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8. Kapitel.

Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht, welche riesige Summe der Manhattan-Bank durch den geheimnisvollen Raub entwendet worden war. In ganz New-York, ja im ganzen Lande entstand grenzenlose Aufregung; man sprach von nichts anderem. Selbst die Kühnsten erbebten bei dem Gedanken, daß ein so unerhörter Diebstahl bei hellem Tage, ja, sozusagen vor den Augen aller Einwohner der Stadt, in einer der ältesten und sichersten Banken ausgeführt werden konnte, ohne daß auch nur eine Spur der Täter zu entdecken war. Gab es denn überhaupt noch ein Schutzmittel gegen den Erfindungsgeist, gegen die teuflische List gewerbsmäßiger Diebe? so fragten sich die Bankiers, die Makler, die Juweliere und Geschäftsleute mit besorgten Mienen. Die stärksten Türen öffneten sich vor ihnen wie auf einen Zauberspruch. Sie schienen die Kunst zu besitzen, sich nach Belieben unsichtbar zu machen! Wie und wodurch sollte man sich vor ihnen sicher stellen? – Noch nie waren die Bemühungen der Polizei, sich der unbekannten Verbrecher zu bemächtigen, mit so allgemeinem und außerordentlichem Interesse verfolgt worden.

Nach seiner Zusammenkunft mit den Direktoren war der Inspektor in sein Bureau zurückgekehrt, um das Ergebnis seiner Untersuchung niederzuschreiben. Bis jetzt ließ sich die Sache ziemlich hoffnungslos an; aber der Polizeichef gehörte zu denen, die im stillen beobachten und zu warten verstehen. Nachdem er seine Uebersicht beendet und noch einmal alle Einzelheiten erwogen hatte, gab er Befehl, ihm sämtliche Zeugen vorzuführen, die man bis jetzt ausfindig gemacht.

Die ersten, welche an die Reihe kamen, der Bankaufseher Werkle und seine Frau, wurden einem scharfen Kreuzverhör unterworfen. Sie berichteten im wesentlichen nur, was wir bereits wissen, und ihr Zeugnis trug wenig dazu bei, den Gang der Sache zu fördern. Nach ihrem ganzen Auftreten konnte man sie unmöglich der Teilnahme an dem Verbrechen für fähig halten. Es waren offenbar Leute von beschränktem geistigem Horizont, aus niedriger Lebenssphäre und ohne irgendwelchen Ehrgeiz, sich auf redliche oder unredliche Weise darüber zu erheben. Weit entfernt, etwas zu verbergen, zeigten sie im Gegenteil Lust, sich mit großer Redseligkeit über dieses und jenes zu verbreiten, mochte es zur Sache gehören oder nicht. Wunderte man sich auch mit Recht, daß die Bankdirektoren einem beschränkten Menschen wie Werkle solche Verantwortlichkeit aufgeladen hatten, so wäre es doch noch weit merkwürdiger gewesen, wenn Diebe, die ein so ungeheures Verbrechen planten, ihn zu ihrem Vertrauten gemacht hätten. Uebrigens war Werkles Bericht noch die glaubwürdigste Erklärung des Vorgangs, die man anzugeben wußte. Den Zeugen gegenüber ließ der Inspektor durchaus nichts von seiner Ansicht über sie durchblicken. Er machte ihnen den Ernst ihrer Lage klar und entließ sie mit dem Eindruck, daß das Auge des Gesetzes auf ihnen ruhe, und das letzte Wort in ihrer Angelegenheit noch nicht gesprochen sei.

Sodann erschien Kohlmann, der Barbier, welcher durch seine Aussage einige wichtige Punkte ans Licht brachte. Er gab an, daß er sich stets um drei Viertel auf sieben in seinen Laden begebe und auch am Sonntagmorgen keine Ausnahme von seiner Gewohnheit gemacht habe. Jedes Geräusch in der Bank sei aber in der unmittelbar darunter gelegenen Barbierstube deutlich zu unterscheiden; er könne z. B. alle Morgen die Schritte des Aufsehers hören, welcher die Zimmer aufräume. Bei jener Gelegenheit habe er jedoch keinen Laut vernommen, wenigstens durchaus nichts Ungewöhnliches.

Da nun ein solcher Einbruch ganz undenkbar war, ohne daß Lärm entstand, und zwar ein Lärm, der sich nicht überhören ließ, so schien aus Kohlmanns Angabe (wenn dieselbe richtig war) zu erhellen, daß die Diebe ihre Hauptarbeit bereits getan haben mußten, ehe der Barbier in den Laden kam. Werkles Zeugnis dagegen bewies, daß die Spitzbuben sich frühestens um ein Viertel auf sieben ans Werk gemacht hatten; so blieb ihnen also zur Ausführung nicht mehr als eine halbe Stunde, höchstens vierzig Minuten.

