Adolf Hausrath
Elfriede
Adolf Hausrath

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Neuntes Kapitel

»Euch danke ich es, daß ich überhaupt ein Mensch geworden bin«, sagte Nik an dem achtzehnten Geburtstage, an dem sich die drei jungen Leute bei dem Altar am Epheumeere versammelt hatten, um sich gegenseitig zu gratuliren.

»Auch wir danken Dir viel«, erwiderte Elfriede erröthend, indem sie Nik mit ihrem lieblichen Lächeln anschaute. »Daß wir wie Kinder des Hauses in diesem schönen Parke verkehren durften, war der beste Theil unserer Jugendfreude. Wir haben keinen größern Wohlthäter als diesen Garten.«

»Gewiß«, bestätigte Fritz. »Dieser Hain war mir Alles, Studirzimmer, Freund, Arzt, ich werde mich sehr nach ihm sehnen, wenn ich in der Universitätsstadt auf mein Theologenkämmerchen beschränkt sein werde.«

Nik reichte beiden Geschwistern überglücklich die Hände. »Geloben wir es uns bei diesem Altar, an dem wir so selige Stunden feierten, bei dem wir so edle Dichterwerke gemeinsam lasen, daß wir nicht von einander lassen wollen.« Fritz drückte ihm fest die Hand und schaute ihm ernst in die Augen. Auch Elfriede streckte ihm schwesterlich ihre beiden schlanken Hände entgegen und sagte: »Gute Freundschaft, für immer.« Wie gern hätte Nik diese lieben Hände geküßt, wenn er nur gedurft hätte.

»Nun aber wollen wir Elfrieden unser Geburtstagsgeschenk überreichen«, rief er fröhlich, um seine Verwirrung zu bemeistern.

»Das Deine, heißt das«, erwiderte Fritz. »Ich wenigstens wüßte nicht, was ich dabei gethan hätte.« Nik flüsterte ihm darauf etwas in's Ohr, und Fritz erklärte, er gehe voraus, um Alles zu rüsten.

»So, Schwesterchen«, sagte jetzt Nik, »nun mußt Du ganz folgsam sein, damit Du uns die Freude nicht verdirbst, Dich zu überraschen.«

»Was muß ich thun?« sagte Elfriede lächelnd.

»Dir die Augen verbinden lassen«, erwiderte Nik, indem er ein großes schwarzes Tuch zum Vorschein brachte. »Gib her«, erwiderte sie, das große dichte Tuch betrachtend. »Das wird ja gründlich.«

Aber Nik erklärte, er müsse das selbst besorgen, und kam mit seinen zitternden Händen auch endlich mit einem festen Knoten zu Stande, indem er zugleich einen Kuß auf ihre blonden Flechten hauchte. Dann nahm er Elfrieden zärtlich unter dem Arme und führte sie die Kreuz und Quer im Parke umher, um sie irre zu machen. Elfriede merkte wohl, daß sie abwärts gingen. Das Gackern der Hühner verrieth ihr auch, daß sie sich im Obstgarten bei der Landstraße befanden, und das Oeffnen einer Thüre, aus der sie kalte Kellerluft anwehte, ließ ihr keinen Zweifel, daß Nik sie nach dem unterirdischen Gange führe, der vom Schlosse unter der Landstraße hinweg nach dem Flußufer ging, wo der Nachen des Barons bei seinem Badehäuschen angebunden war.

»Welches Geschenk er hier mir zu überreichen hat?« dachte Elfriede, die dem Scherze längst ein Ende gemacht hätte, wäre nicht Fritz, wie sie glaubte, an demselben betheiligt gewesen.

»Hier mußt Du nun ein wenig allein bleiben«, sagte Nik. »Thue ja die Binde nicht ab, Du verdirbst uns sonst die ganze Ueberraschung.« Damit ließ er sie in der dunkeln Grotte, deren Thüre gegen den Strom er fest hinter sich abschloß. Sie hörte ihn draußen mit Fritz reden. »Du hast den Schlüssel«, sagte der Bruder.

»Ach«, erwiderte Nik, vergeblich in seinen Taschen suchend, »nun ließ ich ihn auf der Bank bei dem Altare liegen.«

»Immer der Alte«, spottete Fritz. »Warte, ich hole ihn, ich bin schneller.« Er entfernte sich auf der Treppe, die nach der Landstraße hinauf führte.

Elfriede hörte, wie Nik draußen mit einer Stange, so schien es ihr, im Wasser plätscherte. Dann sang er halblaut:

Das waren mir selige Tage,
Bewimpeltes Schiffchen, oh trage
Noch einmal mein Liebchen und mich.

