Adolf Hausrath
Elfriede
Adolf Hausrath

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Elftes Kapitel.

Das Schloß der Altenbrück war glänzend erleuchtet und seine hellen Fenster spiegelten sich in dem vorüberfließenden Strome. Unter den alten Eschen am Gartenthore lehnte Johann Müller in blauer Livree, um den eintreffenden Gästen die Thüre aufzuthun. Ein Wagen fuhr an und zwei alternde Damen stiegen aus. Die hagere, große war Klara, die Schwester der Baronin, die kleine, rundliche, Friederike, die diesjährige beste Freundin.

»Gewiß, liebe Friederike«, sagte Tante Klara, während beide den Vorgarten durchschritten, »Altenbrück hat ganz recht, Nik muß heirathen, sonst geht er völlig zu Grunde.«

»Aber bedenke doch, liebe Seele«, seufzte die kleine Begleiterin, die wohlbeleibt, wie sie war, keuchend hinter der hastigen Freundin einhertrippelte, »Nik ist ja erst einundzwanzig Jahre und seine Cousine ist mindestens dreiundzwanzig.«

»Um so besser kann Valentine ihren Mann hüten, wenn er jünger ist als sie«, sagte Tante Klara gereizt, und ihre Augen traten böse aus dem gerötheten Gesichte.

»Einen Mann kann man überhaupt nicht hüten, meine Liebe«, sprach die dicke Friederike weise.

»Das hast Du wohl bei Deinen Möpsen gelernt«, erwiderte Tante Klara zornig, »aber Nik ist kein Mops.«

»Aber Klara!« rief Friederike entrüstet, »in welchen Ton Du gleich wieder verfällst.« Diese aber schüttelte mit einer Geberde des höchsten Abscheus ihre langen Locken, und indem sie ihre zahlreichen Röcke mit zitternden Händen aufnahm, stürmte sie zornig die Treppe empor. Keuchend folgte ihr die dicke, kleine Freundin, die ihren Widerspruch so schlimm nicht gemeint hatte. Eben holte sie Athem zu einem versöhnlichen Worte, als bereits die Thorflügel sich vor den beiden Damen öffneten.

Der Rothe schaute ihnen aus dem Dunkel unter den Bäumen spöttisch nach. »Die alten Schachteln werden ja wohl die Letzten sein«, sagte er. »Nur das vortreffliche Barönchen, das liebe Nikchen, fehlt noch, mein hoher Gönner.« Dann schlug er plötzlich in den salbungsvollen Ton des verlorenen Sohnes über: »Es ist ein Aergerniß, wie dieser Mensch sich beträgt! Wenn man Alles hat, um sich jeden Wunsch zu erfüllen, und ruinirt sich dann mit Trinken, so gehört man doch wirklich geprügelt. Aber so geht es zu in dieser Welt. Da oben prassen sie, und ich darf hier in Nacht und Wind am Thore stehen als Wappenlöwe, und wenn es mich friert, darf ich singen: ›Schon hier lebt selig und vergnügt‹, wie sie mich's im verlorenen Sohne lehrten. Beschwert man sich aber, so stopfen sie einem mit ein paar Bibelsprüchen den Mund. Na, ich werd's ihnen anstreichen, sie sollen noch an mich denken.« Nach diesem philosophischen Selbstgespräche trat der rothe Johannes vor das Gartenthor, und indem er die eine Hand nachlässig in die Tasche steckte, schaute er, an den Thorpfeiler gelehnt, die Straße herauf und herunter. Oben im Saale hörte man jetzt das Rücken der Stühle; eine Harfe präludirte, und dann begann eine schöne, seelenvolle Altstimme die ewig schöne Arie aus Handels Messias: »Oh Du, die Wonne verkündigt zu Zion.« Aber die Laute der Ewigkeit, die über diesen Saiten schwebten, gingen an dem Ohre des Gärtnerburschen vorüber, und kaum hatte der Gesang geendet, so pfiff er einen Gassenhauer vor sich hin und spähte nach seinem jungen Herrn, der noch immer ausblieb. Statt seiner kam die Landstraße herab ein hochgewachsenes Frauenzimmer, das, obwohl nicht mehr ganz jung, doch sehr jugendlich herausgeputzt war. Sie ging erst auf der einen, dann auf der andern Seite der Straße und schaute oft um, als ob ihr Pfad nicht eben der schmale Pfad der Tugend sei.

