Adolf Hausrath
Elfriede
Adolf Hausrath

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Viertes Kapitel

Auf der Westseite des Dorfes, durch die alte Dorfmauer von demselben geschieden, lag der Kirchhof. An der Mauer waren die alten Grabsteine derer von Altenbrück eingelassen mit ihren gewaltigen Rittergestalten und altertümlichen Inschriften; nach den drei übrigen Seiten war der kleine Gottesacker durch einen lebendigen Hag von Weißdorn eingefriedigt, der soeben seine ersten grünen Blättchen ausgetrieben hatte. Die Gräber lagen eng beisammen, mit hölzernen Kreuzen besteckt, die sich nach rechts und links geneigt hatten und oft halb versunken über ihren unregelmäßigen Hügeln sich erhoben. Nur hier und da war eine Ruhestätte sauber mit Stein eingefaßt und durch ein Denkmal bezeichnet. Aber der Frühling hatte über diesen kleinen Raum seine Blüthen mit doppelt vollen Händen ausgestreut. Der Rasen war übersät mit einem Sternenmeere von Maßliebchen. An der Mauer wucherte die röthliche Anemone und glänzte hoher Seidelbast mit karminrothen Blüthen. Um die vornehmen Gräber erhoben, schön gereiht, gelber Krokus und weiße Schneeglöckchen ihre Häupter, wie der Schloßgärtner sie sorglich gepflanzt hatte. Die blaue Meerzwiebel und gelbe Primeln standen büschelweise in den Ecken beisammen, und der weiße Schlehbusch und die gelbe Blüthe der Kornelkirsche hoben sich so lustig von dem schönen Frühlingshimmel ab, daß die Sonne ganz vergaß, daß es der Ort des Todes war, den sie mit ihren fröhlichen Strahlen überschütte. Ringsum blauten in goldenem Dufte die welligen Hügel und Berge, und der silberne Strom wanderte fröhlich durch grün aufstrebende Wintersaat und frisch umgebrochene Aecker. So sah auch der Friedhof freundlich und einladend aus, wenigstens überall, wo nur ein bischen Liebe die grüne Ruhestätte geschmückt hatte.

Nur von einem Orte, zwischen dem Kirchhofthore und der Dorfmauer, wendete sich das Auge sofort wieder erschrocken ab, wenn es zufällig in diesen Winkel gefallen war. Eine dreifache Reihe ganz kleiner Kindergräber erhob sich dort. Zum Theile waren sie gar nicht bezeichnet, auf andern stand ein Kreuzchen, nur auf wenigen hatte eine verschämte Hand, wie verstohlen, einen Kranz niedergelegt. Wo ein Name zu lesen war, war es immer nur ein Vorname. Im Verhältniß zu der geringen Gräberzahl des engen Friedhofs war es eine ganz unverhältnißmäßige Anzahl dieser kleinen, neu aufgeworfenen Hügel. Es waren das die Gräber der vaterlosen Kinder, die Niemand besuchte, Niemand schmückte, an die die Mutter nur mit Beklemmung dachte, und nur allzuoft mit Erbleichen und böser Gewissensangst.

Verließ man durch das stets offen stehende Thor den Kirchhof, so sah man an die andere Seite der Mauer eine Reihe von alten Gebäuden angeklebt, in denen arme Leute wohnten, denn wer sonst hätte in der nächsten Nähe der Todten hausen mögen? Diesen zerfallenen Hütten war die Rückseite der bessern Häuser zugekehrt, so daß eine einsame schmale Gasse entstanden war, die schlechtweg den Namen trug: »An der Dorfmauer.«

