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14. Kapitel.

Abermals waren sechs Wochen verstrichen, ohne daß in Sachen des großen Diebstahls in der Manhattan-Bank auch nur eine Verhaftung erfolgt wäre. Die Zeitungen hörten endlich auf, immer von neuem zu verkünden, daß kein Fortschritt zu verzeichnen sei – die Angelegenheit wurde totgeschwiegen; wer überhaupt noch davon sprach, tat es mit spöttischer oder zweifelnder Miene. Die Bank selbst aber befand sich in einer keineswegs beneidenswerten Lage. Ihre Kassen waren fast leer, und wenn auch nur ein kleiner Teil ihres Verlustes in barem Gelde bestand und die gestohlenen Staatspapiere unverkäuflich waren, so machte das doch die Einbuße nicht geringer. Die ganze Summe hätte ebensogut bar verloren gehen können, wenn die Wertpapiere spurlos verschwunden blieben.

Den Deponenten gegenüber konnte sich die Direktion auf die sechzigtägige Frist berufen, die ihr das Gesetz gewährte. Während dieser Frist setzte man nun alle Hebel in Bewegung, um beim Kongreß eine Bill durchzubringen, welche die Ausgabe von Duplikaten der gestohlenen Staatsschuldscheine gestattete. Inzwischen verbreiteten sich Gerüchte, die Bankdirektion habe mit den Dieben Verhandlungen angeknüpft. Die Deponenten wurden ungeduldig und argwöhnisch: solche Maßnahmen konnten leicht für sie einen Verlust von zehn bis fünfzig Prozent ihres Depots bedeuten! – Von seiten der Bank stellte man zwar ein derartiges Vorhaben vollständig in Abrede, aber das einmal erregte Mißtrauen war schwer zu verscheuchen.

Unser alter Bekannter John D. Grady hatte indessen seit dem Bankdiebstahl, der in so fataler Nähe von seiner Wohnung vorgefallen war, seinen gewohnten Handel und Wandel mit unerschütterlichem Gleichmut fortgesetzt. Wenn er einmal zufällig auf einem seiner nächtlichen Spaziergänge dem Inspektor Byrnes über den Weg lief, grüßte er ihn freundlich und erkundigte sich, ob es der Polizei noch immer nicht gelungen sei, einen der Spitzbuben zu fangen. Er für seine Person halte es für zweifelhaft, ob eine gewöhnliche Diebesbande den Einbruch verübt; wenn auch manches für diese Annahme spräche, so weise doch anderes auf einen höheren Ursprung hin. Kurzum, Herr Grady war der Meinung – und jetzt sank seine Stimme zu einem geheimnisvollen Flüsterton herab – der Inspektor werde gut daran tun, in aller Stille den finanziellen Verhältnissen gewisser Bankbeamten, vor und nach dem Diebstahl, gründlich nachzuforschen. Grady zweifelte nicht, daß hierdurch Licht in die Sache kommen werde. Was diese armen Teufel betrifft, die Sie vielleicht im Auge haben, setzte er mit gewinnender Offenheit hinzu, so möchte ich zwar nicht behaupten, daß einer von meinen Bekannten darunter sei. Gott straf' mich, wenn sie mir nicht alles bis aufs kleinste anvertrauen. Aber keiner von den Burschen hat auch nur davon geschnauft. Sie mögen sagen, was Sie wollen, ich möchte wetten, daß keiner von ihnen dabei war.

Sie könnten recht haben, Mr. Grady – entgegnete der Inspektor, der sich den Anschein gab, als habe die Ansicht desselben Eindruck auf ihn gemacht. Im übrigen ist damit noch nicht viel gewonnen. Als Beamter muß ich den Schein wahren, und so lange nicht bestimmte Beweise vorliegen, kann nicht eingeschritten werden.

Damit wünschte Herr Byrnes seinem schlauen Bekannten gute Nacht.