Elfriede erröthete unter ihrer Binde. »Also einen Nachen wollen sie mir schenken, die guten Kerle. Oder haben sie den ihren neu bemalt und mir zu Ehren Elfriede getauft?«

Plötzlich hörte sie Nik laut sagen: »Ach! Nun habe ich den Schlüssel doch!« Und sie vernahm, wie er sich niederbückte, und einen Schlüssel in einem Schlosse drehte. Eine Kette fiel klirrend an die Erde.

»So, jetzt nimm die Binde ab«, rief Nik an der Thüre. Sie that, wie er befohlen. Grell, blendend, gleißend lag die Mittagssonne auf dem Flußspiegel. Da stieß Nik mit einem Schlage, in dem gleichen Augenblick, in dem Elfriede die Binde abgenommen hatte, vor ihr beide Thorflügel der Grotte auf. Der helle Glast einer schattenlosen Märzsonne überfluthete das zarte Mädchenantlitz, »oh!« rief das geblendete Kind mit einem Schmerzensrufe und hielt sich beide Hände vor die Augen.

»So sieh doch«, rief Nik ungeduldig, »Dein Boot, ›Elfriede‹.«

»Ach meine Augen«, seufzte Elfriede schmerzlich.

»So mache sie doch auf, diese schönen Augen und freue Dich«, sagte Nik ärgerlich.

»Ich kann nicht«, seufzte sie. »Ich kann nicht. Ich sehe nur roth um mich her.«

»Was habt ihr gemacht?« fragte jetzt plötzlich Fritzens Stimme, der, ohne den Schlüssel gefunden zu haben, wieder vom Parke herabgestiegen war.

»Die plötzliche Blendung«, stammelte Elfriede. »Ich glaube, ich bin blind.« »Da sei Gott vor«, erwiderte Fritz. »Komme gleich aus der Sonne. Wie konntet ihr so unvorsichtig sein?«

Elfriede seufzte vor unerträglichen Schmerzen. Eine halbe Stunde saßen die Dreie in der Grotte. Fritz legte der Kranken ein im Flusse genetztes Tuch besorgt vor die Augen, während Nik noch immer mehr über die vereitelte Ueberraschung verdrießlich war als über Elfriedens Schmerzen. Von der Schwere des Unglücks, das er angerichtet, hatte er keine Ahnung.

»Führe mich nach Hause«, bat Elfriede den Bruder. »Ich kann es nicht länger aushalten. Auch warten die Eltern mit dem Essen.« Sie brachen auf, und Nik folgte ihnen mißmuthig. So war nun durch Elfriedens Zimperlichkeit ihm die ganze Freude verdorben. Wie hatte er sich gestern gefreut, als der Zimmermann das bunte Boot in den Fluß gesetzt hatte, weiß und blau bemalt und mit der weithin sichtbaren Inschrift: »Elfriede.« Kaum hatte er sich überwunden, nicht am Abende schon mit ihr das Boot zu besteigen. Dann aber hatte er erwogen, daß nur bei Tage die Pracht des Geschenks den vollen Eindruck machen könne. Nun hatten ihre empfindlichen Augen alle seine Pläne zu Schanden gemacht. Unmuthig ging er hinter den Geschwistern her nach der Wohnung des Gärtners, wo die Eltern, verwundert über das lange Ausbleiben der sonst so pünktlichen Kinder, die Hand vor den Augen unter der Thüre standen und nach ihnen ausschauten. Als sie sahen, wie Elfriede mit verbundener Stirne am Arme des Bruders herbeiwankte, kamen sie ihr besorgt entgegen. Da Fritz über den Vorgang keine nähere Auskunft zu geben vermochte, mußte Nik selbst seinen thörichten Streich erzählen, während Frau Glimm ihre Tochter in's Haus führte.

Der Vater hörte finster zu. »Das kann sehr schlimme Folgen haben, junger Herr«, sagte er dann in ernstem Tone. »Lassen Sie sich das zur Warnung dienen.«

Dann kehrte er mit Fritz in die Wohnung zurück, und Nik stand rathlos vor der Thüre. Es war ihm unerträglich, daß er gar nichts solle thun können, um seine Uebereilung wieder gut zu machen. Da fiel ihm ein, er wolle möglichst rasch zu dem alten Medizinalrathe laufen, der noch immer Hausarzt war – »seit zwanzig Jahren«, wie er stolz zu sagen pflegte – und der jetzt noch mehr Orden hatte und noch mehr zu verschreiben pflegte, als vor zwanzig Jahren.

Nach einer Stunde kam Nik mit dem alten Herrn in dessen Wagen angefahren. Sie stiegen an dem Pförtchen aus, das zur Gärtnerswohnung hinaufführte. Tyras bellte wie toll und wollte seine Kette zerreißen, um den Doktor nicht einzulassen. Auch die beiden Alten machten ungeduldige Gesichter, als sie den greisen Aeskulap mühsam den Berg heraufkommen sahen. Aber, was half es, er war nun einmal da, und sie mußten ihn zu der Kranken führen.

