Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

15. Kapitel.

Der alte Diamantenhändler Grady hatte seinen Laden auf dem Broadway aufgegeben. Sein altes Leben war zu Ende und für ein neues schien jeder Inhalt zu fehlen. Innere Hilfsquellen besaß er nicht, mit seinen früheren Freunden und Gefährten hatte er gebrochen, und sich neue zu erwerben, verspürte er keine Lust. So saß er denn viele Stunden, allein vor sich hinbrütend, in seinem kleinen Hinterzimmer in der Sechsten Avenue. Zuweilen schweiften seine Augen unstät umher und blieben dann wieder starr und unbeweglich auf dem oder jenem Gegenstand haften, obgleich seine Umgebung wenig mehr bot, als kahle Wände und die dürftigen Möbel, mit denen der Raum ausgestattet war. Auf solchen Zustand der Abspannung folgte dann von Zeit zu Zeit eine nervöse Aufregung höchst unnatürlicher Art: unterdrückte Wut schien dann in seinem Innern zu toben, seine Augen funkelten unheimlich, und er netzte sich unaufhörlich die trockenen Lippen. Dann kam ihm niemand gern in den Weg, ja es war gefährlich, ihn anzureden wegen der plötzlichen Zornausbrüche, in die er zuweilen ohne jegliche Ursache verfiel. Diese Anfälle waren jedoch meist von kurzer Dauer, bald saß er wieder in dem früheren Zustand untätigen Grübelns teilnahmlos da und starrte ins Leere.

Es fehlte damals nicht an Gerüchten über verborgene Seiten und heimliche Vorgänge in seinem Leben; allein der eigentliche Sachverhalt war nicht zu ergründen, das Geheimnis blieb in Dunkel gehüllt. Außer Grady selbst schien niemand dabei beteiligt zu sein; einen Freund, dem er sich anvertraut hätte, besaß er nicht, und aus bloßer Neugier seinen Angelegenheiten nachzuspüren, war durchaus nicht rätlich. So brütete denn Grady allein und unaufhörlich über einem und demselben Gedanken. Ein geistig ungesunder Zustand – aber bei ihm keineswegs ein Symptom von Geisteskrankheit!

Endlich kam er zu einem letzten Entschluß. Am Freitag blieben die Fensterläden seines Comptoirs ungeöffnet, und über der Tür stand auf einem Zettel: »Bis Montag geschlossen!« Er verließ jedoch die Stadt nicht, sondern begann in seiner Behausung eine Menge Wertsachen einzupacken, Gold, Juwelen, den größten Teil seines Vermögens. Alles deutete darauf hin, daß er eine Reise anzutreten gedenke, wahrscheinlich hatte er vor, New-York auf immer zu verlassen. Aber vorher galt es noch, ein Geschäft abzumachen, das ihm am Herzen lag.

Um neun Uhr abends trat er aus seinem Hause und schlug die Richtung nach dem Staatsbahnhof in der 33. Straße ein. Er war noch nicht weit gegangen, als eine hohe, weibliche Gestalt an ihm vorüberglitt und dann quer über den Fußsteg nach der Häuserseite zueilte. Als Grady dies sah, wandte er sich um und folgte ihr, bis sie nicht weit von seiner Wohnung langsamer ging und zuletzt stillstand.

Hör' einmal, John, begann die Frau, als die Tür hinter ihnen ins Schloß fiel, die Sache wird mir denn doch zu gefährlich!

Sie hatte drinnen den schwarzen Shawl abgeworfen, der sie dicht umhüllte, und stand jetzt vor ihm – so schön wie je! Grady sah dies wohl, aber in ihrem Gesichtsausdruck vermißte er etwas – er kam ihm verändert vor.

Damit hat's jetzt gute Wege, gab er zur Antwort. Dies Versteckspiel hat die längste Zeit gedauert; ich habe mein Bündel geschnürt, und morgen geht's fort von New-York.

Morgen? Und wohin?

Das wirst du bald erfahren, denn du kommst mit!

Sie setzte sich und sah ihn forschend an; er vermied es zwar, ihrem Blick zu begegnen, aber sie kannte ihn und wußte, welche Stimmung ihn beherrschte.

Laß mich wissen, was du vorhast, sagte sie nach einer Weile, ist etwas Neues geschehen?

Nichts, als daß ich fort von hier und dich mitnehmen will! Seit Byrnes unsern Washingtoner Plan zu nichte gemacht hat, fühle ich mich keinen Augenblick sicher und wittere Gefahr, so oft du herkommst. Ich habe auch noch einen andern Grund: du hast mich nun lange hingehalten, ich will nicht mehr warten und die Minuten zählen, die du mir schenken kannst. Du mußt ganz mein werden, sonst hältst du mich schließlich zum Narren – vielleicht tust du's schon jetzt.