Es war still in dem ohnehin spärlich bewohnten Sträßlein, denn der Sonntagnachmittag hatte die wenigen Bewohner zum Bettel oder zum Spiele hinausgeführt an die Landstraße oder hinüber in die Stadt. Eine einzige Person der ganzen Einwohnerschaft schien an jenem Tauftage, von dem wir erzählten, hier zurückgeblieben zu sein. Am Ende der Straße saß vor der Thüre eines verfallenen alten Gebäudes eine grell gekleidete, nicht mehr ganz junge Dirne. Sie schien sich zur Abreise bereit zu halten, denn sie hatte einen großen Reisesack neben sich und einen zerknitterten, aber auffallend geschwungenen Hut mit einer alten Feder auf dem Kopfe. Ihre Augen lagen tief zwischen den verschwollenen Lidern und gaben dem gemeinen Gesichte etwas Müdes und Mürrisches. Verdrossen schaute sie die schmutzige schmale Gasse entlang, als ob sie noch Jemanden erwarte.

»Wenn die alte Hexe jetzt nicht kommt«, sagte sie zornig, »so gehe ich, ohne das arme Wurm noch einmal gesehen zu haben. Am Ende ist es auch besser so.« Trotz dieser Worte aber blieb sie sitzen und schaute stumpf vor sich hin. »Wer weiß«, murrte sie in sich hinein, »ob die Mittel, die die Braunin ihr gegeben, wirken. Am Ende stirbt das Kind nicht, und dann habe ich vielleicht einen Blödsinnigen zu versorgen, den ich gar nie los werde. Es wäre besser, sie gäbe es auf, nachdem Käthchen alles gehört hat.«

Bei diesem Gedanken schaute sie ängstlich in die große dunkle Stube hinter sich, wo ein Kinderbett stand. Starr blieben ihre Augen an dieser Bettstelle hängen, als ob sie ein unheimliches Geheimniß berge.

Nicht viele Nächte war es her, daß sich dort an dem kleinen Bette eine Scene zugetragen, die dem verlorenen Weibe jetzt wieder deutlich vor die Seele trat. Sie selbst saß aufrecht auf ihrem Bette und stillte unmuthig das Kind, das durch sein bösartiges Geschrei sie und die Mutter geweckt hatte. Die Alte hatte das Licht, das in einer Flasche steckte, angezündet und murrte über die Störung ihrer Nachtruhe. »Thue, was ich Dir schon lange rieth«, sagte die Greisin erbost zu ihrer Tochter. »Die Braunin hat mir gestern gegen schweres Geld die Körner gegeben, wenn Du die dem Kinde in seiner Milch kochst, so geht es langsam zurück und löscht aus und der Doktor kann Dir nichts beweisen.«

»Laß' mich in Ruhe mit Deiner Braunin«, erwiderte die Tochter zornig. »Mir hat die alte Hexe auch gesagt, ich solle von dem Busche hinter der Kirchhofthüre essen, und was half es mir? Krank bin ich geworden und habe ein Siebenmonatkind, das den geschlagenen Tag schreit und weder leben noch sterben will.«

Eigentlich war es der Dirne so ernst nicht mit diesen Worten. Die Alte mochte thun, was sie wollte, aber zu wissen brauchte sie es nicht, denn ihr Gewissen war schon genug belastet.

»So mache es wenigstens wie die Krautin mit ihrem Mädchen«, fuhr die Versucherin fort. »Der Krüppel bringt ihr alle Tage ein paar Mark ein. Wir lockern dem Buben die Gelenke, daß man die Aermchen nach hinten drehen kann, und dann bettle ich mit ihm im ganzen Lande.«

»Thut es weh?« fragte die Mutter stumpf.

»Was kümmert's Dich«, erwiderte die Alte. »Er schreit ja so wie so den ganzen Tag.« Sie wollte noch etwas hinzufügen, aber das Wort erstarb ihr im Munde. Ihre rothen, vom Trunke blutunterlaufenen Augen traten ihr weit aus dem fahlen Gesichte und sie starrte erschrocken nach dem Lager der kleinen Käthchen, der fünfjährigen Schwester des verhaßten Schreihalses, die sich plötzlich aus ihrem Bette aufrichtete.

