Adolf Hausrath
Elfriede
Adolf Hausrath

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Zwölftes Kapitel

Am folgenden Morgen strich Nik in verdüsterter Stimmung durch den Garten. Sein Leben hatte in den letzten Wochen aus einer ununterbrochenen Kette sittlicher Niederlagen bestanden, die heute der Reihe nach an seinem inneren Auge vorüber gingen. Die Ausstoßung aus seiner Verbindung, die Bedrohung mit Wegweisung von der Ackerbauschule, das Erscheinen des Vaters, und die daran sich knüpfenden abscheulichen Scenen, das Alles lag wie ein wüster Traum hinter ihm. In solcher geistiger Verfassung heimkehrend, hatte er natürlich keinen Antrieb empfunden, alte Bekanntschaften zu erneuern oder sich im Gärtnerhäuschen unter die hellen Augen von Frau Glimm zu stellen, oder vor die Augen, die er noch mehr fürchtete, obwohl sie blind waren. Seine Verlobung mit Elfriede war er jetzt geneigt, wie die Eltern als ein kindisches Spiel zu betrachten, das man am besten in beiderseitigem Schweigen begrabe. Da Fritz noch nicht von der Universität zurück war, ward es ihm auch leicht, sich vor den Gärtnersleuten, die ihn gern mieden, verborgen zu halten. Der rothe Müller war in dieser Zeit der Selbstverachtung und Selbstwegwerfung der Einzige, mit dem er zuweilen eine von Menschenhaß und Spott getränkte Unterhaltung führte. Jetzt aber wußte er, daß er sich mit Elfrieden begegnet habe. Er hatte sie nicht gesehen, sie ihn nicht, aber sie hatte seine brutalen Worte gehört und war Zeuge gewesen, wie er vor aller Welt gleich einem Knaben gezüchtigt worden war. So weit sein schmerzendes Haupt sich des gestern Geschehenen erinnerte, mußte er ihr völlig verächtlich erschienen sein. Dessen, was er gethan, schämte er sich aber weit weniger als der Behandlung, die ihm in ihrer Gegenwart zu Theil geworden war. Der Scene mit dem Pfarrer, bei dessen Erscheinen Käthchen sofort die Flucht ergriffen hatte, erinnerte er sich nur noch dunkel, aber daß er in Gegenwart einer großen Gesellschaft von dem eigenen Vater, den er dafür nicht einmal zur Rechenschaft ziehen durfte, geohrfeigt worden war, diese Schmach würgte ihn wie ein Krampf in der Kehle. Mit sich und der Welt zerfallen schlich er durch den Garten, stieg den Rebberg in die Höhe und setzte sich mit schmerzendem Haupte endlich auf einer sonnigen Weinbergmauer nieder.

»Das Beste wäre wohl, diesem elenden Leben ein Ende zu machen«, seufzte er. »Wie haben sie mich beneidet in Neudorf und es mir täglich vorgesagt, daß ich der einzige Sohn, der reiche Erbe, der Reichsbaron sei, bis sie mit mir machen konnten, was sie wollten, und nun würde der Elendste von ihnen nicht mit mir tauschen.«

Er stampfte wüthend auf die Erde und zerpflückte einen Zweig, den er abgerissen, in tausend kleine Fetzen. Nach dieser Schmach hier zu bleiben, schien ihm völlig unmöglich. Konnte er doch keinem der Dienstboten mehr in die Augen sehen, ohne sich zu schämen. Aber wohin und was ergreifen? Was sollte er aus sich noch machen, nachdem es mit allen seitherigen Plänen nichts war? Einen Soldaten? – Er war wegen Schwächlichkeit bereits zurückgewiesen worden. Studiren? – Er würde das Examen nicht bestehen. Gewerbtreibender? – Wie konnte ein Reichsbaron auf dem Comptoir oder in der Werkstätte arbeiten! Stumpf brütete er vor sich hin. Sich tödten oder wieder trinken, um die angethane Schmach zu vergessen, das schien ihm der einzige Ausweg. So schlug er denn den Weg nach der Schenke ein. Durch das Schloß wollte er nicht, um nicht gesehen zu werden. Er betrat deshalb einen einsamen Pfad, der hinter dem Gärtnerhäuschen in vielen Krümmungen nach dem Dorfe führte. Der Weg war von den Reben fast überwachsen, so selten ward er begangen. Die Krähen, der Störung ungewohnt, fuhren schreiend neben ihm auf und flogen nach dem Walde. Ein Häschen, das von dem Klee zwischen den Rebwegen genascht hatte, floh in großen Sätzen den Berg hinauf. Doch in Nik's Kopfe sah es so wüst aus, daß er weder rechts noch links zu schauen vermochte. Plötzlich aber hielt er mit einem leisen Aufschreie inne. Als er bei einer einsamen Bank die Ranken des Weinlaubs zurückschlug, stieß er auf eine weiße Frauengestalt, die das Gesicht auf den hölzernen Sitz gedrückt, am Boden kniete. Nik hätte sie fast mit den Füßen gestoßen, so unerwartet fand er sie an seinem Wege.