Diese lag in verdunkelter Stube mit gefalteten Händen in ihrem Bettchen und klagte über heftige Schmerzen in der Stirne. Der alte Arzt quälte sie mit dem Lichte, das er einließ, mit dem Aufreißen der Augen, mit dem Augenspiegel, von dessen Gebrauch er nichts verstand. Dann sagte er: »Es ist nichts. In ein paar Tagen wird es vorbei sein.«

Noch verschrieb er Tropfen zum Eingießen, feuchte Umschläge, Limonade zur Kühlung, und ging mit der tröstlichen Versicherung, er werde täglich wiederkommen. Und er kam täglich wieder und es wurde täglich schlimmer.

Nik war außer sich vor Schmerz; Fritz finster und einsilbig. Man sah ihm an, wie er Nik's Leichtsinn und den aufgenöthigten vornehmen Arzt verwünschte. Warf ihm doch der Vater täglich vor, daß er ihn stets vor dem Umgange mit dem jungen Faselhanse gewarnt habe, und berieth mit der Mutter, wie er den Medizinalrath wieder los werden könne. War die Schule zu Ende, so strich Nik allein, Qual und Pein im Herzen, um die hintere Seite der Gärtnerwohnung, wo das Leidensstübchen der Geliebten lag. Da saß er hinter der Weißdornhecke und verlebte mehr als eine dunkle Stunde. Er erinnerte sich jetzt, wie ihm selbst damals, obwohl er zuvor durch die blendende Sonne gegangen, und er sich so an das Licht gewöhnt hatte, der gleißende Schein des Flusses die Augen gebeizt hatte. Aber an nichts denkend, als an seine Ueberraschung, hatte er die Augen der Geliebten vergessen. Und wie waren sie schön, diese Augen, wie liebte er sie. Wenn er nur die eigenen hingeben könnte, um die zu erhalten, die die Sterne seines Lebens waren. Endlich konnte er es nicht mehr aushalten. Er schlich im Schutze der blühenden Bäume nach dem offenen Fenster; er wollte hinaufsteigen, hineinschauen und ihr ein Wort zurufen. Als er unter dem Fenster angekommen war, hörte er ihre liebe Stimme. Sie betete sich selbst die Verse vor, die sie für den Pfarrer einst gemeinsam gelernt und die er längst wieder vergessen hatte:

Wenn mir am allerbängsten
Wird um das Herze sein,
Dann reiß' mich aus den Aengsten
Kraft deiner Angst und Pein.

Nik konnte es nicht ertragen. Er legte sich flach auf den Rasen und weinte bitterlich. Nach einer Weile hörte er die Stimme der Kranken auf's neue:

Und wenn es währt bis in die Nacht
Und wieder bis zum Morgen,
So soll mein Herz an Gottes Macht
Verzagen nicht, noch sorgen.

Convulsivisches Weinen erschütterte Nik's Körper, und die Qualen, die er in diesem Augenblicke empfand, waren größer, als die der Kranken, die nur am Körper litt, aber deren Seele mit ihrem schweren Schicksale bereits versöhnt war.

»Ich Thor«, sprach Nik endlich zu sich selbst. »Ich Thor, der ich durch meine Bildungsschriften und Neuheiten, die morgen werden vergessen sein, meinte, ihren Geist nähren und formen zu müssen, damit sie meiner würdig werde. Und sie hat an ihrem Glauben einen festen Halt, während ich verzweifle.« Damit erhob er sich. Behutsam stieg er an dem Rebengeländer empor, bis er durch das Fenster die arme Kranke erblicken konnte. Bleich, aber mit einem Ausdruck rührender Ergebung lag sie da und athmete ruhig unter der schwarzen Binde die würzige Frühlingsluft, die durch das offene Fenster hereindrang. »Elfriede«, rief Nik mit einem Ausdruck unendlichen Schmerzes und unendlicher Liebe. Zum ersten Male hatte er ganz sich vergessen und hätte zehn Leben hingegeben, um das Leiden der Geliebten zu lindern.

»Nik«, antwortete sie sanft. »Ich kannte Dich wohl an Deinem Schritte. Du weintest, armer Nik.«

»Ach, Elfriede, kannst Du mir vergeben?«

»Vergeben?« sagte sie mild. »Was soll ich Dir vergeben? Ich konnte ja selbst daran denken, daß es thöricht ist, so lange im Dunkeln zu stehen, wenn man dann in die Sonne muß. Wir waren beide thörichte Kinder.«

»Aber ich war schuld«, sagte er gepreßt.

