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5. Kapitel.

Am Morgen des 27. Oktober 1878, der auf einen Sonntag fiel, ging die Sonne klar über New-York auf. Es mochte wohl nach halb sieben Uhr sein, als ihre Strahlen zuerst das fast menschenleere Straßenpflaster trafen.

Wenn am Samstag abend die Arbeit der Woche beendet ist und der Lohn ausgezahlt, sucht jeder seine Erholung, wie er sie sich gestatten kann. An keinem andern Abend sind die Theater und Konzertsäle so besucht, aber auch die Vergnügungslokale der untern Stände zeigen ein zahlreicheres Publikum, in den Branntweinschenken geht es lustig her, und die angeheiterten Kunden tun dann öfter des Guten zu viel, als zu andern Zeiten. Deshalb machen sich auch die Schutzleute, welche die Runde haben, für Sonnabend Nacht stets auf vermehrte Arbeit gefaßt, und bis zum andern Morgen ist die Polizeiwache gewöhnlich überfüllt. Auch für die Taschendiebe, die im dichten Straßengedränge ihr Handwerk treiben, blüht der Weizen an diesem Abend, denn die Taschen der Vergnüglinge sind selten leer, ihre Sinne jedoch oftmals mehr oder weniger umnebelt.

Kurz, der Schluß der Woche wirft manche Ordnung um, und oft entsteht ein wahrer Hexensabbat als Rückschlag einer sechstägigen Ueberanstrengung, mit der Aussicht auf eine sechsunddreißigstündige Erholungszeit.

Ein ganz anderes Bild aber zeigt der Sonntagmorgen. Die Zechbrüder schlafen ihren Rausch aus; selbst wer keinen besondern Grund hat der Ruhe zu pflegen beeilt sich nicht, aufzustehen – alle Läden und Bureaus sind ja geschlossen, und draußen ist für niemand etwas zu holen, der nicht die Kirche besuchen oder einen Gang durch den Park machen will. Hie und da sieht man wohl einen müden Nachtschwärmer den Hausschlüssel in das Türschloß stecken oder eine Frauengestalt in die Frühmesse eilen, sonst sind die Straßen leer, nur die Schutzmänner, deren Amt es ist, am Sonntag die Bankhäuser und die großen Kaufläden im Geschäftsviertel der Stadt zu bewachen, machen die Runde.

Die Nacht vom 26. auf den 27. Oktober war verhältnismäßig ruhig verlaufen, und nichts deutete darauf hin, daß dieser friedliche Zustand im Lauf des Tages unterbrochen werden sollte. Um halb sieben Uhr war der Broadway von der Battery bis zur Vierzehnten Straße so menschenleer, wie der Korridor eines Sommerhotels im Monat Dezember. Der erste, welcher die Bleeckerstraße herunterkam, war ein italienischer Kastanienverkäufer, der seinen Handkarren vor sich herschob. An der Südostecke des Broadway machte er Halt, nahm das Tuch von seiner Ware ab und traf Vorkehrungen für das Tagewerk. Der Italiener hatte seinen Platz gut gewählt, nicht selten verdiente er an die fünf Dollars den Tag. Jetzt aber war es noch zu früh für etwaige Kunden. So lehnte er sich denn mit dem Rücken an das Eckhaus und starrte gedankenlos nach dem großen alten Gebäude, welches ihm gegenüber auf der andern Straßenseite stand.

Dieser Backsteinbau mit dem rotbraunen Bewurf ist sechs Stockwerk hoch und ohne jeden architektonischen Schmuck. Nur am Haupteingang, der auf den Broadway mündet, bilden dunkelangestrichene, eiserne Säulen einen schmalen Vorbau, den ein durch starke Eisenstangen geschütztes Tor verschließt. Ueber den Säulen und unmittelbar unter den Fenstern des Stockes ist ein Bienenkorb in Stukkatur angebracht, um welchen die geschäftigen Bienen schwärmen, die ursprüngliche Vergoldung hat aber mit der Zeit ihren Glanz verloren. Dies Sinnbild soll zu Sammelfleiß und weiser Sparsamkeit aufmuntern, es lehrt, das erworbene Gut nicht zu vergeuden, sondern Vorrat einzutragen für die Not und den Winter des Lebens. Warum gerade dieses Gebäude eine solche Mahnung verkündet, zeigt ein Blick auf die dort befindliche Inschrift: es ist die Manhattan-Ersparnis-Bank, das bekannteste und solideste Institut dieser Art in der ganzen Stadt. Ihre Beamten und Direktoren gehören zu den zuverlässigsten Männern New-Yorks, und hinter der schweren Eisentür des feuerfesten Gewölbes sind Millionen aufgehäuft, die aus den Sparkassen der vielen tausend meist wenig bemittelten Leute fließen, die der Bank ihre Gelder anvertrauen. Die Manhattan-Bank hat sich während ihres langjährigen Bestehens eines ungestörten Glücks und Gedeihens erfreut, und hinter ihren starken Eisentüren macht sie den Eindruck einer durch nichts zu erschütternden glücklichen Zukunft. Dies Gefühl der Sicherheit, das der ganze Bau erweckt, wird noch erhöht durch die riesigen Fenster von Spiegelglas, welche in geringer Höhe über dem Boden die ganze Front des Gebäudes einnehmen, die nach dem Broadway hinausgeht. Auch auf der nach der Bleeckerstraße gelegenen Seite reiht sich ein Fenster an das andere, so daß das ganze Innere des großen Geschäftsraums durch das Licht des Tages erhellt ist und von jedem auf der andern Straßenseite Vorübergehenden mit einem Blick übersehen werden kann. Nur das feuerfeste Gewölbe, in welchem die Gelder und Wertpapiere verschlossen sind, ist zum Teil hinter einer Art Scheidewand verborgen, die zugleich die Pulte der Schreiber und Gehilfen von dem übrigen Raume trennt. Wollte ein Einbrecher den tollkühnen Versuch machen, jene massiven Türen zu sprengen, er wäre dabei keinen Augenblick weder des Tages noch der Nacht vor Entdeckung sicher! Der Fall ist ganz undenkbar! –