Wenige Tage nach einer solchen Unterredung fuhr eine fein gekleidete Dame mit großen dunklen Augen und bleichen aber schön geformten Zügen von der Cortlandstraße aus mit der Fähre über den Hudson. Drüben kaufte sie im Wartesaal eine Eisenbahnnovelle und stieg in den Salonwagen des Schnellzuges ein, der eben nach Washington abgehen sollte. Sie legte Reisetasche, Handschuhe und Pelzjacke auf den leeren numerierten Sitz gegenüber, und hatte es sich eben auf ihrem Platz bequem gemacht, um sich in ihr Buch zu vertiefen, als kurz bevor sich der Zug in Bewegung setzte, ein etwa fünfunddreißig-jähriger Herr von angenehmem Aeußern eintrat und in ihrer Nähe die Nummern der Sitze musterte. Vor dem Platz, auf dem ihre Sachen lagen, stand er wie zögernd still, und sein gutmütiges Gesicht nahm einen verlegenen Ausdruck an.

Sie blickte auf, ärgerlich über die lästige Störung; als sie jedoch das höfliche und zurückhaltende Benehmen ihres unfreiwilligen Nachbars bemerkte, schwand ihr Unmut einigermaßen, und sie sagte herablassend: »Entschuldigen Sie, dies ist wohl Ihr Platz?«

O, bitte, stören Sie sich nicht, entgegnete er, ich bedaure unendlich, ich wollte hier nur durchgehen in das Rauchcoupé.

Das ist ja hinter Ihnen, Sie kommen von da, sagte sie lächelnd über die ungeschickte Ausrede, jedenfalls nehme ich meine Sachen weg, ob Sie sich setzen wollen oder nicht. Sie steckte die Handschuhe in die Tasche, hing die Pelzjacke an einen Fensterhaken und die Handtasche darüber.

Sie hätten sich wirklich nicht bemühen sollen, bemerkte er, ich gehe jetzt doch in das Rauchcoupé, nur meinen Hut will ich hier aufhängen. Damit nahm er eine Zigarre aus dem Etui, vertauschte den hohen Hut mit einer schwarzseidenen Kappe, holte noch einen Schemel herbei, auf den sie die Füße setzen konnte, und entfernte sich mit leichter Verbeugung.

Erst als der Zug in die Nähe von Philadelphia kam, erschien er wieder und fragte: Steigen Sie hier aus?

Nein, ich fahre durch bis Washington. Aber warum setzen Sie sich nicht? Ich habe Ihren Platz nicht wieder belegt, wie Sie sehen.

Sie sind sehr freundlich, ich wollte Ihnen durchaus nicht beschwerlich fallen, entgegnete er. Wie ich sehe, haben Sie Ihr Buch bereits durchgelesen, vielleicht darf ich Ihnen das meinige anbieten; ich weiß zwar nicht, ob Sie dergleichen lieben – es ist eine Diebs- und Räubergeschichte.

Sie durchblätterte flüchtig das ihr gereichte Buch und sagte dann: Mir scheint, es lohnt sich nicht, so etwas zu lesen – im wirklichen Leben verhält sich doch alles anders, und die Zeitungen berichten uns weit merkwürdigere Dinge.

Da haben Sie ganz recht, erwiderte er verlegen, nahm den leeren Platz ihr gegenüber ein, und als hielte er es für seine Pflicht, etwas zu sagen, fuhr er nach einer Pause fort: »Warum nur die Romanschreiber nicht wirkliche Geschichten in ihren Büchern vorbringen, ich meine solche, die aus dem Leben gegriffen sind; mir selbst sind zum Beispiel Sachen zu Ohren gekommen, wie sie nicht wunderlicher sein könnten.

Die Unterhaltung mit dem ebenso höflichen wie schüchternen Herrn schien die Dame zu belustigen; anscheinend, um ihn zum Sprechen zu bringen, fragte sie näher, was denn das für Sachen wären.

O, ich weiß nicht, erwiderte er – ja, um nur eines zu erwähnen – da hat mir ein Herr von dem Bankdiebstahl in New-York erzählt, er ist einer von den Direktoren – wirklich merkwürdig, was er sagte! – Und auch bei der städtischen Verwaltung soll es manchmal sonderbar zugehen. Andere Leute wissen wohl noch weit mehr dergleichen zu erzählen als ich. Entschuldigen Sie nur, ich wollte nicht so unbescheiden sein, Ihre Zeit und Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen.

Oh bitte, wir kommen ja noch lange nicht nach Washington. Was war denn das für ein Bankdiebstahl? –

Der auf dem Broadway, wissen Sie nicht, in der Manhattan-Bank. Da sind die Kerls eingebrochen und haben einen ganzen Haufen gestohlen, zwei bis drei Millionen, sagt mein Freund. Sie müssen davon gehört haben!

