Adolf Hausrath
Elfriede
Adolf Hausrath

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Drittes Kapitel

Am andern Morgen war alles wieder so still wie sonst in Schloß und Dorf, aber nirgends stiller als in dem Gärtnerhäuschen, das zwischen Dorf und Schloß gelegen war. Im ganzen Sachsenlande war keine Wiese so grün wie diese, kein Wald so schattig wie der Park, der sie begrenzte, kein Rebberg so sonnig wie der, der über dies schmucke Giebeldach wegsah. Die Gärtnerin hatte die Wäsche für das Schloß zu besorgen, und während sie in der Küche an ihrem Zuber stand und Wollenwäsche und Linnen reinigte, lagen ihre Zwillinge in der Stube daneben in einem Korbe, da die gekaufte Wiege nicht beide Kleinen hatte fassen können. Gleichzeitig gebadet, genährt und gepflegt, schliefen die Geschwisterchen auch in schönster Harmonie, strampelten mit den kleinen Beinen und bewunderten einer die Fußübungen des andern, oder sie schauten nach der glänzenden Glaskugel, die einst im Schloßparke gestanden, bis der Herr sie aus Unvorsichtigkeit beschädigt und durch eine neue ersetzt hatte. Der Gärtner aber, den es jammerte, das blanke Ding zu den Scherben zu werfen, gönnte der alten Kugel auf seinem Samenkasten einen ehrenvollen Ruheposten. Als er sah, wie die kleinen Kinderaugen immer wieder nach dem glänzenden Dinge wanderten, das die hellen Fenster, die hin und her schwankenden Zweige der Bäume, die gehenden und kommenden Menschen so hell widerspiegelte, da ging ein gutmüthiges Lächeln über sein gefurchtes Gesicht. »Wartet, ihr Krabben«, sagte er, »das können wir bequemer haben«, und während seine Frau von ihrem Waschzuber aus mit vergnügtem Lachen zuschaute, befestigte er zwei übereinander gelegte Querhölzer an einem Stricke, zog diesen durch die Kugel und hing dann sein reparirtes Kunstwerk am Fensterkreuze auf. So war die pensionirte Kugel wieder reactivirt worden. Sie drehte sich den ganzen Tag eifrig hin und wieder, so daß bald die helle Wäsche auf der Bleiche, bald die lichten Wolken am Himmel in ihr aufleuchteten. Die ernsten Kinderaugen aber schauten unermüdlich hinein, bis sie zufielen und der Schlaf die kleinen Gesichtchen mit dem offen athmenden Munde in lieblicher Röthe färbte. Meldeten die Erwachenden sich dann zu einer neuen Mahlzeit, so trocknete die Mutter den Seifenschaum von ihren bis zum Ellbogen aufgestreiften Armen, bedeckte die rosigen Gesichtchen der Aufgewachten mit Küssen, und nachdem beide sich satt getrunken, trug sie die zufriedenen Kreaturen auf den Rasen hinaus unter die blühenden Bäume, wo sie mit blinzenden Augen zuschauten, wie die Mutter ihre weißen Linnen an das Seil hängte oder auf dem üppigen Grase zum Bleichen ausbreitete. Mußte die Frau dann nach dem Markte, um die Früchte zu verkaufen, aus deren Erlös ihr Gehalt bestand, so trug sie die Kleinen in den Weinberg hinauf, wo der Vater, ohne sich in seiner Arbeit stören zu lassen, mit zufriedenem Kopfnicken ihre Hut übernahm. Zehnmal umschauend machte sie sich auf ihren Weg, aber sie blickte nicht nur nach den Kindern, sondern eben so freundlich nach dem Vater zurück, der sich so gestellt hatte, daß er, während er die Reben festband, die Kinder im Auge behielt und dem geliebten Weibe nachblicken konnte. Die brave Frau war stolz auf diesen stillen, fleißigen, anspruchslosen Mann, obwohl er schon grau war, und jeder Baum, den er beschnitten und von den Raupennestern gereinigt hatte, sagte es ihr im Vorbeigehen, daß es in ganz Brückenheim keinen Gärtner gebe wie ihren Glimm.

Er aber verfolgte ihre Schritte auf der Landstraße, sah zu, mit welchen Nachbarn sie sich begrüßte und wie sie schließlich mit einer Marktgenossin nach der Brücke einbog. Dabei überlegte er sich, wie schwer der Korb heute geladen sei, den sie so aufrecht auf ihrem blonden Kopfe trug, und keine Falte ihres saubern Kattunrocks und ihres weißen Umlegetuchs entging seinem aufmerksamen, zärtlichen Blicke.