»Elfriede«, rief er erschreckt, »was thust Du hier?« Bei dem Tone seiner Stimme wendete die Blinde ihm erschreckt ihr bleiches, schwermüthiges Antlitz zu. Er hatte sie seit seiner Ankunft nicht gesehen, und unwillkürlich fühlte er sich jetzt durch die wunderbare Schönheit dieser feinen Züge getroffen. Sie sah leidend und traurig aus, und ihre blinden Augen waren vom Weinen geröthet. Wie sie sich geändert hatte, seit er an der Statue der Psyche sie zuletzt gesprochen! Als sie schwieg, sagte er mitleidig: »Mit verweinten Augen?«

»Ja, dazu taugen sie noch«, erwiderte die Blinde bitter, und plötzlich fiel Nik ein, was er sich ganz aus dem Sinne geschlagen, daß er selbst diese blinden Augen zu verantworten habe, »sammt diesen Thränen«, setzte eine Stimme in seinem Herzen hinzu. Bei diesem Gedanken schien der böse Geist von ihm zu weichen, er schüttelte seine Müdigkeit ab und sagte leise: »Bitte, Elfriede, stehe auf. Warum liegst Du hier an der Erde?«

»Ich habe gebetet«, erwiderte die Blinde ruhig, erhob sich von ihren Knieen und setzte sich auf die Bank, um ihn vorüber zu lassen. Er wollte auch schweigend vorübergehn. Aber es war etwas in dem Tone ihrer Stimme, was ihn festhielt. Statt weiter zu gehn setzte er sich auf dem kleinen Bänkchen hart neben sie, und nachdem er eine Weile schwermüthig ihre traurigen Züge betrachtet, brachte er sein Haupt ihr ganz nahe' und seufzte: »Arme Elfriede.« Sein heißer Odem schlug wie eine Flamme in ihr Ohr, ein Schauder flog durch ihre zarte Gestalt und sie rückte hastig zur Seite.

»Nik, Du bist nicht mehr derselbe,« sagte sie dann in schmerzlichem Tone. »Auch Deine Stimme ist anders geworden.«

Nik schwieg eine Weile, dann erwiderte er: »Du hast recht, vor mir zu schaudern, Elfriede! Ich selbst möchte mich am liebsten aus dem Wege räumen wie etwas, was diese schöne Welt nur schändet und von der Sonne nicht beschienen werden sollte. Noch gestern stand ich an dem Strome und wollte hinuntertauchen, um drunten Antwort zu suchen auf alle die Fragen, die mein verfehltes Leben mir vorlegt. Der Brunnen ist tief, aber wer weiß, ob auf dem Grunde die Wahrheit liegt? Vielleicht tauchen wir nur aus dem einen Reiche des Trugs in ein anderes.«

Während er so sprach, wendete ihm die Blinde befremdet ihr bleiches, schönes Antlitz zu. Die leeren Augen, an deren Anblick er sich nicht gewöhnen konnte, waren starr auf ihn gerichtet, und ihre Miene drückte Verwunderung aus, ihn in so ganz anderer Stimmung zu finden, als sie erwartet hatte. »Du frevelst«, sagte sie vorwurfsvoll. »Denkst du nicht an die Deinen?«

Er lachte höhnisch auf. »Es wäre deshalb wenig Schmerz weiter in der Welt, weil ich sie verließe. Selbst meine Mutter sagte mir vorhin: ›Wenn sie mich ertrunken aus dem Flusse zögen, würde sie der Anblick weniger entsetzen, als mich noch einmal so zu sehen wie sie mich gestern sah‹. Ich kann ihr nichts versprechen, so ist es wohl am besten, ich folge ihrem Rathe.«

»Und die Sünde scheust Du nicht?« fragte Elfriede ernst.