Du lieber alter Kerl, sagte sie und lehnte sich vertraulich lächelnd an ihn, ich gehe mit dir durch dick und dünn.

Diese Worte und ihre Blicke verscheuchten seinen Unmut und entfachten das Feuer seiner Leidenschaft von neuem. Sie entzog sich seinen Liebkosungen nicht, und es beglückte ihn, sie so willfährig zu finden.

Willst du mir denn nicht sagen, wo wir zusammen hinwollen? fragte sie endlich.

So kommst du mit?

Denkst du, ich werde hier bleiben ohne dich? Oh John, wie töricht bist du doch – ich glaubte, Bösewichter wären nie solche Narren.

Gradys Wonne kannte keine Grenzen. Das ging über Erwarten gut! Er sagte fest und entschlossen: Morgen gehen wir an Bord des Dampfers, der nach Brasilien fährt. Das ist das Land, wo die Diamanten herkommen; es lebt sich da angenehm, wie mir Leute erzählt haben, die dort waren und Bescheid wissen.

Und was sollen wir da anfangen? Rauben und morden, fälschen und betrügen? rief sie und blickte ihm lachend ins Gesicht. Ob du wohl einen Menschen umbringen könntest, John, das möchte ich einmal sehen!

Wir haben das gar nicht nötig, Liebchen, entgegnete er mit unsicherem Ton. Es muß jetzt alles anders werden – laß mich dir kurz und bündig sagen, wie's mit mir steht: Müßte ich dich verlieren – ich könnte zum Teufel werden, der bloße Gedanke macht mich rasend. Bist du aber erst mein, ganz und für immer, so ist's auch mit meiner Lust an krummen Schlichen und Wegen vorbei – ich wäre imstande, ein rechtschaffenes Leben zu führen, so gut wie irgend einer.

Ein rechtschaffenes Leben – du, John! rief sie, ihn schlau von der Seite anblickend.

Warum nicht? Wenn wir beide Geld haben, die Hülle und Fülle, um miteinander alle Freuden genießen zu können, wozu sollten wir uns die Hände beschmutzen mit unredlichem Erwerb? Für dich paßt das schon gar nicht und auch für mich nicht mehr, wenn wir zwei erst eines sind. Das liegt ja klar am Tage!

Aber John, gab sie langsam zurück, verstehst du denn nicht, daß, wenn mir's um ein philiströs ehrbares Leben zu tun wäre, ich das hier haben könnte. Mein Mann ist brav und gut – aber langweilig zum Sterben; so ein verschlagener, alter Schurke wie du ist gerade nach meinem Sinn. Zeig' mir deine Hand, sieh' her – nur wenn du die Finger krumm machst, kann ich fest hineingreifen. Ich wüßte nichts Abgeschmackteres unter der Sonne, als wenn wir zwei nach Brasilien gingen, um dort ein ehrbares und geruhiges Leben zu führen.

Grady sah sie verblüfft an; er verstand nicht, ob ihre Reden Scherz oder Ernst bedeuten sollten. Ueber seine eigenen Gefühle war er sich vollkommen klar, wenn er sie auch nicht deutlich auszudrücken wußte. Aus seiner bloß sinnlichen Begierde hatte sich allmählich ein besseres und reineres Gefühl entwickelt, als er je gekannt. Es hatte ihn über sich selbst erhoben, während sie im Gegenteil in dem Verhältnis für alle ihre bösen Triebe stets neue Nahrung fand und nur tiefer in ihr sittliches Verderben verstrickt wurde. Wie weit sie auf ihren entgegengesetzten Wegen auseinandergekommen waren, ahnte Grady nicht, und dem Weibe ging vielleicht erst in diesem Augenblicke ein Licht darüber auf.

Der größte Reiz des Verhältnisses hatte für sie in der Heimlichkeit gelegen. Schon seit einiger Zeit begann sie desselben überdrüssig zu werden, und seine fesselnde Kraft schwand mehr und mehr, seit sie wußte, daß der Polizeiinspektor alles ausgespürt und sie längst durchschaut hatte. Nur wenn Grady verstand, sie von neuem anzuregen und zu entflammen, konnte er seine Macht über sie zurückerobern. Um der Neuheit des Versuchs willen wäre sie ihm vielleicht sogar nach Brasilien gefolgt, hätte er ihr das Wagnis in verlockenden Bildern vorzustellen gewußt. Statt dessen führte er Reden von Aenderung und Besserung im Munde – das stieß dem Faß den Boden aus. Er konnte kein wirksameres Mittel wählen, um selbst das Grab für alle seine Hoffnungen zu graben.