»Pst, Pst!« zischte der Rothe, der in der einsamen Pilgerin seine Schwester erkannte. »Käthchen!« rief er über die Straße, als das Mädchen ruhig ihren Weg fortsetzte.

»Nun, was soll's?« sagte die Dirne unmuthig. »Hast Du heute die Laune, mich zu kennen?« »Nun ja doch, Tugendspiegel«, erwiderte der Bruder. »Du würdest mir aber einen großen Gefallen thun, wenn Du nicht gerade hier promeniren wolltest. Du weißt, wie viele Leute Dich kennen, und wir haben heute Gesellschaft.«

»Was kümmert das mich«, erwiderte die Schwester schnippisch. »Ich kann gehen, wo ich will.«

»Wenn Du vernünftig bist«, sagte Johann leise, »so will ich Dir einen Liebhaber verschaffen, der etwas einträgt.«

»Du meinst am Ende gar den jungen Baron?« lachte die Dirne. »Den habe ich schon, dazu brauche ich Dich nicht, Du rothe Mähre.«

»Du hast ihn schon?« sagte Johann eifrig. »Um so besser! Dann müssen wir ihn gemeinsam in die Klemme treiben, und wir können erst ihm und dann dem Alten so viel Geld auspressen als wir wollen.«

»Was meinst Du?« sagte die Schwester näher tretend.

»Zeugen mußt Du Dir verschaffen, meine tugendhafte Schwester, Zeugen!«

»Ach, gehe mir mit solchen Geschichten«, erwiderte das Mädchen. »Ich will nichts zu thun haben mit der Polizei.«

»So weit braucht es gar nicht zu kommen«, sagte Johann. »Solche Leute fürchten den Skandal, und darum kann man mit ihnen machen, was man will. Aber still!« unterbrach er sich. »Da kommt er, ich sehe ihn bei der dritten Laterne.«

»Nun, ich will ihn anreden«, lachte das Mädchen und wollte weiter. Aber der Bruder hielt sie fest.

»Dummheiten«, sagte er. »Gehe hier herein in meine Stube«, und er wies nach dem Portierhäuschen. »Ich werde ihn Dir nachschicken. Für das Uebrige lasse mich sorgen.«

Man hörte jetzt nahende Schritte, und der Rothe stieß seine Schwester, die sich wehrte, und laut zu lachen begann, fast mit Gewalt in das Häuschen, wo er ihr mit der Hand den Mund zuhielt, und sie durch ein paar energische Worte zur Ruhe brachte. Müller war eben wieder herausgetreten, als Nik am Gartenthore erschien. Er war im Gesellschaftsanzuge, denn er hatte schon vor einer Stunde sich für den Abend gerüstet. Da er sich aber bereits wieder öde fühlte, war er nach der benachbarten Restauration hinübergegangen, um dort Wein in sich zu gießen, den man ihm zu Hause auf Befehl der Eltern verweigerte. Die Baronin meinte nämlich, der Freiherr könne, wenn er nur wolle, durch strenge Aufsicht dem Sohne die verderbliche Neigung zu geistigen Getränken, die er ohne Zweifel vom Vater geerbt habe, sicher wieder abgewöhnen. Der junge Mann sah erhitzt aus, und sein Anzug war in Unordnung. Johann warf einen prüfenden Blick auf ihn und schüttelte dann sein rothes Haupt.

»Nun, was hast Du?« sagte Nik ungeduldig.

»So können Sie nicht hinauf«, erwiderte Johann trocken, »man sieht auf zehn Schritte, wo Sie waren.« »So komme mit auf mein Zimmer und bringe mich in Ordnung, statt zu schwatzen«, rief Nik zornig.

»Unmöglich«, erwiderte Müller, »die Herrschaften sind zum Theile noch auf dem Vorplatze. Gehen Sie hier in meine Stube, es liegt eine Bürste auf dem Tischchen. Einen Spiegel finden Sie in der Kammer. Aber lassen Sie die Rumflasche in Ruhe, sonst bin ich um meinen Dienst. Sie wissen, daß der Herr Baron Jeden mit Entlassung bedrohte, der Ihnen zu einem Tropfen verhelfen würde.«

»Unverschämter«, knirschte Nik. »Du hast den Rum doch im Keller gestohlen.«

Der Rothe fand nicht für nöthig, diesen Vorwurf zurückzuweisen. »Ich muß hinauf, es schellte schon zweimal«, sagte er kurz. Damit drängte er Nik gegen die Thüre des Portierhäuschens und sprang eilig nach der Freitreppe. Ehe er in die Flur trat, warf er noch einen Blick zurück und lachte höhnisch, denn er sah, wie Nik seinen Rath befolgte.

