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6. Kapitel.

Die Tür in der Bleeckerstraße, welche in die oberen Stockwerke der Manhattan-Bank führte, wurde ungestüm aufgerissen, und eine seltsame Gestalt stürzte daraus hervor. Es war ein ältlicher untersetzter Mann mit verwirrtem grauem Bart und Haar; seine Kleidung bestand nur aus Beinkleidern und einem zerfetzten Hemd ohne Kragen, an den Füßen trug er Socken, aber keine Schuhe. Die wahnsinnigste Angst sprach aus seinen verzerrten Zügen, und, was am meisten auffiel, er war mit einem Paar schweren, eisernen Handschellen gefesselt. Man glaubte einen entsprungenen Tollhäusler zu erblicken, der gerade seinen Wutanfall hatte, und wich unwillkürlich erschreckt vor ihm zurück. Nach dem Broadway zu stürmte die unheimliche Erscheinung, bog scharf um die Ecke und flog die Stufen zu Kohlmanns Barbierstube hinab. Der würdige Haarkünstler, der eben alle Rasiermesser geschliffen hatte und auf seine Kunden wartete, war nicht wenig erschreckt über den plötzlichen, unvermuteten Ueberfall. Wer beschreibt aber sein Erstaunen, als er in diesem zerzausten, ungestümen Eindringling seinen alten Freund und Gevatter Louis Werkle erkannte, den ehrenwerten, trefflichen Türhüter und Aufseher der Manhattan-Bank!

Zufälligerweise kam gerade ein feingekleideter, etwa vierzigjähriger Herr an der Bank vorbei, als die Gestalt in dem sonderbaren Aufzug herausstürzte; er sah sie in Kohlmanns Laden verschwinden und folgte ihr aus Neugierde. Der Herr, welcher einen Amethystring am Finger trug, und dem eine schwere goldene Uhrkette aus der Westentasche hing, tat dies unter dem Vorwande, sich rasieren zu lassen, aber Kohlmann war viel zu sehr außer Fassung, um seiner Kundschaft die gebührende Aufmerksamkeit zu schenken. So stand denn der Herr geduldig dabei und hörte die merkwürdige Geschichte an, die Werkle auf des Barbiers Drängen und Fragen zu erzählen begann.

Was der Aufseher berichtete, klang fast unglaublich! Er hatte sich am Abend zuvor wie gewöhnlich zur Ruhe begeben und die Bank der Obhut des ständigen Wächters Daniel Keely überlassen. Keely verwaltete dies Amt schon seit vielen Jahren und galt allgemein für einen treuen, zuverlässigen Mann. Sonntags löste ihn gewöhnlich der Hilfswächter Patrick Shevelin ab, der jedoch den Dienst nur bei Tag versah und erst in den späteren Morgenstunden antrat. Keely war also von Sonnabend abends elf Uhr bis diesen Morgen sechs Uhr auf seinem Posten gewesen.

Um sechs Uhr pflegte er sich dann in die Wohnung des Aufsehers zu begeben, um ihn zu wecken, er trug zu diesem Zweck den Schlüssel der zweiten Tür in der Bleeckerstraße bei sich, die er aufschließen mußte, um in das Bankgebäude zu gelangen. Von diesem Augenblick an war Werkle für die Sicherheit der Bank verantwortlich, und Keely konnte ruhig nach Hause gehen.

Zur gewöhnlichen Stunde war Werkle also durch ein Klopfen an seiner Tür geweckt worden, und Keelys Stimme hatte ihm zugerufen, daß es Zeit sei, aufzustehen. Sich reckend und gähnend war er, seiner Gewohnheit treu, sofort auf den Füßen und begann schlaftrunken seine Kleider anzulegen. Ehe er indessen völlig angekleidet war, machte ihn seine Frau, die noch im Bette lag, auf ein sonderbares Geräusch aufmerksam, das, wie ihr schien, aus dem Nebenzimmer kam, wo Frau Werkles Mutter schlief, die alt, bettlägerig und etwas schwachsinnig war. Darauf wollte Werkle eben in das Nebenzimmer gehen, um nachzusehen, ob der Alten etwas fehle, als die Tür nach dem Hausflur plötzlich geräuschlos aufging und etwa ein halbes Dutzend fremdartige Gestalten in das Zimmer drangen.

Ihr Anblick war grauenerregend, jeder von ihnen trug eine entsetzliche schwarze Maske, die sein Gesicht völlig verbarg; alle waren bewaffnet, und ihr ganzes Benehmen ließ deutlich erkennen, daß sie die Revolver nicht zum Scherz bei sich führten. Um ihren Tritt unhörbar zu machen, gingen sie auf Gummischuhen; sonst hatte ihr Anzug nichts Auffallendes. Sprachlos stierte der Aufseher und seine Frau die unheimlichen Eindringlinge an, aus deren Mitte ein mittelgroßer, breitschulteriger Mann von starkem Körperbau hervortrat. Wild funkelten seine Augen durch die Löcher der schwarzen Maske, und mit leiser aber gebieterischer Stimme befahl er dem Aufseher, sofort die Schlüssel zur Bank auszuliefern.