Freilich, war die gleichmütige Antwort, es ist ja noch nicht lange her, und hat Lärm genug verursacht.

Eben fuhr der Zug in den Bahnhof von Philadelphia ein. Während der Herr zum Fenster hinaussah, beobachtete ihn seine Mitreisende genau. Er war offenbar in guten Verhältnissen, etwa aus der Klasse von Leuten, die gemächlich von dem Vermögen leben, das ihnen die Vorfahren vererbt haben, ohne sich um die ernsteren Zwecke und Ziele des Daseins weiter zu kümmern. Sie finden wenig Gelegenheit, den Verstand, mit dem sie die gütige Vorsehung begabt hat, zur Anwendung zu bringen, und ihre Körperkräfte, den starken Arm, die breiten Schultern, verdanken sie nicht angestrengter Arbeit, sondern den Turnübungen, die sie aus Gesundheitsrücksichten betreiben.

Der Zug setzte sich in Bewegung, und sie nahm die Unterhaltung wieder auf.

Der Manhattan-Diebstahl scheint in vollkommenes Dunkel gehüllt zu sein, bemerkte sie, das ist bei den meisten großen Bankdiebstählen so – die Polizei steht scheinbar völlig ratlos da. Vermutlich handelt sie aber in geheimem Einverständnis mit den Dieben.

Meinen Sie wirklich! –

Man hört das wenigstens von verschiedenen Seiten. Was ist denn Ihre Ansicht?

Ach, die kommt gar nicht in Betracht – wahrscheinlich haben Sie recht. Ich weiß nur, was mein Freund mir mitgeteilt hat.

Der verläßt sich also auf die Polizei?

Er sagt, es seien bisher keine Verhaftungen vorgenommen worden, weil man erst alles vorbereiten und dann einen Hauptschlag ausführen wolle. Im stillen wird indessen ruhig weiter geforscht; man kennt jeden der beim Raub Beteiligten und weiß im gegebenen Augenblick seiner habhaft zu werden. Mein Freund hat mir eine Menge Einzelheiten erzählt, die mir wieder entfallen sind – ich habe ein so schlechtes Gedächtnis; ich weiß nur noch, daß ich dachte, wie schlau doch die Polizei ist, und wie wenig Aussicht die Diebe haben, zu entkommen. Ja, richtig – jetzt besinne ich mich – er sagte, die Einbrecher wären nur hineingekommen, weil ihnen ein Angehöriger der Bank Beistand geleistet hätte. Ein gewisser – wie hieß er doch? – aber das tut nichts zur Sache – er wird polizeilich überwacht seit dem Tage des Diebstahls – und man hat entdeckt – aber ich langweile Sie nur mit meiner Geschichte – entschuldigen Sie, bitte!

Durchaus nicht, es ist mir ein sehr angenehmer Zeitvertreib.

Das freut mich, und wenn Sie nichts dagegen haben – mir fällt eben noch etwas Merkwürdiges ein: denken Sie nur, die Diebe besaßen eine genaue Beschreibung des Gewölbes und des Türschlosses – eines von den neuen Kombinationsschlössern, wissen Sie, und die hat ihnen nicht etwa ein Bankgehilfe verschafft, sondern jemand ganz anders.

Wer denn? fragte die Reisende unbefangen.

Das würden Sie schwer erraten – es war eine Dame – wenigstens lebte sie in den vornehmen Kreisen New-Yorks und ist an einen angesehenen Mann verheiratet. Er war einer unserer ersten Kaufleute, aber sein Teilhaber hat ihn betrogen und – doch um bei der Geschichte zu bleiben – diese Dame –

Das ist ja wirklich ganz merkwürdig – wie heißt denn die Dame?

Ihren Namen möchte ich lieber nicht nennen – Sie sind ihr vielleicht in Gesellschaft begegnet – und da –

Sind Sie selbst denn mit ihr bekannt?

Persönlich nicht, aber ich habe von ihr gehört. Sie soll sehr hübsch und anziehend sein; auch gilt sie für geistreich, gebildet und dergleichen; – ehe ihr Mann Unglück im Geschäft hatte, war in ihrem Salon die feinste Gesellschaft zu finden.

Was soll sie denn aber verbrochen haben?