Im großen Saale des Schlosses bewegte sich unter dem bronzenen Kronleuchter eine mäßig große Gesellschaft. Der Pfarrer war mit Frau und Töchtern zugegen. Klara und Friederike hatten bei der Baronin um den Theetisch Platz genommen, der Oberst, der Amtmann, einige Honoratiorenfamilien der Stadt und Edelleute aus der Umgegend saßen auf den Divans oder lehnten rings an den Wänden. Der Baron ging im Saale umher und sprach mit seinen Gästen. Seine Frau dagegen wich nicht von ihrem Platze am Tische, wo ihre Intimen sie umgaben. Ihr war jede Gesellschaft vor Allem eine erwünschte Gelegenheit, ihre Klagen gegen ihren Mann an die Hörer zu bringen.

»Du bist zu bescheiden, liebe Schwester«, sagte jetzt Tante Klara, »darum respektirt Dein Mann Dich nicht. Du mußt Dich kostspieliger kleiden. Denke, wie einfach und schlicht die verstorbene Generalin Schreier auftrat. Was war der Dank? Ihr Mann behandelte sie wie eine Magd. Seine neue Frau versteht das ganz anders. Sie erscheint im Hauskleide von rothem Atlas mit gelben Puffen zum Frühstück, und Schreier springt in die Höhe wie ein Lakai, rückt ihr den Stuhl zurecht und fragt nach ihrem Befinden. So solltest Du es machen.«

Der Freiherr warf jetzt einen zornigen Blick nach dem Tische, um seine Frau an ihre Pflichten als Wirthin zu mahnen. »Laßt uns aufstehn«, sagte die Baronin in weinerlichem Tone, »sonst werde ich wieder gescholten.«

So erhob sie sich mit einem Seufzer und trat unter den Schwarm ihrer Gäste. Mit dünner Stimme erkundigte sie sich nach dem Befinden der werthen Familien, ohne auf die Antworten zu achten. Bei dem allgemeinen Getöse rings umher war das auch unmöglich. Es herrschte das Geräusch einer gemischten Gesellschaft in den Räumen, die noch eben die seelenvolle Stimme der Blinden mit den ernsten Tönen, Händels erfüllt hatte, jene schreiende, überlaute, ohne allen Grund lärmende Unterhaltung, deren einziger Zweck es ist, Conversation zu machen, damit es so aussehe, als ob man sich gut amüsire. Die Luft wurde bei der warmen Temperatur, die draußen herrschte, immer drückender. Die Damen fingen an ihre Fächer häufiger zu gebrauchen, und die Diener hatten Mühe, alle leergetrunkenen Gläser abzunehmen und durch gefüllte zu ersetzen. Trotzdem ertrug die Gesellschaft, an solche Freuden gewöhnt, mit Fassung ihre Lage, nur der Gastgeber selbst schien ungeduldig:

»Wo bleibt mein Sohn?« herrschte er den rothen Johann an, der ein Servirbrett umherreichte.

»Der Herr Baron trat vorhin im Portierhäuschen ab, um sich abzustäuben«, sagte Johann leise, »vielleicht könnte der Kutscher nach ihm sehen.« Der Freiherr trat sofort an den als Portier verwendeten Rosselenker heran und ertheilte diesem einen Auftrag. Dann legte er dem gelangweilt an der Thüre stehenden Pfarrer die Hand unter den Arm und führte ihn vertraulich im Saale auf und nieder. »Nik muß heirathen«, sagte er. »Ich dachte, daß seine Cousine eine Partie für ihn wäre, oder sind auch Sie der Meinung von Fräulein Friederike, daß die Kinder aus Verwandtenehen leicht geistesschwach werden?«

»Die Kinder nicht«, sagte der Landpfarrer in seiner derben Weise, »aber die Alten werden Kretins.«