»Sünde!« lachte Nik bitter. »Niemand hat mich gefragt, ob ich geboren werden wolle, warum soll ich erst fragen, ob ich sterben darf?«

»Wer sagt Dir«, erwiderte Elfriede, »daß es nicht ebenso deine eigene Wahl war, in dieser Welt zu sein, wie Du Dich jetzt in frevler Willkür in eine andere stürzen willst, die Dir, wie Du kommst, nichts Gutes bringen kann?«

Nik schaute erstaunt zu Elfrieden hinüber, die ihr schönes Antlitz in die kleine Hand gestützt hatte und mit ihren blinden Augen starr vor sich sah. »Du redest seltsam«, sagte er nach einer Weile. »Aber auch ich muß oft denken: Es steckt wohl irgend ein Geheimniß dahinter. Vielleicht ist der Druck, der auf mir liegt, seit ich zum Bewußtsein erwacht bin, eine Strafe für etwas, was ich in einer andern Welt verbrach. Mit meiner Geburt schon begannen meine Qualen. Als ich schreiend in den Windeln lag, hatte ich doch noch nichts gethan, was einen so elenden Zustand verdiente. In den Verhältnissen, in denen ich aufwuchs, konnte ich auch nicht anders werden als ich wurde und bin, und doch klagt eine Stimme mich fort und fort an, all' das Elend sei meine Sünde, meine Schuld. Nun, dann muß ich wohl vor Jahrtausenden einmal etwas begangen haben, was diese Strafe über mich brachte, denn die Strafe begann ja schon mit dem ersten Tage meines Lebens.«

In Elfriedens bleichem Antlitz war bei Nik's Worten der bittere Zug verschwunden, und der gewohnte Ausdruck milder Theilnahme sprach aus ihren feinen Zügen.

»Nein, Nik«, sagte sie. »Wenn wir uns unglücklich fühlen, ist es nur, weil wir böse sind, nicht, weil wir ehemals böse waren. Dieses Gesetz, daß die Bösen nicht glücklich sind, geht durch die ganze Natur. Warum klingt der Schrei des Raubvogels so trüb und klagend, warum wimmert die Katze, die das Vogelnest umstreicht, so traurig und wehleidig, daß man wunder meinen könnte, welches Unrecht ihr geschehe, während die harmlosen Waldvögel den Jubel und die Lebensfreude in ihrem kleinen Herzen nicht zu bergen wissen? Warum flechten die bösen Krähen mißtrauisch ihre Nester in die höchsten Zweige, während harmlose Grasmücken und Nachtigallen hart am Wege nisten? Weil die Bösen trüb, mißlaunisch, argwöhnisch, voll Haß gegen alle Anderen sind, und die Guten glücklich und voll Vertrauen. Sei gut, Nik, und Du wirst das Leben nicht mehr als ein Unglück empfinden.«

»Ich kann nicht mehr gut sein«, sagte er dumpf. »Ich fühle mich matt und niedergeschlagen bis ich getrunken habe, und habe ich angefangen zu trinken, so muß ich fortfahren; ich habe keine Macht mehr über mich, ich kann die thierische Gier nicht mehr bezwingen. Niemand könnte die Abspannung ertragen, die mich am Morgen quält, und habe ich angefangen, sie zu vertreiben, so höre ich nicht mehr auf. Auch eben war ich auf dem Wege nach der Schenke«, setzte er dann mit einem Ausdrucke grimmigen Hohnes hinzu, der Elfrieden tief durch die Seele schnitt.

»So suche Gesellschaft«, sagte die Blinde leise. »Oh, wenn nur Fritz hier wäre!«

»Ja, es war mein Unglück, daß Ihr mich verließet«, erwiderte Nik traurig und hoffnungslos.

