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Mr. Smith – wie ihn der Inspektor genannt hatte – war einige Wochen lang der Gegenstand so eingehender Beobachtung und Aufmerksamkeit, wie sie wenigen Menschen im öffentlichen oder Privatleben zuteil wird; er selbst schien aber nicht die leiseste Ahnung davon zu haben. Wenigstens fuhr er fort, seine Zwecke und Ziele mit der größten Unbefangenheit zu verfolgen, mit einer Zuversicht, die bei einem Spitzbuben fast unbegreiflich schien, und wenn sie geheuchelt war, den vollendetsten Schauspieler bekundete. Die Ansicht der Geheimpolizisten über ihn wechselte von Tag zu Tag; nur eines schien gewiß: man hatte es mit dem sonderbarsten Menschen der Welt zu tun, mit jemand, der einzig in seiner Art war.
Am ersten Abend seiner polizeilichen Ueberwachung verließ er das Haus gegen neun Uhr, in einen langen, dunklen Ueberzieher gekleidet und den großen Filzhut tief ins Gesicht gedrückt. Er trug einen derben Spazierstock und braunrote Handschuhe, die den Amethystring verdeckten. Mit festen Schritten ging er die Avenue bis zur 25. Straße hinunter, dann quer über Union Square bis zur Madison Avenue, worauf er eine Trambahn bestieg, die in östlicher Richtung fuhr und ihn im Anschluß an eine zweite nach dem südlichen Teil der Stadt, in die Nähe von Corlears Hook beförderte.
Hier stieg er abermals aus, schritt durch mehrere enge, wenig erleuchtete Straßen und erreichte endlich eine kleine unansehnliche Branntweinschenke, die er so zuversichtlich betrat, wie einer, der mit der Umgebung vollkommen vertraut ist. Er nickte dem Schenkwirt zu, wechselte einige Worte mit ihm und nahm dann im Hintergrunde an einem kleinen Tische Platz, wo er sich ein Glas Grog bestellte.
Merkwürdig, daß der reiche angesehene Mr. Smith dies Lokal aufsuchte! Es war ein berüchtigter Schlupfwinkel für Diebe und Mörder; kein anständiger Mensch hätte sich bei hellem Tage dahin gewagt, geschweige denn um zehn Uhr nachts. Und doch – da saß der Millionär in vollster Seelenruhe, schlürfte seinen Grog und blies Wolken aus der kurzen Pfeife von Rosenholz, die er aus seinem Ueberzieher genommen hatte!
Die beiden Polizisten, die seiner Spur bis dahin gefolgt waren, hielten Rat miteinander. Vor dem Fenster der Schenke hing ein schmutziggrüner Vorhang, der obere Teil der Tür bestand aus mattem Glas, doch war eine Scheibe zerbrochen, so daß man in die Schenkstube hineinsehen konnte. Unmöglich hätte man sich aber, ohne entdeckt zu werden, nahe genug heranschleichen können, um zu verstehen, was drinnen gesprochen wurde. Eintreten konnten die Detektivs nicht; sie hatten nicht erwartet, einen so wenig anständigen Ort aufsuchen zu müssen, und ihre Verkleidung nicht danach eingerichtet. So blieb ihnen nichts übrig, als draußen Wache zu halten und sich auf günstige Umstände und ihr eigenes Urteil zu verlassen.
Mr. Smith blieb nicht lange der einzige Gast in der Schenke. Ein großer, schwarzbärtiger Bursche von verwildertem Aussehen, die Mütze tief herabgezogen, kam auf das Haus zu, öffnete die Tür, und als er Mr. Smith gewahr wurde, trat er ein, grüßte ihn wie einen Bekannten und setzte sich neben ihn. Zwischen beiden Männern entspann sich eine Unterhaltung, wobei Mr. Smith offenbar Fragen stellte, die der neue Ankömmling eingehend zu beantworten schien, während er dazwischen dem Branntweinglase zusprach, das ihm der Schenkwirt auf Mr. Smiths Wink vorgesetzt hatte. Sie waren noch im besten Gespräch, als vier andere Männer das Lokal betraten. In zwei derselben erkannten die Polizisten gefährliche Diebe, die an verschiedenen Raubanfällen am Flußufer beteiligt gewesen waren. Alle nahmen am Tische Platz, und es folgte eine eifrige Unterredung, welche mit leiser Stimme geführt wurde.