»Es war Gottes Wille, lieber Nik«, erwiderte Elfriede. »Er hat uns diese Prüfung auferlegt.«

»Wie lange mußt Du noch so liegen?« fragte Nik zaghaft.

»Morgen will der Geheimerath die Binde abnehmen. Er meinte, es müsse dann alles gut sein. Ich glaube es nicht, aber warten wir ruhig ab, was Gott über mich beschließt.«

Nik konnte sich in seiner schwebenden Lage nicht länger halten. »Lebe wohl, Du Theuere«, rief er, »ich komme morgen wieder.« Er sprang hinab, und die Hand auf's Herz pressend, stieg er langsam den Berg hinan, wo er sich nach einer Weile im Walde fand, immer dasselbe Gebet um Heilung der Geliebten wiederholend.

Am anderen Tage kam der Arzt. Besorgt begleiteten ihn Vater, Mutter und Bruder in das kleine Stübchen der Dulderin. Der alte Herr schien aufgeregt. Seine selbstgefällige Zuversicht hatte ihn gänzlich verlassen. Er löste die Binde der Kranken mit zitternden Händen. »Können Sie sehen?« fragte er dann.

»Bitte, öffne den Laden, Mutter«, erwiderte die Kranke.

Da sahen sich die Dreie an, Thränen traten in ihre Augen und Fritz schluchzte laut.

»Ist es denn hell hier?« fragte Elfriede beklommen. Sie sah nichts als das ewige Dunkel, das die Blinden sehen. »Weine nicht, Fritz«, sagte sie nach einer Weile. »Gott kann auch ein blindes Mädchen glücklich machen.«

Da beugten sich die Eltern in Thränen über ihr süßes Kind, und streichelten ihm die Wangen. Der Vater begleitete den Geheimrath noch an die Thüre.

»Es war nichts zu machen«, sagte der alte Herr. »Der Nerv war todt, ich sah es gleich, aber ich wollte Sie nicht erschrecken.«

Der Gärtner zog die Augenbrauen finster zusammen, und eine böse Antwort schien ihm auf den Lippen zu liegen, aber er bezwang sich, zuckte die Achseln und wendete dem alten Gaukler den Rücken.

Mehrere Tage waren verflossen, seit Elfrieden die Binde abgenommen worden war. Durch den vom Schmerze völlig betäubten Fritz hatte Nik erfahren, daß die Schwester blind, unwiderruflich blind sei. Tagelang war Nik umher gegangen wie ein Gerichteter. Er wagte es nicht mehr, das Gärtnerhaus zu betreten, und Fritz selbst hatte ihn gebeten, den Eltern, aber auch der Schwester, die der Schonung bedürfe, fern zu bleiben. Nur seinem Vater hatte Nik sich anvertraut und ihn angefleht, für das holde Kind, das durch seine Schuld so unglücklich geworden sei, zu sorgen. Der Baron hörte die Erzählung seines Sohnes ernst und theilnehmend an. Obwohl er Nik's Antheil an dem Unglück nicht so hoch anschlug als dieser selbst, war er doch voll Mitgefühl für das arme Mädchen, das er immer gern gesehen hatte. Was in seinen Kräften stehe, wolle er gern thun, sagte er, aber eine dauernde Versorgung könne er Elfrieden nicht bieten. Zum ersten Male erfuhr Nik, daß die Verhältnisse seiner Eltern sehr zurückgegangen seien, daß die Einnahmen des Barons nur knapp ausreichten, ihre Ausgaben zu bestreiten, und daß das Gut kaum so viel trage, als die Kosten der Bewirthschaftung ausmachten. Dennoch versprach der Freiherr die Ausbildung der Blinden auf sich zu nehmen, nicht als ob er damit anerkenne, daß Nik an dem Unfalle schuld sei, sondern einfach, weil er mit dem Unglück seiner Dienstleute Mitleid habe. So begab er sich zu dem alten Glimm, um in diesem Sinne das Nöthige zu besprechen. Er glaubte etwas Besonderes zu thun, wenn er sich erbot, die Kosten der mißlungenen Kur zu übernehmen und Elfrieden zwei Jahre lang in einem Blindeninstitut ausbilden zu lassen.