Was für Meister in ihrem Handwerk mußten sie sein, um den Einbruch nicht nur mit so vollendeter Geschicklichkeit, sondern auch in so unglaublich kurzer Zeit bewerkstelligen zu können! Hieraus erklärte sich auch zur Genüge, warum einige Geldschränke unversehrt geblieben waren. Eine Beute von fast drei Millionen Dollars in dreißig Minuten mußte wohl den geldgierigsten Räuber befriedigen; auch mochte es ohnehin schwierig gewesen sein, die großen Bündel Staatspapiere und Aktien fortzuschaffen; sich noch mehr damit zu beladen, hätten die Diebe mit ihrer sonstigen Klugheit und Vorsicht nicht vereinigen können. Erschien es doch überhaupt als ein wahres Wunder, daß sie mit ihrem Raube ungesehen und unbehelligt davongekommen waren.

Auch was Kohlmann von dem unbekannten Herrn berichtete, der Werkle in die Barbierstube gefolgt war, konnte möglicherweise von Wichtigkeit sein. Seiner Beschreibung nach war der Fremde eine vornehme Erscheinung von hohem Wuchs und trug einen großen Amethystring am Finger. Zwar ließ sich seine Anwesenheit im Laden, sowie sein Interesse an dem Bericht des Aufsehers auf ganz natürliche Weise erklären – bei einem so geheimnisvollen Vorkommnis darf jedoch die geringfügigste Tatsache nicht unbeachtet bleiben. Der Inspektor notierte sich also den Herrn mit dem Amethystring, dessen Zeugnis ihm jedenfalls nützlich sein konnte, um Werkles und des Barbiers Aussage zu bestätigen.

Als letzterer entlassen war, wurden die beiden Schutzleute vernommen, die sich zur Zeit des Diebstahls in der Nähe der Bank befanden. Einer von ihnen hatte den Mann, den er für den Aufseher hielt, um halb sieben Uhr morgens die Möbel in dem äußeren Bankbureau säubern sehen. Die Einbrecher hatten also eine Wache ausgestellt, die in ihrer Verkleidung dem wirklichen Aufseher gleichen sollte. Die Identifizierung dieser Person war daher ziemlich aussichtslos. Der andere Polizist berichtete nur, eine Frau habe ihn angesprochen und nach der Zeit gefragt, worauf er zu der Uhr über dem Gewölbe hinaufgesehen habe, doch sei ihm dabei in der Bank nichts Ungewöhnliches aufgefallen.

Auch der Milchmann, von dem die Familie Werkle ihren täglichen Bedarf entnahm, erschien als Zeuge. Er war einige Minuten vor halb sieben die Bleeckerstraße heraufgekommen. Als er eben die Milch für den Aufseher abfüllen wollte, öffnete sich die erste Tür in der Bleeckerstraße ein wenig, und ein Mann, dessen Gesicht er nicht sehen konnte, rief ihm zu, die Familie sei aufs Land gegangen und brauche heute keine Milch! Ohne sich näher zu erkundigen, war der Milchmann wieder auf den Wagen gestiegen und fortgefahren. Auf des Inspektors fernere Fragen erwiderte er, daß er den Mann nicht erkennen würde, da er nur Arm und Schulter von ihm gesehen, und ihn kaum ein halbes Dutzend Wörter habe sprechen hören.

Zunächst wurde der ständige Wächter der Bank, Daniel Keely, eingelassen. Gegen ihn war ein Verdacht wegen Teilnahme an dem Verbrechen nicht unbegründet, da er vermöge seines Amtes wohl imstande gewesen wäre, den Dieben den Zugang in die Bank zu vermitteln. Doch war sein Wesen dem Inspektor gegenüber offen und freimütig, und sein Bericht schien ganz der Wahrheit zu entsprechen. Nach seiner Angabe hatte er am Sonnabend seinen Dienst um elf Uhr abends angetreten, zu welcher Zeit im Umkreis der Bank alles still und ruhig war. Nichts Verdächtiges zeigte sich während seiner Wache, und außer mit einem gelegentlich vorübergehenden Schutzmann wechselte er mit keinem Menschen ein Wort. Während der sieben Stunden zwischen elf Uhr abends und sechs Uhr morgens war er langsam und regelmäßig in der Bleeckerstraße und auf dem Broadway am Bankgebäude auf und ab gegangen; dabei verlor er höchstens auf ein paar Minuten die eine oder andere Seite aus den Augen. Der Schlummer hatte ihn keinen Augenblick übermannt, das wußte er ganz gewiß. Um sechs Uhr – die Straße war ganz leer – hatte er sich dann durch die zweite Tür in der Bleeckerstraße nach Werkles Wohnung begeben und ihn geweckt.