»Wenn ihr dem kleinen Kinde etwas thut«, rief das Mädchen, »so sage ich es dem Polizeidiener. Die Kinderlehrerin hat mir ausdrücklich gesagt, ich solle gut aufpassen, damit das Brüderchen nicht zu den zwei andern auf den Kirchhof komme.«

Die beiden Weiber wechselten erschrockene Blicke. »Willst Du schlafen, Du Kröte!« fuhr jetzt die Alte auf, indem sie einen Schuh vom Boden aufnahm und nach der Enkelin warf. »Ich schlage Dich todt, wenn Du noch eine Silbe redest.« Die Kleine aber hatte sich unter ihre Decke gesteckt und nur noch gerufen: »Ihr wißt es jetzt, was ich thue, wenn ihr das Kind mit einem Finger anrührt.« Die Großmutter wollte darauf in blinder Wuth das Mädchen mißhandeln, aber die Tochter hinderte es. Unter Flüchen und Schimpfreden hatte dann das böse Weib das Licht gelöscht und war wieder zu Bett gegangen, während die Junge in Furcht und Reue kein Auge schloß. Das war der Grund, warum das geputzte Weib von Zeit zu Zeit so ängstlich in die Stube zurückschaute und nach der kleinen Bettstelle schielte. »Der Balg bringt uns noch beide in's Zuchthaus oder gar an den Galgen«, murmelte sie. Und wieder versank sie in entsetzliche Erinnerungen an frühere kleine Wesen, die in dem gleichen Bette langsam dahingesiecht waren, und dann wanderten ihre Gedanken nach dem Platze in der Kirchhofecke, wo die kleinen Gräber lagen, so daß sie vor Angst und Noth sich nicht zu lassen wußte. Diese Erinnerungen lasteten wie Blei auf ihr. Sie wollte weggehn und konnte doch nicht, denn sie wußte, daß sie mit ihrem Wegschleichen die Mutter zu einem Verbrechen ermächtige.

Um die Ecke der schmalen Gasse wurden jetzt Schritte laut. Die Horcherin fuhr zusammen. »Wenn Käthchen geplaudert hätte und es wäre der Büttel, der mich in's Gefängniß abholte«, so fuhr es ihr durch den Kopf. Aber das waren keine Männerschritte; es war die Mutter. Doch wie seltsam ging sie! Sie hielt das Kind ungeschickt in den Armen, während sie schwankenden Ganges an den Häusern hinschlich und zuweilen an dieselben anstieß.

»Du wirst ihm den Kopf an der Wand einrennen«, sagte die Tochter, »dann kann ich das Geld für die Engelmacherin sparen.«

»Ich thue es nicht zu der Braunin«, erwiderte die Alte lallend. »Ich behalt' ihn, meinen Schatz«, sagte sie, das Kind an sich drückend.

»Oho, lauten die Glocken plötzlich so?« erwiderte die Junge verwundert. »Gestern schaltest Du ja, daß Du das Mädchen nicht satt bekämest, und jetzt willst Du auch den da behalten?«

»Ich behalte ihn«, stammelte das betrunkene Weib, »ich ziehe ihn auf.«

Die Tochter schaute sie scharf an: »Wer gab Dir das Geld für Deinen Rausch?« fragte sie nach einer Weile mürrisch.

»Ich nahm's von dem Ziehgeld«, lachte die Betrunkene.

Die Junge aber sprang auf, und eine Fluth von gemeinen Schimpfreden entströmte ihrem Munde. »Dafür also habe ich das Geld zusammengespart«, rief sie, »daß Du es durchbringst, alte Säuferin.«

»Sachte, mein Schatz«, lachte die Alte, »sachte. Der Baron gibt mir monatlich das Doppelte, damit ich den kleinen Hund da aufziehe. Da hab' ich mir's anders überlegt.«

Die Tochter riß die Augen weit auf und sah in ihrer Verwunderung noch etwas gemeiner aus als zuvor. »Der Baron?« fragte sie ungläubig.