Der Freiherr zog verletzt seine Hand aus dem Arme des alten Herrn und erwiderte verdrießlich: »Die Eltern? – wie so das?«

»Nun, weil sich der Mensch selbst den Gesichtskreis zubaut, wenn er in seine eigene Familie heirathet, weil Vetter und Base sich als Mann und Frau in ihren Familienvorurtheilen noch bestärken, indem sie sich einbilden, ihre Familie sei die Welt, die Anschauungen ihrer Sippe sei die wahre Weisheit und der einzige Maßstab der Dinge, weil sie mit einem Worte nach ihrer Heirath doppelt so bornirt sein werden als sie es zuvor waren. Sehen Sie doch die schweizerischen oder englischen Familien an, in denen dieser Brauch besteht. Ihr vielgerühmter Familiensinn ist nichts als ein Egoismus, den mehrere gemeinsam haben. Für Alles, was außerhalb dieses Kreises liegt, haben sie keinen Sinn, und sie selbst sind für alle Andern unausstehlich.«

»Hm«, murmelte der Freiherr zwischen den Zähnen, »so unrichtig ist das nicht. Cäcilie übertreibt ihren Verwandtencultus ohnehin schon. Es gibt nichts Lästigeres als diese Hypertrophie des Familienlebens.«

Ein Ton von der Thüre des Nebenzimmers her bewog die beiden Männer die Köpfe dorthin zu wenden, wo Elfriede eben träumerisch in die Saiten ihrer Harfe gegriffen hatte. Wie herzgewinnend sah das schöne blonde Mädchen in seiner rührenden Hilflosigkeit aus. Die Blicke der beiden Männer begegneten sich unwillkürlich, und beide erinnerten sich in diesem Augenblicke, welche Verpflichtungen Nik gegen jenes unglückliche, schöne Kind habe. Aber der Baron kehrte sich rasch ab und ging zu den Damen am andern Ende des Saales hinüber, und der Pfarrer sah noch, wie er auf dem Wege zweimal mit den Schultern zuckte. Er verstand diese Bewegung wohl und sie veranlaßte ihn, sich nach der andern Seite der Blinden zu nähern.

»Bleibe nur fest wegen Nik«, flüsterte in diesem Augenblicke Tante Klara der Baronin zu, die in ein Gespräch mit dem Obersten verwickelt war, »Dein Mann verhandelte eben mit dem Pfarrer, und der rieth von der Ehe mit Valentinen ab, er wünscht Wohl, daß Nik eine seiner langweiligen Töchter heirathe.«

Der Oberst lachte. »Ja«, sagte er, »da haben Sie einen gefährlichen Feind, meine Gnädige! Solch ein Pfarrerstöchterlein spielt dem jungen Manne verschämt die Hand zu, und der Vater hat das Segnen so in der Gewohnheit, daß er beiden von hinten unversehens die Hände auf's Haupt legt. Dann haben sie seinen Segen, der junge Herr mag wollen oder nicht.«

Der gute, alte Prediger war inzwischen auf die Blinde zugetreten, deren Vereinsamung in der großen Gesellschaft ihm leid war. Die zweijährige Abwesenheit in der Stadt hatte aus Elfrieden gemacht, was sie zu werden versprochen hatte. Ihre Gestalt war voller geworden, ohne ihre elfenhafte Zartheit und Geschmeidigkeit einzubüßen. In üppiger Fülle fiel ihr reiches, blondes Haar, an dem ein Glanz haftete, als ob es mit Goldstaub gepudert wäre, auf ihre runden Schultern. Ein weißes Kleid umschloß mit seiner Krause züchtig den schlanken Hals, und eine dunkle Rose auf der Brust war ihr einziger Schmuck. Unruhig irrten ihre großen, glänzenden Augen in dem hellen Saale hin und her, dessen Licht sie schmerzte, ohne ihre Finsterniß zu erhellen. Jetzt griff sie in die Harfe, und sofort verstummte jedes Gespräch. Nachdem sie auf dem seelenvollen Instrumente präludirt, wie die Brandung an den Klippen rauscht, oder der Wind durch tönende Felsen flüstert, begann sie eine schwermüthige, schottische Ballade zu singen, die fast unheimlich zu dem Unglück der Sängerin und ihrem traurigen Harfenschlage paßte. Es war ein Aufschrei der Verlassenheit, der als Echo alle Klagen weckte, die in dem ernsten Instrumente wohnten. Als sie endete, war es todtenstille im Saale. Hier und da hörte man einen Seufzer. Tante Klara flüsterte ihrer Nachbarin zu, daß der Anblick dieser leeren Augensterne und dieser trübe Gesang sie verstimme. Einen ähnlichen Eindruck schien die Gesellschaft empfangen zu haben. Der Pfarrer trat an die Harfenistin heran und sagte freundlich: »Warum hast Du ein so trauriges Lied gewählt, mein Kind? Spiele doch etwas Heiteres.«