Der unglückliche Werkle weigerte sich, der Aufforderung Folge zu leisten, und seine Frau stieß einen Schreckensschrei aus. Augenblicklich fühlten sie die Mündung der Revolver an ihren Schläfen und vernahmen den rauhen Zuruf, daß sie bei dem geringsten Lärm oder Widerstand auf der Stelle des Todes seien. Zwei der Vermummten banden und knebelten nun Frau Werkle, während sich zwei andere in das Nebenzimmer begaben, um mit ihrer Mutter ein gleiches zu tun. Mit den häuslichen Einrichtungen und Gewohnheiten des Aufsehers schienen sie, nach ihrem ganzen Verhalten zu urteilen, vollkommen vertraut. Daß ihr Begehren der bitterste Ernst war, darüber konnte kein Zweifel bestehen.

Solcher Todesgefahr konnte nur ein Held trotzen; Louis Werkle war nicht der Mann dazu. Als die kalte Pistolenmündung seine Stirn berührte, war sein Widerstand gebrochen, und er bekannte, wo die Schlüssel zu finden seien. Nur wagte er noch die Bemerkung, dieselben könnten ihnen wenig nützen, wenn sie nicht den Knopf zu drehen verstünden – beschreiben ließe sich das nicht. Der Führer der Bande erwiderte hierauf, Herr Werkle möge außer Sorge sein, damit wüßten sie schon Bescheid. Dagegen verlangten sie von ihm, er solle die geheimen Ziffern des Kombinationsschlosses angeben. Vergebens beteuerte der Aufseher seine Unwissenheit, er erhielt zur Antwort, es sei bekannt, daß er das Gewölbe jeden Morgen zu öffnen habe; wenn er zögere oder Ausflüchte suche, sei es sein Tod.

Mit zitternder Stimme nannte Werkle die drei Ziffern. Der Führer schien jedoch nicht befriedigt. Er befahl seinem Opfer, dieselben mehrmals zu wiederholen und meinte, es müsse noch eine Ziffer mehr sein, da das Schloß vier Zuhaltungen habe. Werkle verschwor sich hoch und teuer, dies sei alles, was er wisse, und des armen Menschen Entsetzung und Todesfurcht bezeugten noch beredter als seine Worte, daß er die Wahrheit sprach. So entfernte sich denn der Führer schließlich mit der Drohung, wenn sich die Ziffern als falsch erwiesen, sei es um sein Leben geschehen! Er ließ zwei seiner Helfershelfer als Wache zurück, mit dem bestimmten Befehl, die ganze Familie umzubringen, sobald sie den geringsten Versuch machten, Lärm zu schlagen. Die vermummten Wächter knebelten hierauf den Aufseher, legten ihm Handschellen an und standen dann grimmig auf dem Posten, den Revolver in der Hand.

Die Zeit, welche ihnen in dieser Lage verstrich, dünkte den unglücklichen Opfern eine Ewigkeit; in Wirklichkeit waren es ungefähr zwei und eine halbe Stunde. Was mußte Werkle in dieser Zeit ausstehen! Zu dem körperlichen Mißbehagen in seiner Lage gesellten sich die fürchterlichsten Gedanken: jeden Augenblick konnte er eines gewaltsamen Todes sterben, und wenn er am Leben blieb, so wurde die Bank, deren Sicherheit ihm anvertraut war, geplündert, und dann mußte der Verdacht, mit den Spitzbuben unter einer Decke zu stecken, zu allererst auf ihn fallen.

Diese entsetzliche Spannung, die das Unerträglichste von allem schien, erreichte jedoch schließlich ihr Ende. Mit fürchterlichen Drohungen, bei denen jedem das Blut in den Adern erstarren mußte, zogen sich die Wächter zurück.

Die Familie Werkle war wieder allein. Mehrere Minuten lang rührte sich niemand, aus Furcht, die schreckliche Räuberbande möchte wiederkehren; zuletzt gelang es aber dem Aufseher, sich den erstickenden Knebel aus dem Munde zu würgen, und die Fesseln noch an den Händen, wagte er sich die Treppe hinunter und stürzte, wie wir gesehen haben, in die Barbierstube seines Freundes Kohlmann.

Dieser hatte im Verein mit dem unbekannten Herrn, den der Zufall dahingeführt, staunend den Bericht angehört. Daß die Erzählung nicht sehr glaubwürdig klang, war deutlich auf dem Gesicht des Herrn zu lesen. Kohlmann selbst hatte sich noch nicht genügend von seiner ersten Ueberraschung erholt, um überhaupt eine Meinung zu äußern, als jedoch der Herr vorschlug, man möge ungesäumt die Polizei in Kenntnis setzen, war er sofort hiezu bereit. Denn es schien ihm für alle Fälle ratsam, der Polizei kund zu tun, daß er nichts mit der Sache zu tun habe und keineswegs gewillt sei, den Aufseher in Schutz zu nehmen.