»Der Baron«, äffte die alte Hexe sie nach. »Große Herrn haben ihre Einfälle. Er bezahlt es und ich besorge Alles.«

»Wie Du willst«, sagte das junge Weibsbild, indem sie sich erhob. »Ich war nie dafür, ihn zur Braunin zu tragen. Auch die Früheren hast Du zu verantworten. Aber Du weißt, daß ich nichts weiter beitragen kann. Jetzt gehe ich in die Restauration, denn am Abende muß ich wieder aufwarten.« Damit trat sie an das Kind heran, das in tiefer Betäubung lag. Vorsichtig nahm sie ihm den Sauglappen aus dem Munde. »Wenn es Dir ernst ist mit dem Aufziehn«, sagte sie dann zu der Alten, »so gib ihm auch keine Mohnkörner. Einen Simpel will ich nicht heranfüttern, hörst Du«, und sie gab ihrer Mutter einen Stoß in die Seite, daß diese aufschrie. Dann nahm sie ihren Reisesack und kehrte der Alten den Rücken. Nach ein paar Schritten wendete sie sich aber wieder um und rief: »Morgen früh kannst Du ihn mir hinüber bringen, ich gebe Dir dafür zu essen. Vom Sonntag Mittag bleibt in der Gartenwirthschaft immer viel übrig, und der Wirth ist nicht genau, wenn ich ihm sonst den Willen thue.«

Damit ging sie raschen Schrittes weiter, während die Alte mit dem Knaben in ihre dunkle Höhle zurückkroch. In einer unordentlichen, schmutzigen Stube des Erdgeschosses warf sie das Kind auf ein Bett und legte sich neben dasselbe. Der Dienst, den dem armen Säugling die Mohnkörner thaten, leistete ihr der Alkohol, den sie genossen, und beide schliefen fest, bis am hellen Morgen die kleine Käthe, die zur Schule wollte, Lärm in der Stube machte, und die Alte unter Schelten auf das Mädchen sich ermunterte.

Unter so traurigen Aussichten that das vierte Sonntagskind seinen ersten Schritt in's Leben, und wenn die Nachbarn davon redeten, welchen Erziehern ihn der liebe Gott anvertraut habe, so kamen sie zu der Vermuthung, er sei geboren, um gehangen zu werden. Die Meisten aber trösteten sich, die arme Kreatur werde nicht älter werden als ihre vorangegangenen Geschwister. Man hatte dabei nur ein kleines Herz vergessen, das einem verwahrlosten, schmutzigen, lügenhaften, zum Bettel abgerichteten Mädchen gehörte, aber immerhin ein Frauenherz war, in dem das Leben noch nicht den stärksten Nerv eines solchen, das Mitleid, ertödtet hatte. Diese Schwester des Knaben war eine fünfjährige kleine Dirne mit frischen Backen und kurzen blonden Zöpfen, deren Gesicht einen sinnlichen, aber gutmüthigen Ausdruck trug. In der Verwüstung rings um sie her hatte das kleine Mädchen an das Kind ihr Herz gehängt, und wie ein treues Hundchen wachte sie über ihm. Sie brachte ihm, was sie glaubte, daß der Kleine es bedürfe, und wenn die Alte abwesend war, ließ sich das Mädchen von den Nachbarinnen zeigen, wie man ein kleines Kind behandle. Selbst auf der Straße aufgewachsen, zehnmal aus der Gosse gezogen, in der sie hätte ertrinken können, zwischen den Rädern hindurchpurzelnd, die sie überfahren wollten, angewiesen ihre Nahrung zu stehlen oder mit Lügen listig zu erbetteln, im täglichen Kampfe mit Kindern und Alten, hatte sie in der Schule des Lebens, die für sie die Schule des Lasters war, mit fünf Jahren eine Selbstständigkeit und Brauchbarkeit erlangt, die doppelt so alten Kindern oftmals abging. Je mehr sie sich aber mit dem kleinen Knaben abgab, um so mehr wuchs er ihr an ihr Herz, das noch zu jung war, um schon ganz verdorben zu sein.