»Mir ist so beklommen um's Herz«, erwiderte die Blinde. »Sie wissen nicht, wie dieses Geräusch schmerzlich ist, wenn man seine Ursache nicht zu erkennen vermag, wenn man von den vielen Flammen, die hier angezündet sind, nur die Hitze empfindet und immer fürchtet, man könnte einer derselben so nahe kommen, daß man sich verbrenne. Ich war thöricht, daß ich kam. Meine Eltern hatten ganz recht, wenn sie meinten, ich solle hier nur zur Schau gestellt werden, damit die Leute einmal etwas sehen, was sie noch nie gesehen haben.«

»So bitter, Elfriede«, erwiderte der alte Mann. »Ich kenne Dich nicht wieder. Du warst doch sonst so ergeben in Dein schweres Loos?«

»Warum hat Nik mich noch nicht begrüßt?« sagte Elfriede, ohne des Pfarrers Frage zu beachten. »Er muß doch hier sein.«

»Er ist nicht hier«, erwiderte der Pfarrer. »Ueberhaupt macht er den Eltern viele Sorgen und sein Aussehen gefällt mir nicht.«

»Ist er krank?« fragte die Blinde, und es lag eine gewisse Schärfe in ihrem Tone.

»Auch körperlich ist er gebrochen«, gab der Pfarrer zur Antwort. »Dem wilden Leben auf der Ackerbauschule war seine von Jugend auf verzärtelte Gesundheit nicht gewachsen, und was das Schlimmste ist, er hat sich an den Wein gewöhnt, so daß er gar nicht mehr davon lassen kann.«

»Herr Pfarrer«, sagte jetzt der rothe Johann, der in der nächsten Fensternische das Gespräch belauscht hatte, »was soll ich thun? Der junge Herr kam vorhin in einem solchen Zustande nach Hause, daß ich ihm rieth, er solle sich erst ausruhen. Da er nicht mehr weiter konnte, schob ich ihn in die Portierloge. Nun habe ich schon den Karl und den Wilhelm hinuntergeschickt, um ihn heraufzubekommen, aber sie kamen lachend wieder zurück und sagten, der junge Herr habe keine Zeit.«

»Gut«, erwiderte der Greis. »Da will ich ihm in's Gewissen reden. Ich suchte schon lange eine Gelegenheit, ihm einmal gründlich die Wahrheit zu sagen. Das Recht habe ich, denn ich habe ihn getauft und confirmirt. In dem Portierhäuschen sagtest Du?«

»Ja«, erwiderte der Rothe mit einem boshaften Aufleuchten seiner tiefliegenden Augen. »Hier haben Sie die Schlinke zum Oeffnen; die Thüre hat keine Klinke.«

Der Pfarrer nahm etwas zögernd den dargebotenen Schlüssel. Mit Kopfschütteln entfernte er sich dann durch die zurückliegenden Zimmer, während die Blinde ihr blondes Köpfchen leise an die Harfe lehnte. Johann stellte sich vertraulich neben sie. »Das nennen nun die reichen Leute ein Vergnügen«, flüsterte er ihr zu, »in dieser Temperatur stundenlang zu sitzen und zu thun, als unterhielten sie sich. Der dicke Amtmann ist bereits mehr blau, als roth von der Hitze, nächstens wird ihn der Schlag rühren. Da war es doch lustiger, als wir auf dem Platze hinter Euerem Hause Topfschlagen spielten.«

»Was hast Du drunten wieder für eine Schlechtigkeit vor?« erwiderte die Blinde in scharfem Tone. »Warum holst Du Nik nicht selbst? Gewiß hast Du etwas angezettelt, daß Du den Pfarrer hinunterschickst?«