Wenn wir nur beisammenbleiben, sagte Grady, so ist mir alles recht, wie's kommt.

In ihr war inzwischen der Entschluß gereift, nichts weiter mit ihm zu schaffen zu haben, sich gänzlich von ihm loszusagen.

Du lässest mir wenig Zeit zur Vorbereitung, Schatz, versetzte sie.

Was braucht's da großer Vorbereitung? Du nimmst einfach mit, was du von mir bekommen hast, alles übrige bleibt zurück. Allein von dem Erlös deiner Diamanten kannst du jahrzehntelang leben, noch dazu in Saus und Braus. Ich nehme nur die Schatulle hier, dann sind wir beide reisefertig.

Von dem, was du mir nach Washington mitgegeben hast, ist noch viel übrig. Bis morgen früh kann ich alles beisammen haben. Ich bin dir teuer zu stehen gekommen, John, nicht wahr?

Laß es gut sein, entgegnete er, bis jetzt habe ich Geld ausgeliehen, nun will ich die Zinsen genießen. Du hast lange genug deinen Willen gehabt, jetzt kommt die Reihe an mich. Aber ich will auch meiner Sache ganz und gar sicher sein zum Lohn für meine übermenschliche Geduld! Sind wir erst drüben in Brasilien, so wirst du meine Frau, und der erste Pfarrer, der uns in den Weg kommt, soll uns zusammengeben, aller Welt zum Trotz.

Das anziehende Bild, das er vor ihr entrollte, kam ihr entsetzlich vor. Sie – seine Frau, in täglichem Zusammenleben mit ihm, jahraus, jahrein, – unmöglich! In diesem Augenblick der Ueberlegung und furchtbaren Klarheit erschien ihr ihr anderes, – ihr lasterhaftes, teuflisches Selbst – ein vollständiges Rätsel: die verruchte Leidenschaft ihres Wesens erschien ihr sinnlos – unbegreiflich. Wie war es möglich, daß sie, die feine, gebildete Frau, sich in die Gewalt dieses Ungetüms begeben, ihm geschmeichelt und ihm schön getan hatte, in ihm die Hoffnung genährt, sie einst zu besitzen? Da mußten wirklich höllische Mächte ihr Spiel getrieben haben, ihren Geist, ihre Sinne zu umnebeln, sie zu so wahnsinnigem Tun zu verführen! –

Oftmals schon war ihr Widerwille gegen ihn übermächtig geworden, aber solchen Haß und Abscheu wie heute, hatte sie ihm gegenüber noch nie empfunden. Jetzt war die Krisis eingetreten – es mußte ein Ende gemacht werden. Nie wieder durfte sie unter seine Herrschaft kommen! Für heute war ihr gelungen, seinen Argwohn einzuschläfern, aber er durfte nie wieder erwachen – er mußte für immer verstummen, und mit ihm der Mann selbst – das war die einzige Rettung.

Während sie sich im stillen mit diesem Gedanken vertraut machte, glühten ihre Wangen, und ihre Augen funkelten. Der geheime Entschluß belebte ihr ganzes Wesen. Sie fühlte sich als Herrin seines Geschicks. Er träumte von Brasilien, und sie sah im Geist den, welcher jetzt noch lebendig und ahnungslos vor ihr stand, als kalten Leichnam am Boden liegen!

Sie war auf jede Möglichkeit vorbereitet: mit der Hand fühlte sie nach dem kleinen, glatten Gegenstand in ihrer Tasche, dessen Inhalt eine noch tödlichere Kraft besaß als Dolch oder Schußwaffe. Wie leicht wäre die Tat vollbracht. Aber war sie auch vor jeder Entdeckung sicher? Kühlen Blutes überlegte sie, ob Gefahr für sie zu fürchten sei? – Nein, niemand wußte um ihren nächtlichen Besuch, die Todesursache würde unbekannt bleiben. Wenn dennoch ein Verdacht auf sie fiel, – und sie wußte ja, daß ein Mann lebte, dessen Wachsamkeit sich nicht täuschen ließ – so konnte der Verdacht doch niemals zur Gewißheit werden. Selbst er würde machtlos sein, sie zur Rechenschaft zu ziehen.