Aber auch bei dem bösen, alten Weibe an der Dorfmauer sollte die Macht der Angewöhnung sich bewähren. Zunächst fütterte sie das Kind nur auf, um am ersten Monatstage das Geld auf dem Schlosse abholen zu können, das sie vertrank. Aber als der Kleine, dankbar für die gereichte Nahrung, ihr zulachte, fing auch sie an, in ihrer mürrischen Weise mit ihm zu spielen. Bald regte sich in ihrem thierischen Gemüthe eine Art von Zärtlichkeit für die kleine Kreatur, die ganz von ihr abhing, und bei ihrem Müßiggange wurde der rothhaarige Knabe ihr zu einem willkommenen Zeitvertreibe. Sie beschäftigte sich mit ihm, befühlte seine Wangen und Hände, und belauschte seine Bewegungen. Je länger, je mehr gewann der kleine Mann Einfluß auf sie. Nicht sie erzog ihn, sondern er erzog sie. Seine Wiege leise schaukelnd, strickte sie für ihn, das heißt, sie fing wieder an zu arbeiten, was sie lange nicht gethan hatte. Wenn er erwachte und sie anlachte, nahm sie ihn auf den Arm. Sie hatte es gern, wenn er ihre hornenen Finger mit seinen kleinen warmen Händchen umschloß und sie mit seiner lustigen Stimme ankrähte. Bald erwies er sich auch als ein nützlicher Partner bei ihrem Geschäfte des Bettelns. Sie wurde nicht oft abgewiesen, wenn sie eine Nachbarin bat, der verhungerten Kreatur ihr Fläschchen zu füllen, und gutmüthige Frauen schenkten ihr so viele abgelegte Kindersachen, daß sie von dem Erlös ihren Branntwein bestreiten konnte. So pflegte sie ihren Hans jeden Tag sorglicher, und hatte die bösen Absichten, die sie ursprünglich mit ihm gehabt, bald ganz vergessen. Käthchen aber, sobald sie aus der Schule kam, packte ihren Rothkopf auf und schleppte ihn hinunter nach dem sonnigen Vorlande des Flusses, wo wackelnde Enten und gackernde Gänse das Kind erfreuten, und das Treiben der Schiffe ihnen beiden eine angenehme Unterhaltung bot. Wenn dann der Kleine jauchzte, und der Schwester mit seinen flachen Händchen in's Angesicht schlug, dann regte sich in ihrem Herzen, ein so böser Range sie auch war, doch etwas wie Mutterliebe, als Ahnung ihrer eigenen höheren Bestimmung, und sie hätte es um die Welt nicht gestattet, daß Jemand ihrem Bruder, wie sie ihn mit dem Stolze einer legitimen Prinzessin nannte, etwas zu leid thue. Hans war jetzt ein hagerer, kleiner Mann mit brandrothen Haaren und sommersprossigem Gesichte. Seine Glieder waren lang und schlenkerten wie die eines Gliedermanns, aber der finstere Blick der weit zurückliegenden Augen hatte etwas Bohrendes und zeigte, daß er geistig nicht zurückgeblieben war. Alle Verwahrlosung hatte ihn nicht heruntergebracht. Auch die Stunden, die der Kleine allein, in seiner Stube eingeschlossen, zubrachte, schadeten ihm nicht. Er gedieh vom Schreien, seine Glieder streckten sich, er griff fest zu, und wollte man ihm seine Beute entreißen, so funkelten seine bösen, grauen Augen wie die eines jungen Raubthiers. Wenn die Alte in's Schloß ging, um ihre monatliche Unterstützung abzuholen, verfehlte sie nie, den Enkel auf dem Arme mitzubringen. Das nöthigte sie dann, doch ein Weniges auf Ordnung und Reinlichkeit zu halten, denn je sauberer sie ihn brachte, um so lieber schenkte ihr die Baronin die abgelegten Kleider des Junkers, die freilich dem rothen Dorfteufel viel zu klein waren, die sich aber leicht in Schnaps umsetzen ließen. Auch ein altes Bilderbuch erhielt sie für ihn, als er größer war, und Hans unterhielt sich bei dem einen Buche besser als der Junker bei dem Dutzend neuer, die er übersättigt hin und her warf. Ruhig kauerte er im Winter bei den geschenkten Spielsachen in der Ofenecke, oder er schaute auf die Großmutter, wie sie mit dem Kopfe wackelte, wenn sie nähte, auf das Stück Wachs, durch das sie ihren Faden zog, auf den messingenen Fingerhut, mit dem sie die Nadel regierte, er schlürfte den letzten Tropfen aus ihrem Branntweinglase und duselte dann bis Käthchen aus der Schule kam und ihn auf die Straße hinausschleppte. Bereits mit drei Jahren war er so selbstständig, daß er hinter der übrigen Dorfjugend einherjohlen konnte. Dort fragte Niemand nach seiner legitimen Geburt, sondern nach seinen Fertigkeiten. Die aber mehrten sich erstaunlich mit jedem Jahre. Er wußte Schlägen auszubeugen wie eine Katze, kletterte wie ein Eichhörnchen, schrie wie ein Waldteufel, und konnte Kirschen stehlen wie ein Sperling.