Der Gärtner und seine Frau waren nicht die Leute, sich in unfruchtbaren Klagen zu ergehen. Nachdem einmal das Schicksal ihres armen Kindes unwiderruflich feststand, grübelten sie nicht viel über die Frage, wer die ganze oder die halbe Schuld trage, sondern sie fanden sich ohne Murren in die schwere Prüfung, die Gott über sie verhängt hatte. Frau Glimm fühlte das Unglück ihres geliebten Mädchens wie ihr eigenes. Wo waren nun ihre stolzen Träume, in denen sie ihr schönes Kind mit Myrten im blonden Haare als Gattin eines stattlichen Mannes am Altare gesehen, wo die Cherubsköpfchen der Enkel, die um die Kniee der Großmutter spielen sollten, – alles Traum, Schaum. Eine hülfsbedürftige Blinde saß mit gefalteten Händen im Krankenstuhle, in finsterer Ecke, und diese schattenhafte Kranke war ihr gestern noch so fröhliches, maienschönes Kind, dessen süßes Lachen, die himmlischste Musik für das Ohr der Mutter, wohl für immer verstummt war. Aber es war nicht der Gärtnerin Art durch Aeußerung aller dieser bittern Empfindungen ihrem armen Manne die Last noch schwerer zu machen. So nahmen die beiden Eltern den Vorschlag des Barons ohne viel Worte an, als dieser erklärte, er wolle Elfrieden in die berühmte Blindenanstalt zu N. bringen, wo das junge Mädchen sich in der Musik ausbilden könne, für die sie so sehr begabt sei. Während die beiden Männer darüber verhandelten, und Elfriede neben Fritz auf dem Lehnstuhle des Vaters saß, erschien auch die Baronin, die die arme Blinde mit ihren Fragen und ihrem weichmüthigen Bedauern peinlich aufregte.

»Wie haben Sie diese entsetzlichen Tage nur überstanden, liebes Kind?« fragte sie Elfrieden, die aus ihrem Lehnstuhle sie mit glänzenden und doch so unheimlich todten Augen anstarrte.

Elfriede schwieg eine Weile, dann sagte sie leise, so daß nur die Baronin und Fritz es hören konnten: »Ich sah bei Tag und Nacht ein Haupt voll Blut und Wunden, das schwerer litt als ich, und ohne Schuld, ein Haupt, das schon Vielen zum Troste erschienen ist, wenn sie sich in ihrem Leide zu ihm flüchteten. Ihr wißt nicht, wie sanft und voll Güte diese Augen sind. Wenn ich diesen liebevollen, traurigen Blick sah, dann wurde ich ruhig.«

Die Baronin fuhr mit ihrem feinen Tuche nach den Augen. Dann sagte sie, warum sie eigentlich gekommen sei. Sie wollte Elfrieden eine Harfe schenken, denn sie hatte schon oft von blinden Mädchen gelesen, die die Harfe spielten, und sie hatte das stets so rührend gefunden. Die Mutter wollte verstimmt das Geschenk zurückweisen. Es verletzte sie, daß die Baronin mit ihrem unglücklichen Kinde auch noch eine Art von Schaustellung beabsichtige, aber die Blinde sagte mit leiser bittender Stimme: »Doch, Mutter. Ich nähme so gern die Gabe der gnädigen Frau an.«

Glimm betrachtete die Sache einfach von der praktischen Seite. Er überlegte sich, daß es ganz gut sein würde, wenn seine Tochter noch ein zweites Instrument verstehe, bei dem ihr nicht so viele andere Künstler und Lehrer Concurrenz machen würden, und darum erklärte er sich mit dem Anerbieten kurzweg für einverstanden. Fritz saß still neben Elfriedens Lehnstuhl, die zarte Hand der Schwester in der seinen haltend, und diese wußte, was sein Händedruck besage, denn sie wendete das bleiche Antlitz mit den zarten Linien und den feinen Zügen ihm lächelnd zu.

»Redet Ihr nur immer und thut, was Ihr wollt«, hieß sein Händedruck, »aber sobald ich Prediger bin, zieht Elfriede in mein Pastorhaus, und wie sie der Segen meiner Jugend gewesen ist, wird sie auch der Segen meiner Gemeinde, der Frauen und Kinder weit und breit sein.« Es war schon fest zwischen ihnen verabredet, in welchen Fächern Elfriede die Jugend seiner Gemeinde unterrichten werde.

»Die Leute sollen erleben«, sagte er bei sich selbst, indem er den Kopf trotzig zurückwarf, »daß eine Blinde wie Elfriede der Welt nützlicher ist, als hundert Sehende wie die da. Wenn Ihr blind wäret, so hättet Ihr keine Sünde, nun Ihr aber sprecht, wir sehen, bleibt euere Sünde auf Euch«, dieses Wort der Schrift fuhr ihm durch den Sinn. Er war kaum weniger umgewandelt durch das Unglück, das Elfrieden betroffen hatte, als diese selbst. Der Schlag, der sein Lebensglück im Mark getroffen, hatte ihn schroffer gemacht in seiner Ueberzeugung, und indem er sich fest an das Einzige hielt, was hier Trost geben konnte, war ihm das tröstende Gerede dieser vornehmen Leute unerträglich. Er bemitleidete die Schwester, der diese vielen Worte eine Pein sein mußten, und dann beneidete er sie fast wieder, daß sie die theilnehmenden Grimassen dieses Ehepaars nicht zu sehen brauche. Je härter das Leben mit ihm verfahren war, um so starrer mußten seine Grundsätze werden. Wäre es auf ihn angekommen, der Vater hätte die Hülfe des Barons kurz abgelehnt, denn er war überzeugt, daß jede Verbindung mit diesen Leuten nur neues Unglück über Elfrieden bringen werde.