Sie hat, man weiß nicht wie, die Bekanntschaft eines Händlers gemacht, der nichts weniger als ein Gentleman ist, wenn er auch in Juwelen macht, – sein Name ist Grady – bitte, was sagten Sie! Bei dem Gerassel versteht man sein eigenes Wort nicht.

Ich habe nichts gesagt; fahren Sie nur fort!

Wenn Sie erlauben! – Dieser Grady also hat seinen Laden gerade der Bank gegenüber; in seinem Hinterzimmer ist die Diebesbande zusammengekommen, um ihren Anschlag zu beraten. Grady ist schrecklich reich und unterstützt die Spitzbuben mit seinem Gelde; manchmal behält er die gestohlenen Dinge und Wertpapiere in Verwahrung, bis sie umgesetzt werden können. Die Dame besucht Grady auch, aber nur wenn die Diebe nicht in der Nähe sind – die haben sie nie gesehen; sie wissen nur, daß Grady sich von jemand hat helfen lassen, der in der Bank Zutritt hat. Ja so – ich habe Ihnen noch gar nicht gesagt, daß Gelder der Dame bei der Bank stehen: so kam sie öfters hin und ließ sich einmal von einem Gehilfen im Innern herumführen. Sie gab Grady eine Beschreibung davon; der teilte sie den Dieben mit, und so war der Grund für die Ausführung gelegt. Ja – so unglaublich das klingt – sie ließ sich von Grady alle ihre Rechnungen bezahlen, und ein Nadelgeld obendrein; manchmal fuhr sie vom Hause weg, als ginge sie in Gesellschaft, und schlich sich dann heimlich in Gradys Laden zu allen Stunden der Nacht. Das ist doch ein wahrer Skandal!

Woher wissen Sie – wer hat diese Geschichte erdacht – und sie Ihnen erzählt? –

Ich hielt es selbst für die reinste Erfindung, aber wissen Sie, mein Freund hat die Berichte der Geheimpolizisten, die mit der Ueberwachung beauftragt waren, in seinem Pult; man ist ihr auf Schritt und Tritt gefolgt, überallhin, bei Tag und bei Nacht, was sie gesprochen, ist Wort für Wort aufgeschrieben worden, jeder Cent, den sie ausgegeben, aufs genaueste notiert, und viele andere Einzelheiten dazu. Ihr ganzes Tun und Treiben ist so durchsichtig für die Polizei, als wohnte sie in einem Glashaus mit elektrischer Beleuchtung.

Unbegreiflich, daß sie nichts davon gemerkt haben soll! Nun und was weiter? –

Oh, es langweilt Sie gewiß; ich habe gar kein Erzählertalent, und der Gegenstand ist höchst unerfreulich. Reden wir lieber von etwas anderem!

O nein, es interessiert mich, Näheres zu erfahren. Was meinen Sie, wird man die Dame verhaften?

Ich glaube wohl, aber nicht gleich. Die Polizei hat einen Plan, und wenn der gelingt, läuft sie von selbst geradeswegs in die Falle. Eigentlich sollte ich nicht davon sprechen, ich habe es nur im Vertrauen erfahren, und bis die Sache ausgeführt ist, muß sie natürlich geheim bleiben.

Sie brauchen bei mir nichts zu fürchten! Was könnte ich auch verraten, wenn ich keinen Namen weiß!

Denken Sie nicht etwa, das Ganze sei meine Erfindung! Es ist mir als völlig verbürgt mitgeteilt worden, so daß ich es wohl oder übel glauben muß, wie unwahrscheinlich es auch klingt!

Natürlich, warum sollten Sie nicht? Mir kann es ja ganz gleich sein, ob die Geschichte wahr ist oder nicht, aber sie interessiert mich.

So? Nun, es kam noch mehr dazu: gestern abend nach elf Uhr war die sogenannte Dame über eine Stunde bei Grady. – Ich muß Ihnen noch sagen, daß die Diebe nur wenig bares Geld aus der Bank gestohlen haben, meist Staatspapiere und Schuldverschreibungen, die sie nicht in den Handel bringen können. Die verwahren sie an einem sichern Platz, wo die Bank ihnen nicht beikommen kann, bis die Direktoren endlich vor der Wahl stehen, ob sie ihre Zahlungen einstellen oder mit den Dieben in Unterhandlung treten wollen. Bei einem etwaigen Vergleich würden die Diebe dann den Vorschlag machen, der Bank die Papiere für einen gewissen Prozentsatz des Wertes zurückzuerstatten. Ich weiß nicht recht, ob ich mich klar ausgedrückt habe.