Skizze

Außer dem Haupttor auf dem Broadway, hat die Bank noch einen Nebeneingang in der Bleeckerstraße; dieser ist ziemlich lang und schmal und mit einem hölzernen Schutzdach gegen die Witterung versehen; eine dritte Tür führt nicht in die Bankräume, sondern zu der Treppe, auf welcher man in die fünf oberen Stockwerke gelangt. Diese werden nicht für die Bank benützt und stehen in keinerlei Verbindung mit derselben, sondern sind an verschiedene angesehene Geschäftshäuser vermietet. Ebendaselbst befindet sich auch die Wohnung des Bankaufsehers und seiner Familie. Es ist ein höchst verantwortlicher Posten, den dieser Hüter von Millionen einnimmt, ihm sind Geheimnisse anvertraut, um deren Besitz mancher ein Vermögen gäbe, und in welche mancher andere um keinen Preis der Welt eingeweiht sein möchte.

Die Kellerwohnung des Gebäudes ist an einen gewissen Kohlmann vermietet, der daselbst sein Gewerbe als Barbier betreibt. Da nun dieses Geschäft am Sonntag keine Unterbrechung erleidet, sondern im Gegenteil gerade die meisten Kunden früh am Morgen erscheinen, um sich sonntäglich zustutzen und rasieren zu lassen, so stand Herr Kohlmann am 27. Oktober nicht später als gewöhnlich auf. Als er aus seiner Ladentür trat, war es gerade fünf Minuten nach halb sieben, wie ihm ein Blick auf die große Uhr zeigte, die sich unmittelbar über dem Geldgewölbe der Bank befindet.

Herr Kohlmann dachte für sich, wie trübselig solch ein Bankhaus an einem Sonntag aussieht; er verglich in Gedanken das behagliche Leben der reichen Direktoren mit seinem eigenen mühsamen und anstrengenden Erwerbe; dann ging er in den Laden zurück, machte Feuer an unter dem Wasserkessel und legte seine Bürsten und Rasiermesser zurecht.

Bald darauf kam der Schutzmann, der auf seiner Runde alle zwanzig Minuten an der Bank vorbeigeht. An der Ecke stand er still. Eine junge Frau mit dem Gebetbuch in der Hand kam des Wegs und fragte ihn, wie viel Uhr es sei. Er schaute zu der Uhr am Bankhaus empor: sie zeigte gerade drei Viertel auf sieben. Als fünfzehn Minuten später ein anderer Schutzmann, der nach dem Hauptquartier in der Mulberrystraße wollte, zu den Fenstern der Bank hinaufsah, bemerkte er, wie ein Mann mit starkem Backenbart und in leinenem Rock eifrig damit beschäftigt war, das Getäfel an jener Zwischenwand abzustäuben, hinter der sich die Schreibpulte, sowie der Eingang in das Geldgewölbe befanden. Der Mann – es mußte wohl der Aufseher sein – sah zufällig auf, erblickte den Polizeidiener, nickte ihm vertraulich zu und fuhr dann in seiner Arbeit fort, während der von der Nachtwache ermüdete Polizist sich nach dem Hauptpolizeiamt begab.

Gegen neun Uhr endlich begann der Broadway und die angrenzenden Straßen ein feiertägliches Aussehen anzunehmen; immer zahlreicher wurden die Gruppen geputzter Menschen, die sich der klaren Herbstluft und des Sonnenscheins erfreuen wollten. Alles verlief ruhig und regelmäßig, wie gewöhnlich. Noch zehn, fünfzehn, zwanzig Minuten – und dann zeigte sich dem ehrbar dahinwandelnden Sonntagspublikum plötzlich ein Anblick, vor welchem alles andere in den Hintergrund trat!


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