Obgleich nun durch die Annahme der Anerbietungen des Freiherrn der Friede zwischen Schloß und Gärtnerhaus abgeschlossen war, fand doch Nik den Muth nicht, den tief betrübten Eltern unter die Augen zu treten, und er bat den Bruder, Elfrieden wie früher nach dem Garten zu führen, damit er dort mit ihr sprechen könne; er wolle gewiß gefaßt und ruhig sein, und die arme Kranke in keiner Weise aufregen. Aber Fritz beeilte sich nicht, diese Bitte zu erfüllen. So saß Nik oft lange unter dem Bilde der Psyche, da er vermuthete, Fritz werde für die Blinde am ehesten diesen breiten, ebenen Weg wählen, falls er sie herüber bringe. Er hatte den Ring, durch den er sich einst dem Bilde der Psyche verlobt, vor sich liegen und verfiel immer mehr in düsteres Brüten über alles Unheil, das er schon angerichtet, und wie er bestimmt scheine, den Menschen Fluch zu bringen mit seiner Liebe. Während er so eines Abends, das Haupt auf den Gartentisch gelegt, an seinem Lieblingsplatze saß, hörte er in der Ferne einen leisen, vorsichtig zögernden Schritt. Als er aufblickte, sah er Elfrieden. Wie ätherisch und zart sah sie aus nach ihrer langen Krankheit. Sie kam den breiten Gang herab, auf die Statue der Psyche zu, der sie jetzt mehr glich, als je, und die sie nun nicht mehr sehen konnte. Als sie in die Nähe eines Rosenbusches kam, hielt sie inne, um den köstlichen Duft mit einem tiefen Zuge in sich aufzunehmen. Indem sie ihren Schatten über die Rosenhecke warf, schienen die Blumen tiefer zu erglühen. Mit stiller Wehmuth belauschte der Jüngling jede ihrer Bewegungen. Sie hatte das feine Psycheprofil über die Blumen gebeugt, um ihren süßen Duft immer wieder einzuathmen. Dann ließ sie die zarten Fingerspitzen von Blume zu Blume gehen, als ob sie sich die Gestalt derselben wieder in das Gedächtniß zurückrufen wolle. Nik traten die Thränen in die Augen, als er sie, die einst wie ein Reh durch die Büsche huschte, in dieser Hülflosigkeit vor sich sah. Er machte ein Geräusch, bei dem sie sich rasch ihm zuwendete mit dem gespannten, ängstlichen Ausdrucke, der Blinden eigen ist, ehe sie wissen, wen sie vor sich haben.

»Elfriede«, sagte Nik leise.

Als sie die wohlbekannte Stimme vernahm, machte sie eine Bewegung ihm entgegen, während sie eben noch hatte entfliehen wollen. Dann blieb sie stehen und eine tiefe Röthe überzog ihr liebliches Antlitz. »Darf ich Dich führen?« fragte Nik mit schmerzlicher Zärtlichkeit.

»Bleibe nur, Nik«, sagte Elfriede mit ihrer alten fröhlichen Stimme. »Ich muß es ja doch endlich lernen, allein zu gehen.« Indem sie mit dem Saume ihres Gewandes und zuweilen mit dem kleinen Füßchen sich an der Buchseinfassung des Weges hintastete und mit der linken Hand die Zweige des Spalierobstes und der Zierstauden flüchtig streifte, kam sie behutsam auf ihn zu und ließ sich leise, wie eine Elfe, neben ihm nieder. Er war stumm in seinem unendlichen Schmerze, sie aber sagte freundlich: »Du Guter, wie lange haben wir uns nicht gesehen.«