Ich verstehe Sie ganz gut, erwiderte die Dame mit kaum hörbarer Stimme.

Die Bank hatte nur ein Mittel, diesen äußersten Schritt zu vermeiden – wenn sie nicht mehr hoffen durfte, die gestohlenen Obligationen selbst zurückzuerhalten – nämlich die Ausgabe von Duplikaten an ihrer Stelle. Die Erlaubnis hierzu war jedoch von einer besonders vom Kongreß zu erlassenden Bill abhängig, welche die Direktoren eifrig durchzusetzen strebten. Aber auch die Diebe waren auf ihrer Hut; sie hatten kaum die Absicht der Direktoren gemerkt, als sie auch darauf ausgingen, das Zustandekommen der Bill zu hintertreiben oder wenigstens zu verzögern. Grady, von seinen Spießgesellen um Rat gefragt, erklärte ihnen, daß es nur einen Ausweg gebe: man müsse jemand in Washington haben, um die einzelnen Kongreßmitglieder zu bearbeiten, das heißt, sie durch Geld oder andere überzeugende Gründe zu bewegen, gegen die Bill zu stimmen. Grady versprach, er wolle eine Summe Geldes zur Bestreitung der Kosten vorschießen und eine Vertrauensperson nach Washington schicken, um den Bestechungsversuch zu machen, wenn die Diebe ihrerseits den gleichen Betrag aus dem gestohlenen, baren Gelde hinzufügen würden. Alles, was die Diebe aufbringen konnten, genügte indessen lange nicht, und schließlich einigte man sich dahin, daß Grady noch einmal soviel geben solle, als er zuerst beabsichtigt hatte. Gelang der Plan in Washington, und kam es dann zu einem Vergleich mit der Bank, so wurde ihm dagegen die Hälfte der Summe zugesichert, welche die Direktion den Dieben auszahlte. Betrug dieselbe zum Beispiel fünfzig Prozent, so erhielten die Diebe etwa eine Million Dollars und Grady eine halbe Million ganz für sich allein.

Um aber wieder auf den gestrigen Abend zu kommen, so brauche ich Ihnen nicht erst zu sagen, daß jene Dame die Vertrauensperson war, die für Grady den Bestechungsversuch in Washington machen sollte. Sie kannte dort einflußreiche Männer, welche sie mit den Ueberredungskünsten, die ihr zu Gebote standen, zu gewinnen hoffte. Eine Frau, die klug ist und schön, und das Geld nicht spart, hat leichtes Spiel – doch da fällt mir ein, sie sollte ja heute morgen mit eben diesem Zug abfahren und – – – aber, was ist Ihnen denn, Mrs. Nelson! rief der Herr plötzlich abbrechend in ganz verändertem Ton, ich dachte mir's doch, daß meine Geschichte Ihnen zu langweilig wäre. Warum sagten Sie mir's nicht? Fühlen Sie sich nicht wohl, soll ich Ihnen ein Glas Wasser holen?

Seine Mitreisende lehnte mit halbgeschlossenen Augen auf ihrem Sitze zurück; Leichenblässe bedeckte ihr Gesicht, und ihre Lippen bebten – aber nur einen Augenblick, dann hatte sie die Fassung wiedergewonnen und richtete sich mutig empor.

Sie redeten mich eben mit einem Namen an – sagte sie stockend und mit tonloser Stimme.

Ich? erwiderte er, da habe ich mich wohl versprochen. Nicht die geringste Ahnung habe ich, wer Sie sind, – wenn Sie es nicht wünschen! Nehmen Sie sich Zeit, regen Sie sich nicht auf, sondern überlegen Sie ruhig, was Sie wollen, und sagen Sie mir's dann!

Er stand auf, steckte die seidene Kappe wieder in die Tasche des Ueberziehers, nahm seinen Hut zur Hand und sah zum Fenster hinaus.

In zehn Minuten sind wir in Washington, sagte er dann, wieder Platz nehmend, wenn ich nicht genötigt werde, weiterzureisen, möchte ich gern dort aussteigen und mit dem nächsten Zug nach New-York zurückfahren. Ich erwarte noch Bescheid, bevor der Zug anhält. Er zog die Uhr heraus: genau zehn Minuten! wiederholte er.