Elfriede seufzte und fuhr mit beiden Händen nach ihren reichen blonden Haaren, um sie zurückzustreichen, damit ihre heiße Stirne sich kühle, Nik sah dabei, daß sie seinen Ring noch immer trug, und es war, als ob eine matte Lebensregung bei diesem Anblick in seinem inneren Menschen sich einstelle. Schüchtern ergriff er ihre Hand. Aber sie zog sie zurück, als ob sie etwas Unreines gestreift habe, und sagte wie schaudernd: »Oh Nik, was hast Du aus Dir gemacht! Deine Hand ist kalt, wie die eines alten Mannes.« Verletzt wandte er sich von ihr ab. Sie aber sprach leise: »Nik, man kann wollen, glaube mir, man kann.«

»Was soll ich Dir schöne Worte vormachen«, erwiderte Nik düster. »Ich habe schon so viel versprochen und nicht gehalten, so heiße Vorsätze gefaßt und übertreten. Es ist mir fast eine Wohlthat, offen zu sagen, daß ich ein moralischer Bettelmann bin und niemand weiter auf mich rechnen soll. Die Versuchung wird wiederkommen, ich werde sie vielleicht einmal bestehen, aber dann wird sie einen neuen, stärkeren Anlauf nehmen, und ich werde rettungslos zurückgleiten in den Schmutz, aus dem keine rettende Hand mich emporzieht.«

»So komme zu mir, Nik«, sagte Elfriede, indem sie ihr kummervolles, bleiches Gesichtchen ihm zukehrte, und wiederum erschrak er vor den unheimlich glänzenden und doch so leeren Augen, die ihn wie ein ewiges Geheimniß anschauten. »Ich will mit Dir plaudern, ich will Dir die Harfe spielen, wir wollen zusammen singen, Du sollst mir erzählen, was im Garten vor sich geht. Ach ich lasse mir so gern erzählen, welche Blüthen jetzt blühen. Es sind ja dieselben Sträuche und Bäume, die auch ich noch gekannt habe.«

»Du bist mein guter Engel«, sagte Nik gerührt. »Siehe, manchmal ist es mir, als ob wir in unvordenklicher Zeit uns schon gekannt hätten. Oft wird es im tiefen Schlafe mir klar, daß dieses Leben nur ein Traum ist, und daß es ein waches Leben gab, in dem ich wußte, wer ich bin, woher ich kam und was ich sollte. Und stets bist Du dann an meiner Seite und leitest mich, und aller Schmerz ist dann von mir genommen.«

Elfriede lächelte. »Wenn wir erwachen aus diesem Traume, so werden wir Alles erfahren. Aber versprich mir, Nik, daß Du den Traum nicht enden willst, bis Gott Dich weckt!«

»Er ist schwer, dieser Traum«, seufzte Nik leise, »aber wenn schwere Träume am tiefsten uns schrecken, erwacht der Schläfer von selbst. Darauf rechne ich.«

»Gut«, sagte Elfriede, »auch damit will ich zufrieden sein. Des Lebens Kern ist bitter, aber dadurch, daß man sich das immer vorsagt, wird er nicht süßer. Nochmals versprich, daß Du ein Mann sein willst!« Sie streckte ihm ihre kleine zarte Hand entgegen, die Nik leidenschaftlich küßte. Da erhob sie sich.

»Komm, führe mich durch den Garten«, sagte sie. »Ich bin lange nicht drüben gewesen. Gestehe ich es nur, ich fürchtete mich, Dir zu begegnen.«