Während sie dies alles in ihrem Innern erwog, führte sie äußerlich die Unterhaltung mit Grady weiter fort, besprach mit ihm die Zukunft und ging auf alle seine Pläne ein, so daß er sich bald in der rosigsten Stimmung befand.

Wann sollte sie mit der Ausführung ihres Vorhabens beginnen? Die Uhr auf dem Kaminsims tickte laut. Es fehlten noch sieben Minuten bis elf. Sie wollte auf den Stundenschlag warten. Nun der Gedanke zur Wirklichkeit werden sollte, erbebte sie doch innerlich. Bleich lehnte sie sich in den Stuhl zurück – die Stunde war da. Sie atmete tief auf und warf einen Blick auf Grady.

Was fehlt dir Liebchen? fragte er, mit süßlichem Ton, du bist ja so blaß.

Mich friert, entgegnete sie und zog den Shawl fester um sich, hast du keinen Wein? –

Freilich, rief er vergnügt, eine Flasche Xeres steht im Schrank; das kommt nicht alle Tage vor, ich bin sonst kein Freund von dergleichen, aber heute wollen wir einander zutrinken.

Er holte die Flasche, und da er keinen Korkzieher fand, versuchte er den Pfropfen mit dem Taschenmesser herauszuziehen. Dieser Aufenthalt war ihr peinlich; er verlängert sein Leben, dachte sie. Dann überlief es sie plötzlich heiß: wenn sie unterbrochen wurden, wenn eine Störung eintrat, war alles verloren. War er morgen noch am Leben, und sie hielt ihre Verabredung nicht, ihn auf dem Landungsplatz des Dampfers zu treffen, so kam es zu offenem Krieg zwischen ihnen, und er verkündete aller Welt, was das Dunkel der Nacht für immer begraben sollte!

Gib mir das Messer, sagte sie ungeduldig und aufgeregt, ich weiß, wie man's macht.

Das Messer bei der Klinge fassend, schlug sie mit dem Heft auf den Hals der Flasche, bis beim dritten Schlag der obere Teil mit dem Kork absprang und einige Tropfen der Flüssigkeit auf den Boden spritzten. Sie sah sich nach einem Weinglas um.

Ich besitze keine Weingläser. Soll ich welche drüben aus der Schenke entlehnen? Ich bin im Augenblick wieder zurück.

Sie hatte nicht übel Lust einzuwilligen, aber die Gefahr war zu groß. Hast du denn nicht einmal ein Wasserglas? fragte sie beklommen.

Grady stöberte im Nebenzimmer umher und brachte endlich ein unsauberes Glas mit zerbrochenem Rand zum Vorschein. Es ließe sich brauchen – wenn nur ein zweites da wäre!

Wir können nacheinander trinken, schlug Grady vor und goß den Wein ins Glas. Der Zufall schien ihren Anschlag zu vereiteln! Wie konnte sie den Inhalt des Fläschchens in das Glas schütten, während er ihr zusah? – Plötzlich fiel ihr ein alter Zinnbecher ins Auge, der auf einem Brett neben dem Wasserbehälter stand. Die Schwierigkeit war gelöst!

Während sie das Glas in einer Hand hielt, entkorkte sie mit der andern das Fläschchen in ihrer Tasche. Sie setzte den Wein an die Lippen und trank ihn aus. Das Glas niederstellend rief sie: Sieh, – da drüben steht ja ein Becher!

Richtig, sagte Grady und stand auf, den hatte ich vergessen; eine Frau hat wirklich die Augen überall.

Er trat an das Brett, und im gleichen Moment fuhr ihre Hand aus der Tasche und über das leere Glas hin. Grady setzte den Zinnbecher auf den Tisch und füllte ihn mit Wein.

Gieße dies auch voll, sagte sie, ihm das Glas hinhaltend.

Der goldgelbe Wein strömte abermals aus dem zerbrochenen Hals der Flasche; wenn die Mischung trüb wurde, so merkte man es nicht in dem unsauberen Glase.

Nun, auf unsere Zukunft! – mit diesem Ausruf hob er den Zinnbecher zum Munde.

Schnell streckte sie die Hand aus und hielt seinen Arm fest. Der drohende Mißerfolg raubte ihr die nötige Fassung – sie war bleich geworden.

Was gibt es schon wieder? fragte Grady mit mißtrauischem Blick, während er den Becher niedersetzte.

Trink' doch aus dem Glase! brachte sie mühsam hervor.

Warum? Aus dem Zinn schmeckt mir's gut genug, wie, stoße mit mir an – dein Wohl!

Ich mag nicht mehr, sagte sie, krampfhaft die Stuhllehne umfassend. Tue was ich dir sage, wenn du mich lieb hast.