Was hat man mit – dieser Dame – vor? fragte sie.

Für jetzt gar nichts; man will über das, was sie bereits getan hat, womöglich ein Auge zudrücken. Sie hat bei dem Diebstahl des Geldes geholfen, aber bis jetzt noch nichts unternommen, um die Wiedererlangung desselben zu verhindern. Beharrt sie darauf, den Bestechungsversuch zu machen, so ist man natürlich gezwungen, sie festzunehmen. Wenn man sie jedoch unbehelligt läßt, erwartet man dafür, daß sie ihrerseits den Dieben nicht länger Vorschub leistet; ja man würde vielleicht sogar ihre Hilfe im Interesse der Gegenpartei beanspruchen – falls sich dies als notwendig herausstellt. Das ist ein billiges Verlangen, meinen Sie nicht auch?

Da keine Antwort erfolgte, zog er aus einer ledernen Brieftasche ein zusammengefaltetes Papier heraus und fuhr fort: Man denkt sich den Verlauf der Sache etwa so: dies Papier enthält eine kurze Uebersicht von allem, was ich soeben gegen Sie erwähnt habe. Die betreffende Person würde aufgefordert werden, das Schriftstück durchzulesen und, falls sie es für tunlich hält, etwa folgende Worte darunter zu setzen: Ich habe vorstehende Angaben gelesen und bekenne, daß sie die Wahrheit enthalten – nebst ihrer Namensunterschrift. Dagegen würde man sich verpflichten, das Dokument nur zu gebrauchen, wenn die Unterzeichnete unternähme, was ich vorhin als unstatthaft anführte. Vor allem dürfte John Grady nicht von dem Vorgefallenen unterrichtet werden. – Wünschen Sie vielleicht selbst einmal einen Blick auf das Blatt zu werfen?

Sie nahm ihm das Papier aus der Hand und las es von Anfang bis zu Ende durch, ohne mit einer Wimper zu zucken: dann blickte sie zu ihm auf: ich glaube, sie würde es unterschreiben, sagte sie.

Wenn Sie der Ansicht sind, tun Sie es vielleicht an ihrer Stelle – das entspricht dem Zweck vollkommen, nur müssen Sie den Namen jener Dame daruntersetzen. – Ah, da ist Wilmington! Wir haben hier einige Minuten Aufenthalt – vielleicht läßt sich das Geschäft schnell abmachen, und ich brauche nicht erst nach Washington zu fahren. Die Unterschrift muß natürlich von zwei Zeugen beglaubigt werden. Im Rauchcoupé ist ein mir bekannter Herr, den ich mit Ihrer Erlaubnis herbeiholen will.

Nein – nein – nicht noch einen! rief sie mit heiserer Stimme und bleichen Lippen.

Es wird jener Dame nicht das geringste ausmachen, verlassen Sie sich darauf. Er ist ein höchst verschwiegener Mann und zudem bereits von allem unterrichtet. Aber – ganz wie Sie wünschen! –

Nun gut denn, sagte sie nach kurzer Pause, zu Boden blickend, während ein flüchtiges Rot ihre Wangen färbte.

Der Herr verließ das Coupé und kehrte bald darauf in Begleitung eines großen, mageren Mannes von mittleren Jahren zurück, mit dem er einige leise Worte wechselte. Der neue Ankömmling warf aus seinen scharfen Augen einen Blick auf die Dame, verneigte sich und überreichte ihr eine gefüllte Tintenfeder. Sie nahm dieselbe, schrieb einige Worte auf dem Knie und gab die Feder zurück. Der große magere Mann schrieb darauf in die linke Ecke: Thimoteus Naxon, Zeuge – und gleich darunter setzte der Herr seine Unterschrift: Thomas Byrnes, Polizeiinspektor. Beim Anblick des Namens zuckte die Dame unwillkürlich zusammen, und ein leichter Schauder durchlief ihre Glieder, während sie das dunkle Auge auf ihren Reisebegleiter richtete. Doch dieser sagte dann freundlich:

Seien Sie außer Sorge; ich habe noch nie mein Wort gebrochen und werde es auch diesmal halten. Seit vielen Monaten sind Sie nicht so sicher und ungefährdet gewesen wie in diesem Augenblick! – Ich empfehle mich Ihnen! –


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