Beflügelt durch diese klugen Erwägungen eilte Herr Kohlmann auf die Straße und warf schnell einen Blick durch die Fenster des Bankgebäudes nach dem feuerfesten Gewölbe. Die schweren Türen desselben standen offen, und manches wies auf einen Einbruch hin: diese Wahrnehmung beschleunigte seinen Eifer, und da er gerade einen Schutzmann um die nächste Straßenecke kommen sah, winkte er denselben mit lebhaften Zeichen herbei. Als er mit dem Polizisten wieder in seine Barbierstube trat, befand sich Werkle allein darin. Der unbekannte Herr mit dem Amethystring und der goldenen Uhrkette, der sich rasieren lassen wollte, hatte wahrscheinlich die Geduld verloren, länger zu warten, und war seiner Wege gegangen.

Nachdem der Schutzmann die Erzählung des Aufsehers angehört und sich überzeugt hatte, wie es in der Bank aussah, schickte er sofort einen Boten nach dem nächsten Polizeibureau.

Draußen hatte sich inzwischen eine Menschenmenge angesammelt, und der friedlichen Sonntagsruhe ein Ende gemacht. Hundert Fragen, die niemand zu beantworten vermochte, schwirrten durch die Luft. Der Italiener an der Ecke machte glänzende Geschäfte, und alles war voller Spannung und Aufregung. Da tönten Fußtritte auf dem Pflaster, und in gemessenem Taktschritt kam eine Abteilung Polizeimannschaft die Bleeckerstraße herunter. Die Menge wich zurück, ohne sich jedoch zu zerstreuen, und einer suchte, über die Schulter des andern hinweg, zu erkennen, was zunächst geschehen würde.

Der Anführer des Trupps postierte einige seiner Leute in die Nähe der Bank, um unbefugte Neugierige fernzuhalten, andere im Zivilanzug mischten sich unter die Menge in der Absicht, etwaige Aeußerungen und Einzelheiten zu erfahren, die einen Anhalt geben konnten. Er selbst trat mit einem Gefährten durch die erste Seitentür in der Bleeckerstraße, welche die Diebe offen gelassen, in das Bankgebäude. An Ort und Stelle sah er auf den ersten Blick seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Das Gewölbe war geöffnet worden, offenbar mit Kenntnis des Kombinationsschlosses. Im inneren Raum, der etwa acht Fuß im Geviert maß, stand an jeder Seite ein eiserner Geldschrank, ein dritter im Hintergrund; zwei derselben waren erbrochen, bei dem dritten war gleichfalls der Versuch gemacht, aber aus irgend einem Grunde wieder aufgegeben worden. Die Einbrecher mochten wohl genug aus den andern erbeutet haben, um sich reichlich für ihre Mühe zu belohnen. Soviel sie auch mitgenommen, hatten sie doch nichts dagelassen, was auf ihre Spur verhelfen konnte. Sie waren gekommen und wieder verschwunden, das stand fest, mehr aber auch nicht. Das sagte sich wenigstens der diensttuende Polizeibeamte nach flüchtiger Betrachtung des Schauplatzes, und die Berichte der Detektive lauteten dahin, daß ihnen unter der auf dem Platze versammelten Menge an jenem Morgen kein verdächtiges Individuum aufgefallen sei. Die Sache schien wie mit Zauberei zugegangen; das einzig Greifbare dabei war die Erzählung des Aufsehers, aber auch sie konnte auf Erfindung beruhen. Als der Polizeibeamte noch einmal den Schauplatz überblickte, konnte er nicht umhin, zuzugeben, daß die Spitzbuben ihr Werk meisterhaft verrichtet hätten.

Es gibt nur einen Mann in New-York, bemerkte er zu seinem Begleiter, dessen Augen scharf genug sind, um auch durch diese Wand sehen zu können; je schneller er zur Stelle ist, um so besser – aber ich glaube, selbst er wird finden, daß man sich den Kopf dabei zerbrechen kann.

Derjenige, auf welchen diese Worte sich bezogen, befand sich bereits auf dem Wege zur Bank, nachdem er einige Minuten zuvor von dem Einbruch in Kenntnis gesetzt worden war. Inzwischen wurden die Beamten und Direktoren der Bank auf telegraphischem Wege von dem Vorfall unterrichtet und aufgefordert, sich ungesäumt daselbst einzufinden; man hoffte, sie würden wenigstens einiges Licht in das Dunkel bringen können. Nun trat naturgemäß eine Pause in den Ereignissen ein. Die Menge sah, daß sie für jetzt keine ferneren Aufschlüsse erwarten dürfe und zerstreute sich allmählich, so daß die Straße bald wieder fast so ruhig dalag wie zuvor.


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