Die Fortschritte, die er in dieser Richtung, leider unter Anleitung Käthchens, machte, verschafften ihm aber bald einen bedenklichen Ruf. Wenn aus einem offenen Erdgeschosse etwas abhanden gekommen war, so erkundigte man sich sofort, ob Käthchen Müller mit ihrem Bruder nicht um die Wege gewesen sei? Man wollte wissen, daß der kleine rothe Teufel vornehmen Herren die Taschentücher aus den Taschen zu stipitzen verstehe und solche seiner Großmutter zutrage. Der Polizeidiener hatte auf den sechsjährigen Knaben schon ein eben so wachsames Auge wie auf die alten Verbrecher, die aus der Strafanstalt zurückgekehrt waren, und so hieß es bald: der Krug geht zum Brunnen bis er bricht.

Eines Tages trug es sich zu, daß der kleine Johann Müller in der Speisekammer eines reichen Bauern erwischt ward. Seine Schwester und Erzieherin hatte mit ihm eine Mauer bestiegen, wo sie scheinbar harmlos spielten. Als dann aber Niemand um die Wege war, hatte die robuste Dirne rasch den Bruder auf ihren Schultern bis zu einer schmalen Luftluke an der Rückseite des Nachbarhauses emporgehoben, und Hans war wie ein Marder in die Kammer hineingeschlüpft, während Käthchen sich auf die Mauer setzte und seelenvergnügt mit den Füßen baumelte. Endlich erschienen die brandrothen Haare ihres Brüderleins wieder in dem Mauerspalte, aber nur um mit einem entsetzlichen Wehegeschrei alsbald wieder zu verschwinden. Käthchen war bei diesen Klagetönen ihres Bruders sofort von der Mauer geglitten, um die Ecke gebogen und hatte sich geschickt zu den spielenden Kindern am Ufer des Stromes gesellt, als ob sie schon seit Stunden nur mit Hafenbauten im Sande, und Turnen auf den Zimmerbalken beschäftigt sei. Innerlich aber war sie natürlich sehr von der Frage erregt, was ihrem Rothkopfe widerfahren sein möchte?