»Es kann Nik nicht schaden, wenn der Pfarrer ihm die Leviten liest«, erwiderte der Rothe gelassen. »So kann es nicht mit ihm weitergehen.«

»Als ob es Dir darum zu thun wäre«, sagte die Gärtnerstochter bitter. »Warst Du es nicht, der ihm stets bei allem Schlechten behülflich war?«

Johann knirschte mit den Zähnen, und die Blinde hörte, wie er vor Zorn mit dem Fuße auftrat. Aber er erwiderte scheinheilig: »Man ändert sich auch mit den Jahren. Jugend hat keine Tugend, aber die Stunde der Einkehr kommt für die meisten, hoffentlich auch für Deinen Bräutigam.«

Die Blinde wollte sich voll Abscheu weiter von dem heuchlerischen Menschen entfernen und stieß dabei mit den Knieen so heftig an ihre Harfe, daß dieselbe einen lauten Ton von sich gab, und die Gesellschaft herüberschaute, weil sie dachte, Elfriede wolle ein neues Lied beginnen, worauf sich der Rothe alsbald bescheiden in seine Fensternische zurückzog. Das blinde Mädchen schien die plötzlich eintretende Stille auch sofort zu verstehen, und suchte sich zu sammeln.

Aber noch ehe sie beginnen konnte, wurden Stimmen auf dem Vorplatze laut. »Das Alles geht Sie nichts an«, hörte man eine kreischende Stimme. »Ich bin kein Confirmand mehr ...«

Beschwichtigende Worte des alten Pfarrers wurden laut, er schien dem Lärmenden zuzureden.

»Auch das ist mir gleichgültig«, schrie der Betrunkene, »was scheert mich Ihre Gemeinde? Auf mich ist mit Synodalbeschlüssen nicht einzuwirken ha, ha, ha ...«

Mit Schrecken erkannte die Gesellschaft in dieser trunkenen Stimme den Sohn des Hauses.

» Mon Dieu, welch ein Lärm«, seufzte Tante Klara, während ihre rundliche Freundin ihr einen erschrockenen Blick zuwarf.

»Gehen Sie mir aus dem Wege«, rief Nik jetzt draußen. »Ich sage Ihnen nochmals, ich weiß, was ich zu thun habe. Lakaienpack, wollt Ihr, daß ich Euch Eure dicken Köpfe einschlage?« In diesem Augenblicke sprang die Thüre auf, und Nik taumelte in den Saal, mit rothem, erhitztem Gesichte, den Hut im Nacken, den Rock und die Weste aufgeknöpft, die Kleider beschmutzt, die weiße Halsbinde gelöst, das Hemd zerknittert und vom Weine fleckig.

»Um des Himmels Willen, Nik«, seufzte die Baronin, und sank in ihren Stuhl zurück. "Gott weiß, von welcher Orgie er heimkehrt!«

Aber der Baron war bereits aufgesprungen und eilte zur Thüre.

»Ich habe ja gar nicht getrunken«, lallte Nik, »nein, ich habe nicht getrunken. Nur die frische Luft, die...«

Er vollendete den Satz nicht, denn der Vater stand vor ihm, und er fühlte plötzlich einen so heftigen Schlag im Gesichte, daß ihm der Kopf brannte. »Hinaus, Bube«, donnerte der Vater ihn an, und in gleichem Augenblicke faßten der rothe Johann und ein zweiter Diener Nik unter beiden Armen, und zogen ihn nach dem Vorplatze, wohin der Freiherr ihnen folgte.

Die Gesellschaft erhob sich sofort geräuschvoll von ihren Plätzen und berieth in flüsternder Geschäftigkeit, ob man nicht aufbrechen solle.