Die verdächtige Unterhaltung hatte etwa eine halbe Stunde gedauert, als sich die Männer erhoben und das Haus verließen; nur Mr. Smith blieb noch zurück, um die Zeche zu bezahlen. Vor dem Eingang hörten die Detektivs, welche sich hinter einem nahen Bretterverschlag verbargen, einen der Männer sagen: »Das hat keine Gefahr, ehe man sie da findet, sind sie längst verfault.« Was Mr. Smith antwortete, war unverständlich; der erste Sprecher lachte und ein anderer meinte: »Ganz nach Belieben, ich täte es auch nicht an Ihrer Stelle«.
Damit gingen sie die Straße hinunter, dem Flusse zu; die Detektivs folgten ihnen auf den Fersen. Am Ende des Hafendamms stand ein Wagen mit zerbrochenem Rade neben leeren Fässern und anderem Gerümpel. In der Dunkelheit verschwanden die Männer hinter dem Wagen, dann entstand ein Geräusch von Fußtritten und eingelegten Rudern, und schon im nächsten Augenblick schoß ein Boot am Quai entlang und glitt leise stromabwärts.
Den Beamten blieb nur das leere Nachsehen – gerade jetzt, wo die Sache anfing, Erfolg zu versprechen. Das Wild, dem sie nachspürten, war entflohen; wollten sie die Fährte nicht ganz verlieren, so mußten sie ihm am Ufer entlang folgen, so gut es ging; vielleicht daß sie das Boot wenigstens landen sahen!
Als sie jedoch über das Gerümpel auf den Hafendamm kletterten, kam von weitem eine hohe Gestalt auf sie zu, in der sie zu ihrem Erstaunen Mr. Smith in eigener Person erkannten. Er stutzte bei ihrem Anblick und stand zögernd still, dann schritt er quer über den Damm in nördlicher Richtung weiter. In diesem Augenblick ertönte die Glocke eines Trambahnwagens, der in die Stadt hineinfuhr. Die Detektivs beeilten sich, die Gelegenheit zur Rückfahrt zu benutzen; auf der äußeren Plattform stehend, sahen sie, wie Mr. Smith an der nächsten Straßenecke gleichfalls einstieg und ruhig einen Sitz im Wagen einnahm. Erst bei der Ecke der 59. Straße und Fünften Avenue stieg er aus und bog in seine Straße; die Polizisten sahen ihn nur noch in der Haustür verschwinden. Auch zeigte er sich an jenem Abend nicht wieder.
So seltsam auch dies Abenteuer war, es ließ sich doch nichts über Mr. Smiths Verbindung mit dem Manhattan-Diebstahl daraus folgern. Verbrecher aus so niedriger Klasse wie die Leute, mit denen er in der verrufenen Schenke am Fluß zusammengekommen war, konnten den Einbruch unmöglich bewerkstelligt haben. Hierzu gehörte schon viel mechanische Geschicklichkeit und ungewöhnlicher Scharfsinn. Möglich, daß Mr. Smith selbst der technische Leiter des Unternehmens war und die andern nur seine Gehilfen. Aber zu welchem Zweck sollte ein so reicher Mann sich einer derartigen Gefahr aussetzen? – Nicht um des Geldes willen, das stand fest; auch schwerlich aus Gefälligkeit gegen die Diebe! Daß er aber im Verkehr mit den Spitzbuben stand, war unzweifelhaft. Wie ließ sich dieser Umstand erklären? War die geheime Zusammenkunft in der entlegenen Spelunke nicht ein deutlicher Beweis seiner Schuld?