»Schläge hat es sicher gesetzt«, dachte sie, »und am Ende, wenn er nicht schweigt, komme auch ich vor den Bürgermeister.«

Dem Rothkopfe war es wirklich recht schlimm ergangen. Er hatte sich in der Speisekammer, in die er leise hinabgeglitten war, erst satt gegessen, bis in seinen ausgehungerten jungen Leib durchaus nichts mehr hinein wollte. Dann hatte er alle seine Taschen, die die Großmutter in weiser Fürsorge ganz ungewöhnlich weit und tief zu machen pflegte, bis oben mit getrocknetem Obste, Würsten und Speckschnitten vollgestopft. Vorsichtig war er dann auf einen Schrank gestiegen und leise wieder zu der Luftluke emporgeschlüpft, aber nunmehr fand sich, daß er mit den übervollen Taschen die schmale Oeffnung nicht mehr passiren konnte. Indem er sich vergeblich abarbeitete, stieß er rückwärts eine Schüssel von dem Schranke, auf dem er stand. Ueber dem Lärm trat der Bauer ein, der gerade in das Haus zurückgekehrt war. Sein erstes war, den kleinen Einbrecher von hinten mit dem Stocke zu bearbeiten, den er in der Hand trug. Unter mächtigem Wehegeheule war der junge Verbrecher herabgesprungen, um durch die gegenüberliegende offene Thüre zu entwischen. Aber der Bauer ergriff ihn, bläute ihn nochmals tüchtig durch, und übergab ihn sodann dem Polizeidiener, der eiligst herbeigerufen worden war.

Damit brach über die Familie an der Dorfmauer ein lange verdientes Strafgericht herein. Die ungewöhnlichen Taschen des jungen Hans warfen ein schlimmes Licht auf die Erziehungsgrundsätze der alten Müllerin. Um ein Haar wäre sie als Diebshehlerin dem Gerichte überliefert worden. Jedenfalls konnte man ihr die Erziehung der Kinder nicht länger überlassen. Der Pfarrer fand für Käthchen, deren Betheiligung an dem Diebstahle nicht erwiesen werden konnte, einen leichten Dienst, wo man sie unterbrachte, denn die Mutter hatte sich aus der Gegend verzogen, und war auch nicht danach, daß man ihr die Kinder hätte nachsenden mögen. Es fragte sich nur, was mit dem rothen Hans geschehen solle? Der Gemeinderath war zuerst der Meinung, Alles beim Alten zu lassen, aber die entrüsteten Nachbarn entrollten ein solches Register von Schandthaten des kleinen Sünders, daß der Bürgermeister vorschlug, man solle ihn einer benachbarten Rettungsanstalt anvertrauen, und der Baron solle dieser seinen Erziehungsbeitrag auszahlen statt der alten Müllerin, deren Einfluß der Knabe entzogen werden müsse. Das war nun aber dem Pfarrer nicht recht. Er wünschte die Unterbringung des Buben bei einem ehrbaren Meister, da solche Tugendspiegelfabriken, wie er sich ausdrückte, den Jungen nur die Köpfe verdrehten. Er habe schon mehr als ein verkehrtes Resultat bei jener Anstalt erlebt. Aber die Gemeinderäthe fanden es am bequemsten, den elternlosen Knaben abzuschieben, und da jeder Theil bei seiner Meinung blieb, kam man schließlich überein, daß der Baron, auf dessen Beutel in jedem Falle gerechnet war, die Entscheidung geben solle. Diesem aber war die ganze Sache gleichgültig. »Das kommt bei der Wohlthätigkeit heraus«, murrte er. »Nun habe ich mit meinem Gelde einen Gaudieb mehr herangezogen.« Um so eifriger nahm die Baronin sich der Sache an. Sie zahlte schon seit vielen Jahren Beiträge für das Rettungshaus »zum verlorenen Sohne«, und deshalb sprach sie sich lebhaft für dieses aus. So kam es, daß, trotz des Widerspruchs des Pfarrers, der Knabe in den »verlorenen Sohn« eingeliefert wurde, wo der alte Hans sofort in einen neuen Johannes umgetauft ward.


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