Während er so, ein behagliches Lächeln auf den Lippen, seine Reben band und dann wieder in dem Rebberg hackte und jätete, lagen seine Lieblinge unter einem schattigen Apfelbaume auf wollener Decke. Mit Wonne athmeten die jungen Wesen die würzige Maienluft, sie blinzten träumerisch durch die Aeste des Apfelbaumes nach dem Himmel und nach dem Schwanken und Wiegen der Blüthenzweige. Die Vögel musicirten rings um sie her, mit den kleinen Händchen griffen sie nach den gelben und weißen Blumen, die neben ihnen wucherten, die Fliederbüsche sendeten ihnen ihren süßen Wohlgeruch, die Hummeln summten um die nahen Blumenkelche, und das Rauschen der alten Bäume im Park bildete zu diesem Summen und Weben des Frühlings die einschläfernde Begleitung. Blieb die Mutter zu lang aus, so legte der Vater wohl auch seine Hacke aus der Hand, und es war schön zu sehen, wie der riesige Mann, in jedem Arme ein Kind, sich von einer Seite nach der andern neigte, als ob er sie wiege, und dabei sein: »Schlaf, Kindelein, schlaf«, mit rauher Stimme summte, bis die Kindelein wirklich seinem unermüdlich wiederholten Rathe gefolgt waren. So gediehen die Zwillinge und ihr kleiner Rücken erstarkte, so daß sie bald aufrecht saßen mit ihren weißen flaumigen Köpfen, und zu krabbeln begannen. Hatte dann der Vater sie zu hüten, so warf er ihnen von Zeit zu Zeit einen blühenden Zweig oder einen schimmernden Scherben zu, den er im Rebberge gefunden. Sie holten sich aber auch selbst, was ihnen in die Augen fiel. Schon führten sie miteinander in girrenden Tönen eine Unterhaltung, oder beschäftigten sich damit, auf dem Rücken liegend, ihre Füße zu betrachten und die Zehen zu zählen, oder die Sonnenstrahlen zu bewundern, die auf ihre Händchen fielen und ihren Teppich so roth erglänzen ließen. Wohl fiel auch einmal eines bei seinen Entdeckungsreisen in eine Ackerfurche. Dann blieb es geduldig liegen und strampelte mit den Beinen, bis der Vater es aufnahm und lachend wieder zu seinem Zwilling zurück trug. Kurz, während der Junker in seiner seidenen Wiege lag, genossen die Kinder seines Gärtners die Pracht seiner Wiesenflur. Für sie zwitscherten seine Vögel, für sie blühten seine Blumen, und um sie zu unterhalten, sprangen die Eichhörnchen von Zweig zu Zweig. Umgeben von Spielsachen, wie das vornehme Kind im Schlosse unter seinen silbernen Rasseln, Elfenbeinringen und lackirten Kautschuckpuppen keine besaß, wurden sie groß und stark. Auch der Winzer vertrieb sie nicht ganz von der Wiesenflur, da der sonnige Abhang warme Tage genug hatte, an denen die Eltern sie an die Luft trugen, denn wenn die Gartenarbeiten ruhten, blieb dem Vater um so mehr Zeit, sich mit seinen Kleinen zu beschäftigen. Jedes Jahr mehrte die Zahl ihrer Freuden. Bald können sie schon selbst am Fenster stehen und zusehen, wie auf der Wiese die Ziegen weiden, die der Vater mit einem Fuße an die Apfelbäume angebunden hat, damit sie den Reben keinen Schaden thun, oder wie der schöne Neufundländer des Barons und der treue Tyras sich um die Bäume hetzen, und wie die goldenen Ziffern der Dorfuhr in der Sonne glänzen und der Wetterhahn sich dreht. So wuchsen sie heran und wurden stark. Man hörte ihre hellen Stimmchen sogar drüben im Schlosse, wenn sie um ihr Häuschen verstecken spielten oder mit Tyras in die Wette sprangen. Das Mädchen ist womöglich noch wilder als der Knabe und beide glühen von Lebenslust. Die Wiese aber und der Garten des Schlosses sind ein wahrer Schmetterlingspark, die Bäume streuen ihnen das süßeste Obst vor die Füße, und während die Mutter die Kirschen bricht, dürfen die Zwillinge die fallenden aufheben. Finden sie zwei an zusammenhängenden Stielen, so heißen sie diese die Zwillinge; das Mädchen hängt sie als Gehänge an die Ohren, bis der Bruder ihr vorschlägt, sie solle den einen Zwilling in den Mund nehmen und er den andern, worauf sie mit den Köpfchen auseinanderfahren und die Zwillinge aufzehren. Daß sie sich mit den benachbarten röthlichen Stachelbeeren befassen, hat ihnen der Vater nicht ausdrücklich aufgetragen, aber die Mutter ist zuweilen mit einer merkwürdigen Blindheit geschlagen, die einer stillen Erlaubniß gleichkommt.