Die Ueberwachung des Verdächtigen wurde zwar eifrig fortgesetzt, hatte aber lange Zeit nicht den geringsten Erfolg. Sein Leben verlief ohne besondere Ereignisse. Er kam abends selten später als elf Uhr nach Hause und ging am Morgen nicht vor dieser Stunde aus. Auch von seiner ausschließlich weiblichen Bedienung war nichts zu erfragen. Die drei Dienstmädchen zeigten sich zwar nicht abgeneigt, mitteilsam zu sein, wußten aber über ihren Herrn nichts zu sagen, was absonderlich oder verdächtig erschien. Ihr Lohn wurde pünktlich bezahlt, sie hatten Erlaubnis, an bestimmten Abenden auszugehen oder ihre Bekannten im Gesindezimmer zu empfangen. Mr. Smith sah selten jemand bei sich, und nur zu kurzen Geschäftsbesuchen. Für einen Junggesellen führte er ein sehr geregeltes Leben; das erste Frühstück und das Mittagessen nahm er stets zu Hause ein, zum zweiten Frühstück und am Abend pflegte er auszugehen. Selten verreiste er auf mehrere Wochen, meist war er nur einige Tage abwesend; die Sorge für das Haus blieb in solchen Fällen den Dienstboten überlassen. Daheim rauchte er, las Zeitungen und schrieb viel, ob Briefe, oder sonst etwas, war nicht zu ermitteln.
Soweit waren die Detektivs in ihren Beobachtungen gediehen, als Mr. Smith eines schönen Tages ein Billet nach Chicago kaufte und noch am selben Nachmittag mit dem Schnellzug dahin abfuhr.
Dieser Umstand erschien besonders deshalb bedeutsam, weil das Polizeiamt in New-York zwei Tage zuvor die telegraphische Mitteilung erhalten hatte, daß in Chicago ein der Polizei bekannter, berüchtigter Dieb aufgetaucht sei, welcher der Beteiligung an dem Manhattan-Raub verdächtig war. Man hielt es für kein zufälliges Zusammentreffen, daß Mr. Smith genau zu derselben Zeit auf den Einfall kam, jene Stadt zu besuchen; jeder seiner Schritte wurde daher aufs sorgfältigste überwacht.
In Chicago angekommen, fuhr Mr. Smith in einer Droschke nach dem Hotel Palmer, schrieb seinen Namen richtig ins Fremdenbuch, nahm ein Bad und kleidete sich um. Gegen Abend schlenderte er durch eine der Hauptstraßen, die Geheimpolizisten immer hinter ihm drein. In der Nähe der Post traf er mit dem erwähnten Gauner zusammen und begab sich mit ihm in den ersten besten Austernkeller. Sie nahmen an einem kleinen Tisch in einer Nische Platz, und Mr. Smith ließ Austern und eine Flasche Champagner kommen. Gleich darauf betrat einer der Detektivs ebenfalls das Lokal, sah sich wie zögernd nach einem Sitz um und schritt dann zu dem Tisch in der nächsten Nische, wo ihn nur eine Bretterwand von den ersten Ankömmlingen trennte. Seine Anwesenheit blieb jedoch unbemerkt. Der Kellner brachte den Herren, was sie bestellt hatten, und während des Schmauses begannen sie mit gedämpfter Stimme eine Unterhaltung zu führen, von welcher der Detektiv jedoch gelegentlich Wörter wie Bank, Gewölbe, Staatspapiere und dergleichen vernahm; er lauschte daher aus allen Kräften.
Die erste Flasche Champagner war geleert, und der Kellner brachte eben eine zweite. Der Detektiv war aufgestanden, anscheinend um sich den Senftopf von einem Tisch gegenüber zu holen und gewahrte, wie Mr. Smith von dem Gauner ein zusammengefaltetes Papier in Empfang nahm, das täuschend wie eine Schuldverschreibung der Vereinigten Staaten aussah. Mr. Smith steckte die Obligation in die Tasche, zog dann sein Notizbuch heraus, schlug es auf und überblickte die Reihe der darin verzeichneten Zahlen, die der Detektiv, welcher gerade wieder auf seinen Platz zurückkehrte, für eine Liste von Staatspapieren und andern Schuldverschreibungen hielt. Gleich darauf äußerte Mr. Smith:
Ich kann die Nummer nicht finden!