Fanden Sie diese Türe verschlossen, als Sie hineinwollten? fragte der Inspektor.

Keely bejahte dies. Die Tür konnte nur mit einem Hauptschlüssel geöffnet werden und schnappte von selbst ins Schloß; für den Tagesverkehr war ein Schließhaken angebracht. Er hatte aufgeschlossen, die Tür war hinter ihm zugefallen, dann hatte er Werkle aufgeweckt, war wieder die Treppe hinabgegangen, hatte die Tür hinter sich geschlossen, und sich nach Hause und zu Bett begeben. Er behauptete mit der größten Bestimmtheit, daß niemand in jenen Teil des Gebäudes habe eindringen können, so lange er sich darin befand.

Und doch, dachte der Inspektor bei sich, müssen jene sechs Menschen in Werkles Zimmer gewesen sein, noch ehe Keely wieder auf der Straße war; wenn er die Wahrheit spricht, ist es nicht anders möglich, als daß sie die Nacht in dem Gebäude zugebracht haben. Das muß untersucht werden! – Er setzte nun Keely einem scharfen Kreuzverhör aus, ohne daß dieser jedoch von seinen Angaben abwich. Als er ihn entließ, gab er zugleich Befehl, ihn bis auf weiteres sorgfältig zu beobachten. Hierauf schickte er einen Polizisten in Zivilkleidung nach der Bank, um daselbst in den oberen Stockwerken nach Spuren eines unbefugten Aufenthalts zu forschen. Der Beamte berichtete bei seiner Rückkehr, die zwei obersten Stockwerke seien nicht vermietet, und er habe in einem Zimmer deutliche Beweise gefunden, daß mehrere Personen dort genächtigt hätten; doch sei keine Spur vorhanden, die sich weiter verfolgen ließe. So war also anzunehmen, daß die sechs Spitzbuben sich in den oberen Teil des Gebäudes eingeschlichen, ehe die Tür zur Nacht verschlossen war, und gleich nach Keelys Entfernung Werkle überfallen hatten. Aber weder dieser Umstand, noch was sonst etwa ans Licht gebracht wurde, diente auch nur im mindesten dazu, das Dunkel aufzuhellen, welches dieses beispiellose Verbrechen umgab.

Der einzige noch zu vernehmende Zeuge war der Hilfswächter der Bank, Patrick Shevelin, ein Schwager Keelys, der seinen Dienst meist Sonntags während der Tagesstunden verrichtete. Er sah nicht so klug und verständig aus wie Keely, sondern machte mehr den Eindruck eines schwachen, gutmütigen Menschen. Die an ihn gerichteten Fragen beantwortete er bereitwillig, und wie es schien, ganz unbefangen. Die Verdachtsgründe gegen ihn waren offenbar weit weniger stark als gegen Keely; auch was über sein früheres Leben verlautete, sprach nicht zu seinen Ungunsten. Er behauptete, von der ganzen Angelegenheit durchaus nichts zu wissen; dennoch nahm der Inspektor das Verhör mit ihm vor, um sich auch nicht den leisesten Anhaltspunkt entgehen zu lassen; seine Art und Weise dabei war jedoch – ob mit oder ohne Absicht – weit ungezwungener und leutseliger als bei den andern Zeugen, gerade als wolle er dem Manne zu verstehen geben, daß es sich zwischen ihnen um eine bloße Form handle. Er ließ ihn die Sache ganz auf seine Weise vortragen, auch mit gelegentlichen Abschweifungen auf ganz andere Gebiete, und begnügte sich damit, Gesichtsausdruck und Sprechweise des Zeugen genau zu beobachten, ohne daß jener es bemerkte. Fast hätte man denken können, der Inspektor habe sich Shevelins Besuch nur ausgebeten, um das Vergnügen seiner Gesellschaft zu genießen.

Endlich bedeutete er dem Hilfswächter, er sei nun entlassen und könne gehen, wohin er wolle. Shevelin stand auf, empfahl sich und schritt nach der Tür. Während er dies tat, sah der Polizeichef, der ihm noch mit den Augen folgte, wie ein eigentümlich schlaues und wohlgefälliges Lächeln über sein Gesicht glitt. Dies flüchtige Lächeln war der erste Hoffnungsschein, welchen das Zeugenverhör dem Inspektor gebracht hatte – aber wie schwach war dies Licht!


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