»Gesehen«, dachte Nik betrübt. »Noch immer redet sie in den Ausdrücken, die für sie nichts mehr bedeuten.« Aber es war, als ob sie seine Gedanken unausgesprochen verstände. »Gewiß, Nik«, sagte sie. »Ich sehe Euch alle, wenn ich Euere Stimme höre. Ich weiß ja, wie Ihr ausseht, erinnere mich der Bewegungen, die Ihr macht, wenn Ihr redet. Wie gut war Gott, daß er mir das Alles so lange gewährt hat.« Nik seufzte, er konnte nichts erwidern. Ihn machte diese überirdische Resignation nur um so trauriger. Mit ihr zu weinen, wäre ihm wohlthuender gewesen. Sie aber fuhr fröhlich fort: »Mein armer Nik, wie viel hast Du um mich gelitten.« Schmerzlich bewegt ergriff er ihre Hand, aber sie entzog ihm dieselbe sanft und ließ sie leise über sein Gesicht gleiten. »Ich muß doch wissen, ob es wirklich der fröhliche Nik ist, den ich hier vor mir habe.« Nik kämpfte mit den Thränen, während sie so sprach, denn er konnte sich noch immer nicht an den Anblick dieser todten Augen gewöhnen, die einst so liebevoll geblickt hatten und die immer wieder wie Sterne in seiner Erinnerung aufleuchteten. Es war so unheimlich, daß diese Augen ihn anstarrten und ihn dennoch nicht sahen, und daß sie dann wieder unruhig hin- und hergingen, als ob sie etwas suchten und es nicht finden könnten, während sie doch nur mit ihm sprach.

»Du bliebst so lange fern«, sagte Nik, zur Erde sehend, um ihrem leeren Blicke nicht zu begegnen.

»Sie hielten mich alle zurück«, sagte die Blinde mit wehmüthigem Lächeln. »Sie meinten, es würde mich angreifen.«

»Und Du bist doch gekommen, Du Gute«, rief Nik glücklich, indem er den Arm um ihre zarte Gestalt schlang, und sie auf die feinen Rosenlippen küßte. Sie duldete es sanft und legte ihr blondes Köpfchen auf seine Schulter. So saßen sie lange still nebeneinander.

»Weißt Du, Nik, wann ich Dich lieb gewann?« fragte Elfriede nach einer Weile, indem sie ihre lichtlosen Augen dennoch mit einem Ausdruck unendlicher Zärtlichkeit zu ihm aufschlug. »Das war damals, als ich in meinem Stübchen lag und Dich wegen meines Leidens so schmerzlich weinen hörte. Damals sagte ich mir: ›Wie gut er ist, und er liebt mich so innig‹.«

»Du Engel«, erwiderte Nik. »Wäre ich nicht eine Bestie, wenn ich keine Thränen gehabt hätte für Dein Schicksal, das ich verschuldet. Habe nicht ich Dich geblendet? ...«

Sie legte ihm ihre zarte Hand vor den Mund und sagte: »Bitte, sage das nicht. Ich kann es nicht hören. Ich habe dieses Schicksal aus Gottes Händen, nicht aus den Deinen, und er hat Dich nur gebraucht, damit auch Du besser werdest.«

»Oh, Elfriede«, sagte Nik, dem die Thränen wieder in die Augen traten, »wenn er Dich mir bestimmt hätte! Wenn ich Dir meine Augen leihen dürfte mein Leben lang.« Und er erzählte der Blinden, die mit einem seligen Lächeln zuhörte, wie er schon als Knabe sich ihr geweiht habe. Wie sie ihm Eins gewesen sei mit dem Bilde der Psyche, unter der sie säßen, wie er dem Bilde den Ring angesteckt habe, da er nicht den Muth gefunden, ihr ihn anzubieten. Damit holte er seinen Ring hervor, den er jetzt wieder Tage lang bei sich trug. Sie ließ es ruhig geschehen, daß er ihre Hand nahm, um den goldenen Reif ihr an den zarten Finger zu streifen.

»Du zögerst und ziehst ihn wieder zurück«, sagte sie dann befremdet. »Was hast Du?« Sie hatte gefühlt, wie er zusammenschrak und seine Hand zitterte.

Am Ende des Laubganges hatte sich die untergehende Sonne majestätisch herabgesenkt und ließ die Zweige der Gebüsche und der Rebbogen golden erstrahlen. Der Fluß glänzte im Abendsonnengold und die Stämme glühten wie im Feuer. Aber durch dieses Glanzmeer schritt am Ende des Ganges eine finstere Gestalt. Es war der Gärtnerbursche, der einen langen Schatten über den Weg warf, während sein rothes Haupt gleich einer brennenden Kohle erglühte. Unwillkürlich fiel Nik ein, daß an den Ring, durch den er sich Elfrieden verlobte, eine sehr trübe Erinnerung sich knüpfe, eine Erinnerung an die schlimmste Periode seiner Jugend.

»Du bereust schon«, sagte Elfriede schmerzlich lächelnd.

»Nein, Seele meiner Seele«, erwiderte Nik traurig, »aber eine unwürdige Handlung knüpft sich an den Besitz dieses Ringes. Ich will Dir einen andern geben.«

»Ich verstehe Dich nicht«, sagte Elfriede beklommen.