Sie muß aber doch darunter sein, entgegnete der andere, wahrscheinlich haben Sie sich beim Abschreiben geirrt.
Das kann ich kaum glauben, versetzte Mr. Smith, ich bin mit der größten Sorgfalt verfahren.
Wir wollen der Sache gleich auf den Grund kommen, meinte sein Gefährte und zog eine Handvoll Briefe und Notizen aus der Tasche; wenn ich nicht irre, muß ich das gedruckte Verzeichnis irgendwo bei mir haben – richtig, da ist es ja, rief er, Mr. Smith ein Papier überreichend.
Dieser warf einen Blick darauf. Sie haben doch recht, sagte er, obgleich mir's wunderlich vorkommt, daß ich mich gerade bei der Nummer geirrt habe. Nun gut, ich will Ihnen den Nennwert dafür auszahlen.
Bewahre, wo denken Sie hin, entgegnete der andere, unter tausend Dollars bekommen Sie es nicht!
Tausend Dollars? Unsinn! Kein Mensch unter der Sonne gibt Ihnen einen Ueberschuß von fünfhundert Dollars, wenn ich es nicht tue.
Wie Sie wollen; dann geben Sie mir das Ding zurück. Zum Schachern bin ich nicht hergekommen, das ist nicht meine Art. Damit rief er dem Kellner und bestellte sich ein halbes Dutzend Zigarren von der besten Sorte.
Wollen Sie's für siebenhundertfünfzig geben?
Nicht unter tausend! Das ist mein letztes Wort!
Nun meinetwegen, entgegnete Mr. Smith, aber es ist die reinste Schwindelei.
Der Detektiv, welcher in diesem Augenblick mit dem Hut auf dem Kopf aus seiner Nische herauskam und sich ein Schwefelholz an der Stiefelsohle anstrich, um seine Zigarre zu entzünden, sah wie Mr. Smith seinem Gefährten ein Paket Banknoten übergab – lauter Hundertdollarscheine.
Bald darauf verließen die beiden das Lokal; sie trennten sich an der Ecke, und Mr. Smith kehrte in sein Hotel zurück.
Was hatte das alles zu bedeuten, und was ließ sich nun tun? – Soweit der Detektiv urteilen konnte, war der Handel, dessen Zeuge er gewesen, keineswegs ungesetzlich. Der Gauner hatte offenbar an Mr. Smith eine 500 Dollars-Obligation der Vereinigten Staaten verkauft, die zu den in 5-20 Jahren einlösbaren gehörte. Zwar hatte er sich 1000 Dollars dafür zahlen lassen; aber dabei war nichts Unrechtes. Ein Käufer konnte, wenn es ihm beliebte, hundertmal mehr für eine Sache entrichten, als sie wert war – das verbot kein Gesetz.
Es fragte sich nur, ob die Schuldverschreibung selbst auf rechtlichem Wege erworben war. Wenn nicht, so hätte man die Betreffenden wegen Handels mit gestohlener Ware verhaften können. Für die Wahrscheinlichkeit, daß es unrechtmäßiges Gut sei, sprachen viele Gründe. Erstens: das Papier befand sich im Besitz eines bekannten Spitzbuben; solche Leute legen ihr Vermögen gewöhnlich nicht in Staatsobligationen an. Zweitens war gerade dieser Spitzbube der Beteiligung an dem Manhattan-Diebstahl verdächtig. Drittens zählten unter die in der Bank gestohlenen Staatspapiere sechsundzwanzig Stück 5-20-Obligationen zu 500 Dollars. Viertens, das gedruckte Verzeichnis, das als Beleg gedient hatte, mußte die von den Bankdirektoren am Tag nach dem Diebstahl verschickte Liste sein. Fünftens: warum bezahlte Mr. Smith den doppelten Wert für das Papier, wenn es damit nicht eine besondere Bewandtnis hatte? Aus welchem Grund konnte er es möglicherweise tun, wenn nicht, um sich davor zu schützen, daß die Obligation als Schuldbeweis gegen ihn benutzt wurde?
Dies waren gewichtige Gründe, – und doch ließen sie sich alle durch ebenso gewichtige Gegengründe entkräften.