Was hat das mit der Liebe zu schaffen? entgegnete Grady, und sah sie durchbohrend an. Dein Aussehen gefällt mir nicht. – Ist vielleicht mit dem Wein nicht alles in Ordnung? fragte er plötzlich mit rauher Stimme.

Sie erbleichte bis an die Schläfen, gewann jedoch in verzweifelter Anstrengung ihre Fassung wieder. Ich verstehe dich nicht, sagte sie, gezwungen lächelnd, ich dachte, du würdest gern an der Stelle trinken, die meine Lippen berührt haben – weiter nichts.

Grady nahm langsam das Glas zur Hand, ohne ein Auge von ihr zu verwenden. Er führte es bald zum Munde und hielt abermals inne. Sie konnte die Spannung nicht länger ertragen, ein erstickter Schrei entrang sich ihrer Brust, und sie preßte die Hand auf die Augen. In derselben Sekunde schleuderte Grady das Glas zu Boden, daß es in Scherben zersplitterte.

Lag dir ein Mord im Sinn? stieß er knirschend hervor. Du sollst deinen Willen haben, aber die Ausführung übernehme ich! –

Mit rascher Bewegung griff er nach ihrem Arm und hielt sie fest. Der unentrinnbare Tod starrte ihr aus seinem wilden Blick entgegen. Sie stieß einen Schrei aus, wand sich wie eine Schlange und riß sich los, ein Stück ihres Aermels blieb ihm in der Hand zurück. In rasender Angst war sie hinter den Tisch geflüchtet; aber Grady stand zwischen ihr und der Tür – an ein Entkommen war nicht zu denken. Mit starkem Arm hob er den Tisch in die Höhe und schleuderte ihn zur Seite, daß er in Stücke brach. Sie floh in die äußerste Ecke des Zimmers – sie war ganz in seiner Gewalt, rettungslos verloren, ohne Waffe – und nur ein Weib – was vermochte sie gegen seine Riesenstärke!

Warum kam er nicht heran? Er stand ihr gegenüber, die Arme hingen ihm schlaff am Leibe herab. Zögerte er nur, um ihre Qual zu vermehren? Wie schrecklich war der Anblick, den er bot. Sein Gesicht sah rot und gedunsen aus, die Adern an Hals und Schläfen dick aufgeschwollen, die stieren, blutunterlaufenen Augen schienen aus ihren Höhlen zu treten. Er schwankte wie ein Trunkener.

Plötzlich aber stürzte er auf sie zu, alle Kraft zusammenraffend, und streckte die Arme aus, sie zu ergreifen. Ein abermaliges Entrinnen schien ein Ding der Unmöglichkeit – aber, ehe noch seine Hand sie berührt hatte, duckte sie sich rasch zu Boden, glitt unter seinem Arm durch und sprang hinter ihm empor, nach der Tür zu. In der Hast, diese zu erreichen, strauchelte sie jedoch über ein Stück des zerbrochenen Tisches, verlor das Gleichgewicht und stürzte zu Boden. Sie glaubte schon, ihre letzte Minute sei gekommen.

Dennoch raffte sie sich auf, mit schmerzenden Gliedern, bevor noch Grady sich von dem vereitelten Angriff erholt hatte und abermals auf sie zukam, – aber wie langsam, wie schwerfällig waren seine Bewegungen! Sie hatte beim Aufstehen instinktmäßig ein abgebrochenes Tischbein umklammert und versetzte ihm damit einen Schlag ins Gesicht, wobei ihr das Holz aus der Hand flog und sie zurückprallte, mit der Schulter die Tür berührend. Ihre Hand war auf der Klinke, die Tür ging auf, und sie hinter sich zuwerfend, flüchtete sie in den Flur hinaus. Ehe sie noch die Haustür erreicht hatte, schallten Gradys schwere Tritte in der Dunkelheit hinter ihr drein. Steckte der Schlüssel nicht, so war alles aus! –

Aber das Glück war ihr günstig. Das Schloß ließ sich öffnen – sie war im Freien! Selbst wenn Grady sie verfolgte, war sie auf offener Straße vor Gewalttätigkeit geschützt. Hinter ihr blieb jedoch alles still. An der nächsten Querstraße schöpfte sie Atem und sah sich um: ein Knabe kam pfeifend die Avenue herunter, ein Trambahnwagen fuhr mit Geklingel und Gerassel auf sie zu in die Stadt hinein. Von ihrem grimmigen Feinde aber war keine Spur zu entdecken.


 << zurück weiter >>