Nik erhob sich und gab ihr den Arm. So kehrten sie nach dem Parke zurück und waren bald in Erinnerungen aus ihrer Jugendzeit vertieft. Der Morgen verstrich, ehe Nik es gedacht hatte. Als die Glocke zum zweiten Frühstück rief, war es ihm leid, von Elfrieden Abschied nehmen zu müssen, aber die Stunde der Versuchung war vorbei. Er setzte sich nach dem Frühstück, bei dem zwischen ihm und den Eltern kein Wort gewechselt wurde, auf seine Stube und benutzte den Nachmittag, um ein in Neudorf angefangenes Studienheft, das er dort nach wenigen Tagen hatte liegen lassen, mit Hülfe eines wissenschaftlichen Werkes zu vervollständigen. So brachte er die Stunden bis zur Tafel glücklich hin. Bei Tisch versuchte er, sein Verhältniß zu den Eltern wieder herzustellen, aber der Vater beantwortete diesen Versuch, eine Unterhaltung anzuknüpfen, nur mit einem wüthenden Blicke, die Mutter seufzte. Das warf ihn in seine alte, bittere Stimmung zurück. Er erhob sich sobald als möglich und streifte unmuthig im Garten umher. Wenn die Eltern ihn von sich stießen, was sollte er sonst thun, als in der Schenke Zerstreuung suchen, und Erlösung von dem Gefühle der Abspannung und Niedergeschlagenheit, das ihn auf's neue überwältigte. Mechanisch lenkten seine Schritte nach dem wohlbekannten Wege ein, aber als er, von seinem Gewissen gemahnt, einen Blick nach Elfriedens Wohnung hinüber warf, sah er, wie die Gärtnersleute soeben auf den Bänken vor ihrem Häuschen Platz nahmen. Ihnen, den Arbeitsamen, war es so wohl am Abend, »wenn zur Ruh' die Glocken läuten«, wie es keinem der vornehmen Leute im Schlosse jemals gewesen war. Angezogen von diesem freundlichen Bilde, blieb Nik stehen. Es kam wie eine dunkle, traumhafte Erinnerung über ihn, als ob er schon einmal so zwischen dieser Hütte und diesem Schlosse gestanden habe, schwankend in seiner Entschließung, wohin er sich wenden solle. Er konnte sich aber nicht besinnen, wann es gewesen sei. Jetzt war es ihm, als ob die Blinde einladend herüberwinke, aber sie konnte ihn ja unmöglich sehen, und die Eltern mochten ihn wohl absichtlich nicht gewahr werden, da sie ihre Blicke abwendeten. Wieder wallten die trüben Wasser in seinem Gemüthe auf, und er wendete sich dem Wege zur Schenke zu. Da griff Elfriede in die Harfe und fesselte seinen Fuß. Vom Abendwinde getragen, klang ihre mächtige, volle Altstimme zu ihm herüber. Es war ein spanisches Lied, das sie sang. Nur wenige Worte vermochte Nik zu verstehen:

              ... in den Räumen
Der Wunderwelt, worin wir schweben,
Ist nur ein Traum das ganze Leben.
Und jeder Mensch – erfahr' ich nun,
Er träumt sein ganzes Sein und Thun.
Der König träumt: er sei ein König,
Der Arme träumt, er hab' zu wenig,
Es träumet, wer beginnt zu steigen,
Es träumet, wer da sorgt und rennt,
Wer liebt und wer von Haß entbrennt.
Kurz auf dem weiten Erdenballe,
Was Alle sind, das träumen Alle.
So träumen sie ihr ganzes Leben,
Bis dann zuletzt die Träum' entschweben.
Gar wenig kann das Glück uns geben,
Denn nur ein Traum ist unser Leben,
Und selbst die Träume sind ein Traum.

»Das hat sie mir gesungen!« jauchzte Nik. »Es ist ja nur die Fortsetzung unseres Gesprächs von heute. Nun kümmerte ihn die kühle Haltung ihrer Eltern wenig. Festen Schrittes ging er auf die Gruppe zu und sagte guten Abend. Elfriede hatte ihn am Schritte erkannt und winkte schon von Weitem freundlich mit dem blonden Köpfchen. Frau Glimm strickte ruhig an ihrem Strumpfe fort, als ob sie Nik vor einer Stunde zum letzten Mal gesehen hätte, und erwiderte Nik's Gruß mit einem kühlen guten Tag. Auch Glimm nahm ihn gelassen auf, und ruckte nur wenig zur Seite, als Nik sich ungebeten zu ihm auf die Bank setzte. Aber Elfriede griff sofort wieder in die Harfe und sang ein fröhliches Lied, das die Stimmung rasch herstellte. »Meinetwegen«, dachte der alte Gärtner. »Will der junge Mann seinen schlechten Wegen entsagen, so ist es Christenpflicht, ihm die Hand zu bieten, und meines Kindes bin ich sicher.«