»Nun, nun, nun«, ertönte die versöhnliche Stimme des dicken Amtmanns, »wir sind alle einmal Studenten gewesen. Ich begreife den Herrn Baron nicht. Solche Dinge muß man von der scherzhaften Seite nehmen.«

»Natürlich«, bestätigte der Oberst, indem er mit seinem Säbel vor sich aufstieß, »Ich finde das Benehmen des Vaters eben so taktlos wie das des Sohns. Was braucht er uns denn zu Zeugen seiner pädagogischen Kraftkuren zu machen. Er konnte dem Jungen ja morgen den Kopf waschen.«

Während die Herren so ihr Mißfallen über das Benehmen ihres Wirthes zu erkennen gaben, umdrängten die Frauen die Baronin, die über ihren Mann außer sich war. »Man schlägt seinen Sohn doch nicht vor fremden Leuten«, sagte sie weinend. »Nik ist ja nun völlig unmöglich«, und sie fing heftig an zu schluchzen. »Mein Mann ist an all' dem Unglück schuld; er hat ihn so erzogen.«

Die drei Freundinnen redeten ihr zu. »Bitte, Cäcilie, so fasse Dich doch«, flüsterte ihre Schwester. »Bedenke, was Channing sagt ...« Aber Tante Klara kam mit ihrem Citate aus Channing nicht zu Stande, denn plötzlich gewahrte sie, daß die Harfenspielerin, ohne einen Laut, ohnmächtig an ihrer Harfe zusammengesunken war. Starr und bleich wie eine schöne Leiche lag sie an der Erde. Nun drängte sich Alles um die Blinde. Die Damen brachten ihre Riechfläschchen zum Vorschein und bestrichen Stirne und Schläfen der Ohnmächtigen mit dem Inhalt. Ein junger Offizier nahm lächelnd den schönen Körper in den Arm und trug sie sanft nach dem nächsten Divan. Der Pfarrer, der im gleichen Augenblicke eingetreten war, und dessen Blick sofort auf die Gruppe gefallen war, ergriff ein Glas Wein und suchte es mit seiner zitternden Greisenhand Elfrieden in die festgeschlossenen Lippen zu bringen, aber es dauerte eine geraume Weile, ehe die Farbe ihrem Gesichtchen wiederkehrte, und sie die starr glänzenden, blinden Augen aufschlug. Sofort machte sie eine abwehrende Geberde. »Bitte, nach Hause«, sagte sie dann mit leiser, flehender Stimme.

»Das arme Kind«, flüsterte die dicke Friederike, »sie hat so zarte Nerven.«

»Nerven«, erwiderte Klara in verweisendem Tone. »Sie liebt ihn, das einfältige Ding, das ist Alles.«

Die Baronin war inzwischen bei der Kranken niedergekniet. Sie machte sich Vorwürfe, daß sie das Auftreten der Blinden in ihrer Gesellschaft, das den Eltern so unangenehm gewesen war, erzwungen hatte. Als Elfriede nun wiederholt verlangte, zu den Eltern gebracht zu werden, band sich die Baronin selbst ein Tuch um, um unter Unterstützung ihrer Jungfer das blinde Mädchen in das Gärtnerhaus zu begleiten. Nun aber drängte Alles zum Aufbruch. Als der Baron von Nik zurückkam, dem er auf seiner Stube noch einen so scharfen Verweis gegeben, daß er selbst die Dünste in Nik's weinschwerem Haupte zertheilt hatte, fand er seine Gesellschaft bereits in voller Auflösung. Die Mütter suchten ihre Mäntel und Tücher, die Töchter wechselten mit den jungen Herren Abschiedsworte und Händedrücke. Die Väter standen ungeduldig im Gange, oder zündeten auf der Treppe ihre Cigarren an. Aber die Damen konnten in dem Garderobezimmer kein Ende finden, die erlebten entsetzlichen Auftritte flüsternd zu besprechen. Der dicke Amtmann trabte ungeduldig mit den Füßen und summte das Lied: »Wenn Frauen auseinander geh'n, so bleiben sie beisammen steh'n«, indem er mahnende Blicke in das Garderobezimmer versendete. Im Salon fand der Baron nur noch den Ausschuß der drei Freundinnen versammelt, da er aber nicht das geringste Bedürfniß fühlte, seine häuslichen Calamitäten mit dem weiblichen Sanhedrin seiner Frau zu berathen, und er sah, wie die drei alten Jungfrauen schon geladen waren, ihn mit ihrer Theilnahme zu übergießen, sagte er kurz: »Ach, Cäcilie ist nicht hier. Entschuldigen Sie, ich werde sie sofort schicken.«

»Sie ist mit Elfriede in die Gärtnerwohnung«, riefen die drei Parzen aus einem Munde. Aber der Baron antwortete nur: »So, so«, und rettete sich schleunig in seine Gemächer.


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