»Er war in Müllers Händen«, sagte nun Nik, die trübe Stimmung abschüttelnd, »in der Zeit, da ich schlecht war.«

»So laß ihn mir dennoch«, erwiderte die Blinde. »Er soll mich daran erinnern, daß das Leben auch Schweres bringt; und Dich, daß Du Dich nicht wieder an böse Menschen bindest.« Leise, wie ein Lüftchen, erhob sie sich. »Und nun, Nik«, sagte sie, »führe mich zu meinem Boote. Du sollst mich auf meinem Nachen hinausfahren in den Fluß. Ich will das Murmeln der Wellen hören, die milde Abendkühle fühlen, dann wird mir auch wieder die Erinnerung kommen, wie schön sie ist diese Welt des himmlischen Vaters.«

Ihn erschreckte dieser Vorschlag. Er hatte den Unglückskahn nicht wieder gesehen, seit jenem verhängnißvollen Tage. Am liebsten hätte er ihn verbrannt, aber er hatte nicht den Muth gehabt, die Stätte wieder zu betreten. Sogar die Farben haßte er, mit denen der Tüncher das Boot bemalt hatte. Aber Elfriede zog ihn mit sich. Sie stiegen die Treppe von dem Laubgange hinab nach dem Obstgarten, und als sie in den dunkeln Tunnel eintraten, sagte Elfriede: »Siehe, hier muß ich Dich führen. Ich gehe hier sicherer als Du. Und nun öffne die Thüre, aber schütze Deine Augen.« Er seufzte, und führte sie nach dem Boote hinab, wo noch immer der Schlüssel in dem Schloß der Kette steckte. Nik war völlig stumm vor schmerzlichen Erinnerungen. Elfriede aber flüsterte leise: »Das waren mir selige Tage, bewimpeltes Schiffchen, oh trage, noch einmal mein Liebchen und mich.«

Als sie dann hinausgesteuert waren in die goldenen Wellen, da fing auch Nik an, sich des verführerischen Spieles zu erfreuen. Dunkel spiegelte sich die Stadt in der lichten Fluth und scharf hoben sich ihre Thürme ab von dem goldenen Abendscheine, der im Westen verglühte. Die Blinde neigte ihr Ohr nach den rauschenden Wellen, und der Abendwind spielte mit ihrem blonden Haare.

»Nun sollst Du mich täglich fahren, mein guter Nik«, sagte sie, ihre feinen, weißen Hände auf seine Kniee legend. »Ich wollte es Dich nur selbst erleben lassen, welches Vergnügen Du mir zugedacht hattest, und wie lieb es von Dir war, daß es Dich so drängte, mir diese Freude zu bereiten.«

»Du Engel«, sagte Nik, überwältigt von der tiefen Güte dieses Kindes, das ganz Seele war. »Gern, oh, wie gerne!«

Es kam indessen nicht mehr zur Wiederholung dieser Stunde. Elfriedens reiner Sinn hatte kein Geheimniß vor den Ihren, und als der Vater erfuhr, sie habe sich mit Nik verlobt, drängte er auf ihre Abreise. Auch Fritz war mit seinen Eltern darin einverstanden, daß man dieses Kinderverlöbniß am besten übersehe, da es bei Nik's flatterhaftem Sinne schwerlich zu etwas Gutem führe.

»Dein Nik kann sich nicht auf eigene Hand verloben«, sagte der Vater gutmüthig, »so lange er unter Aufsicht seiner Eltern steht. Bei solchen Familien ist das anders; das verstehst Du nicht.«

»Wie willst Du heirathen«, seufzte die Mutter. »Du könntest ja Deine Kinder nicht pflegen, nicht hüten, sie würden in Deiner Gegenwart aus dem Fenster fallen.«

Elfriede hielt sich beide Hände vor die blinden Augen. Es war, als ob sie ein entsetzliches Bild wegzuwischen strebe, das mit schrecklicher Klarheit vor ihr stand.

»Er soll Dich in Ruhe lassen«, fuhr die Mutter bitter fort, »hat er doch Unglück genug über Dich und uns gebracht.«

Die Blinde weinte leise vor sich hin, als sie die Ihren so sprechen hörte. Zum ersten Male erschienen ihr die Eltern hart. »Wenn ich ihm das Wort breche«, sagte sie, »dann wird er wieder schlecht. Wer einen Menschen bessern will, der muß damit anfangen, ihn zu lieben. Laßt mich, ich versäume ja nichts. Wenn ich ihn auf rechtem Wege erhalte, so habe ich meinen Zweck erreicht. Mag er dann eine Andere finden, wenn sie nur gut ist.«

So reiste sie ab, nachdem sie in Fritzens Gegenwart dem Geliebten noch hatte Lebewohl sagen dürfen. »Schreibe mir nicht«, bat sie ihn. »Ich möchte mir Deine Briefe nicht durch Dritte vorlesen lassen. Fritz wird mir Nachricht geben, so lange er noch da ist.«


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