Von da an begann für Nik ein neues Leben. Wohl regten sich in der ersten Zeit fast täglich wieder die alten Begierden. Ein unwiderstehlicher Zug trieb ihn aus seiner Stube, in der es ihm eng und dumpf war, und er schielte hinüber nach der nächsten Schenke. Aber er hatte Elfrieden versprochen, ehe er dieser Versuchung nachgebe, stets noch erst zu ihr zu kommen, und seine Liebe behielt die Oberhand. Er suchte sie im Garten oder bei ihrem Häuschen, und über ihrem lieblichen Geplauder wich der böse Geist von ihm. Schon der Gedanke an sie hatte bald die Kraft, das böse Gelüste zu unterdrücken, und nachdem er nur erst einige Wochen seinen Körper des verderblichen Giftes entwöhnt, wurde der Reiz schwächer und blieb endlich ganz aus. So war er in ruhiger und verhältnißmäßig zufriedener Stimmung, als vier Wochen nach seiner Rückkehr auch Fritz zu Hause wieder eintraf.

Dieser glühte vor Entrüstung über das, was ihm der Ackerbauschüler unterwegs über Nik's Betragen in Neudorf erzählt hatte. Sobald er mit Elfrieden auf eine Stunde allein war, verlangte er von ihr, daß sie Nik seinen Ring zurückschicke und jeden Umgang mit ihm abbreche. Die Blinde hörte den Bruder ruhig an. Dann sagte sie: »Du redest von einem Nik, der nicht mehr ist. Er selbst sieht mit Reue auf seine Verirrungen. Du wirst ihn willig zu allem Guten finden, wenn Du ihm freundlich entgegenkommst. Bitte, zerstöre nicht durch Vorwürfe und unnütze Rückblicke das gute Werk, das ich begonnen. Nik ist immer der, als den man ihn behandelt. Er wird gut sein, wenn Du ihn als gut gelten läßt, er wird in seine Fehler zurückfallen, wenn wir die Hand von ihm abziehen.«

»Aber ich kann nicht dulden«, rief Fritz stürmisch, »daß Du Dein Schicksal an einen solchen Schwächling bindest. Du brauchst der Stütze und willst Dich stützen auf solch ein markloses Rohr.«

»Das will ich nicht«, sagte Elfriede sanft. »Dieser Ring bedeutet nichts, als daß ich ihn nicht gegen seinen Willen verlassen darf. Wenn es Dich beruhigt, so will ich es Dir ausdrücklich aussprechen. Ich hatte ja zwei Jahre Zeit darüber nachzudenken, und ich habe gefunden, daß die Eltern recht haben, wenn sie sagten, eine Blinde kann nicht heirathen. Darüber also sei ruhig.«

Auch jetzt noch hatte Fritz so manches Bedenken. Sein lebhaftes Ehrgefühl hatte eine tiefe Wunde empfangen durch Nik's Frevel, den Namen seiner Schwester in seinen trunkenen Würfelspielen zu entweihen. Aber als er Elfriede die Geschichte erzählte, lachte sie nur: »Ich war ja in guter Gesellschaft«, sagte sie scherzend. »Er hat die Brunnenfrau mit mir verspielt, und ich weiß, daß er noch immer an sie glaubt und sie fürchtet. So sehe ich aus Deiner Erzählung nur, wie schlecht die Umgebung war, in die seine Eltern ihn brachten. Sie konnten wissen, daß er noch heute ein verführbares Kind ist.« »Ich fürchte, er wird es auch bleiben«, sagte Fritz, doch nahm damit sein Widerspruch ein Ende. Als er Nik dann am Abende persönlich gesprochen, konnte er ihm nicht mehr böse sein. Des armen Jungen bescheidenes Schweigen, das beredter war als die wortreichsten Entschuldigungen und Versicherungen, söhnte den jungen Theologen fast wider Willen mit Nik's Schwäche aus. Die gemeinsamen Arbeiten und Ausflüge wurden wieder aufgenommen, und Alles ließ sich danach an, als ob Nik doch endlich ein verständiger Mensch zu werden beginne. Selbst Fritz schaute ihm mit getrostem Auge nach, wenn er des Abends vom Gärtnerhause nach dem Schlosse zurückkehrte. »Mag hinter ihm liegen was da wolle«, dachte er, »jetzt gehört er zu uns. Wenn nur seine Vergangenheit ihn frei gibt!« –


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