himmel hinaus,
Und möchte vor Lust vergehen.

Drum still! Und wie es frieren mag, –
O Herz, gib dich zufrieden;
Es ist ein großer Maientag
Der ganzen Welt beschieden.

Harmsen lauschte. Sicher war es Lucilia's Stimme, und was immer beim Gesang das Innere eines Menschen zu rühren vermag, quoll in ihm auf.

Stürmend, das Herz aufrührend, waren die Töne. Nur ein Menschenkind, das empfand, was ihm aus der Kehle drang, vermochte so hinreißend zu singen. Und die ungeheure Wirkung, die dieses Lied auf den Mann ausübte, schuf auch einen Gedanken, und ihn in's Werk zu setzen, verließ ihn nicht mehr.

Noch einen versteckten Blick warf er in das erhellte Gemach, dann schlich er sich aus dem Park und wanderte von dem eben aufgekommenen Mondlicht begleitet, zurück. –

Am kommenden Vormittag drängten sich mehr Menschen als sonst in die Kirche, und auch Kielmannsdorffs waren gekommen und saßen dem Chor zugewendet in den von den übrigen Plätzen abgesonderten Gutsherrschaftsstühlen. Zuerst sollte die Gemeinde zwei Verse aus dem Gesangbuch singen. Der Küster aber, der eine schöne Stimme besaß, pflegte, bevor die Kirchgänger einsetzten, den ersten Vers allein vorzutragen. Und das erwartete man auch heute. Nachdem das letzte Geräusch der klappernden Kirchenstühle erstorben, setzte die Orgel ein und brauste durch den Raum. Aber es war nicht die Einleitung zu dem Kirchengesang, es war eine andere gewaltige Melodie.

Als ob ein wühlender Schmerz nach einem Ausweg ringe, so drang's herab von der Orgel. Die Töne schienen in ihrer Gewalt den Bau einreißen, alles ringsum vernichten zu wollen, und während die Gemeinde in gemischten Grausen und Entzücken lauschte, erscholl eine wehmütige, herzergreifende Männerstimme.

Ich schreie auf in meiner Not!
O Herr, erhör' mein Flehen!
Die Menschenseele kann nicht mehr,
Sie will vor Gram vergehen!
Du senktest doch in unsre Brust
Des Herzens heiß Verlangen.
So gieb auch Nahrung meiner Seel',
Die ächzt und stöhnt in Bangen.
Erweiche endlich Menschenherz,
Schließ' auf versteckte Quellen.
Das dunkle Ich, Du wolltest es,
Mit Deinem Glanz erhellen!
Wo Vorurteil und Mißverstehn
Verbrennen uns're Seelen,
Da mögest Du, barmherziger Gott,
Sie rasch zum Guten stählen! –

Nachdem aber der Gesang beendigt, spielte die Orgel in kraftvoller Weise die Begleitung zum Wortlaut der Gesangsbuchverse, und die Gemeinde, noch unter dem Eindruck des Gewaltigen, das sie gehört, fiel ein, und herrlicher denn je erklangen auch die reinen Stimmen der Schulkinder, der Knaben und Mädchen vom Chor. Eine aber sang drunten nicht mit, sie vermochte es nicht, ihr war's, als ob ihre Seele blute; heiß und fiebernd ging's durch ihr Inneres, und in diesem Augenblick wards ihr offenbar, wie sehr sie den Mann liebte. Schon als sie das erste Mal in der Kirche seinem Spiel zugehört, war etwas in ihr emporgestiegen, das ihr Herz schier umgekehrt hatte.

Nach dem Zerwürfnis war's schon Lucilia gewesen, als ruhe eine nicht abzuschüttelnde Last auf ihr. Beklommenen Gemüts und unzufrieden mit sich selbst, immer gegen ihren Willen die Gedanken sehnsuchtsvoll auf ihn gerichtet, war sie umhergegangen und hatte sich doch gesagt, daß nach solcher Begegnung ein Ausgleich niemals mehr möglich sein werde.

Und er liebte sie nicht, sonst würde er als Mann, wohl einen Weg gefunden haben, sich ihr wieder zu nähern. –

»Was hast Du da angefangen? Und wie kamst Du auf den Gedanken, zu spielen und zu singen, Ernst?« fragte nach der Kirche der Pastor und forschte etwas unwirsch in seines Sohnes Mienen. »Mich dünkt, Du bist ernst, verstimmt und wortkarg seit Tagen. Was bewegt Dich, mein Sohn? Hast Du Kummer? Vertraue Dich mir an!« Auch die lebhafte Frau sprach auf ihren Sohn ein und berichtete überdies, daß die Herrschaften, die sie genau beobachtet, Spiel und Gesang keineswegs befremdet, oder übel aufgenommen. Auch der Küster habe berichtet, daß sie sich sehr lobend ausgesprochen hätten. Der Doktor sei ein Künstler, Spiel und Gesang seien so schön gewesen, daß sie vor dem gewähltesten Auditorium hätten bestehen können.

In des jungen Mannes Augen leuchtete es auf. So hatte er denn seinen Zweck erreicht, er hatte jene drüben bezwungen durch die Kraft der Kunst, welche eine Sprache redet, die alle Laute dieser Erde umfaßt. Aber er verriet den Seinigen nichts, war heiter und froh während des ganzen Tages und hoffte wieder und vertraute der Zukunft. –

Der nächste Tag war wundervoll; zwar brannte die Sonne heiß, aber ohne lästige Schwüle. Im Pastorengarten duftete es balsamisch, das Licht reizte die zarten Nerven der Blumen und Gräser, Reseden und Nelken verbreiteten ihre sanften Wohlgerüche.

Eine Stunde vor Tisch wanderte der Doktor in langsamem Schritt die bald sonnigen, bald schattigen Wege auf und ab. In seiner Brust war's still geworden, denn selbst das unruhige Sehnsuchtsgefühl der vergangenen Tage hatte sich in ein hoffendes Glücksempfinden verwandelt, und unwillkürlich flüsterten seine Lippen, während er dahinschritt, das Wort: »Lucilia.«

Nun erreichte er das Grabepitaph mit den es umrankenden wilden Rosen, und er sah auf ein Epheu, welches das verwitterte Gebilde gleichsam zärtlich umfing. Er bückte sich wie jüngst, riß ein Blatt ab, und während es geschah, erinnerte er sich, daß er am ersten Tage eine Nelke darauf niedergelegt und richtete sein Auge dahin. Aber erschrocken fuhr er zurück, denn über den Rand des Epitaphs gelehnt, stand Lucilia, und ihre Augen rissen ihn gleichsam an sich.

»Sie –? Komtesse –?« entrang's sich dem Munde des Mannes.

Aber in demselben Augenblicke stürzte er auch dem berückenden Bilde entgegen. Ihre Augen brannten liebetrunken und dehnten sich verlangend nach ihm aus. Stumme Liebe! Ein namenlos süßes, inhaltreiches Wort! Und stürmisch zog er sie an sich und küßte sie, und sie ihn mit gleicher Leidenschaft, und erst nach langen Sekunden flüsterte ihr Mund:

»Nun kam ich abermals, und nun, nun stoß' mich nicht wieder von Dir.«

Eben regte sich ein frischer Wind und bewegte die Gipfel der Bäume. Ein Rauschen ging durch die Natur, als habe sie gehört, als nehme sie Teil an dem Seligkeitsjubel, der die Brust beider durchströmte, und eben drangen auch – der Küster übte in der Kirche – schwellende Orgeltöne, – jene, die ihre Herzen erschlossen, – durch die heiße Luft zu ihnen hinüber.

 


 


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