Kein so fröhliches Loos hatte der Junker gefunden, der an jenem Sonntagmorgen im Schlosse angekommen war.

Arme, reiche Kinder, denen schon die Mutter die Krankheiten von drei abgelebten Generationen vererbt! Wie viele gesellige Pflichten mußtest du miterfüllen, kleiner Baron, noch ehe du geboren wurdest! Deine thörichte Mutter, wie oft hielt sie bis tief in die Nacht sich krampfhaft aufrecht, während sie und du so gern geschlafen hätten! Aber es war ja unmöglich, die Einladung abzulehnen, nicht zu erwidern, sich zurück zu ziehn! Dein junges Leben kam so wichtigen Interessen gegenüber nicht in Betracht. Mit Migräne und einseitigem Kopfweh, dem Privilegium der Vornehmen, kamst du zur Welt. Blaues Blut nennen sie die wässerige Flüssigkeit in deinen Adern, und dein Stammbaum ist eine Anweisung auf eben so viel Krankheiten, als er Ahnen zählt. Wohl dem, dessen hohe Mutter sich dann wenigstens entschließt, ihrem Kinde eine kräftige Amme zu suchen. Die deine, kleiner Freiherr, war nicht so weise. Die bleiche, schwächliche Frau, die für sich selbst nicht Blut genug hat, konnte sich nicht entschließen, sich von dir zu trennen, und was sie dir nicht leisten konnte, sollte nicht gute Milch aus dem Stalle, sondern sollten Süppchen aus der Apotheke dir ersetzen. Während die Kinder des Gärtners draußen unter deinen Apfelbäumen lagen, wurdest du gehütet vor jeder Zugluft. Aber deine Schwäche hinderte dich nicht, vom ersten Tage an deine gesellschaftlichen Pflichten pünktlich zu erfüllen. Wer zählt die Freundinnen, Tanten, Vettern, Basen, Freunde, Bekannte, Gönner und Schützlinge, die da kamen, dich zu bewundern, und dich wenigstens im Schlafe sehen mußten, als ob Kinderträume der Stille weniger bedürften als die der Erwachsenen. Während die Zwillinge deines Gärtners ruhig den Himmel anstarrten und ein Loch in die Welt guckten, warst du der Amüsirvogel für deine Tanten, und augendienerische Clienten spielten mit dir vom Morgen bis zum Abend, stachelten dich immer wieder auf, überreizten dein junges Gehirn, und wunderten sich dann, daß du so wenig schlafen wolltest. Da fingst du nun eines Morgens, nachdem sie dir wieder das Apothekersüppchen in den Magen geschüttet hatten, seltsam zu grimassiren an; deine Glieder verrenkten sich, und die Augensterne kehrten sich nach oben. Die gnädige Frau sank fast an der Wiege nieder vor Schreck, die Kinderfrau aber sprach ängstlich: »das sind die Gichter.« Alsbald flog ein Diener durch den Garten nach der Landstraße und jagte, als ob es sein Leben gelte, nach der Stadt, um Hülfe zu holen. Wer ist es, der in dem geschlossenen Wagen jetzt über die Brücke rollt? Warum kommen alle Vögel im Parke in Aufruhr, als ob eine Weihe auf sie niedergestoßen oder eine Katze den Baum zu erklettern sich anschicke, wo sie ihre Nester gebaut? Nur die Krähen krächzen so freudig, als ob es ein Fest gebe. Braunrothe Buchfinken setzen sich auf den Baum vor dem Fenster des kranken Kindes und rufen: »Laß ihn nicht, nicht ein liebes Kindchen!« Die kleine Grasmücke zirpt: »flieh, flieh« und wieder »flieh, flieh!« Die Wachteln im Busche sträuben ihr braun und schwarz gemustertes Federkleid und schelten: »Schwere Noth, schwere Noth! Kommt der Tod? Kommt der Tod?« Und schadenfroh lärmen die häßlichen Krähen und kreisen um die Baumwipfel über dem Gartenthore, wo der Doktor anfährt. Nun wahre dich, kleiner Junker, nun erst ist die Stunde der Gefahr gekommen! Schütte alles aus, was er dir einrührt, bei Gefahr deines Lebens! Der finstere, geschlossene Wagen macht Halt, und ein schwarzer Schatten fällt über den sonnigen Vorgarten des Schlosses. Die Raben sehen, wie in dem dunkeln Busche ein Gerippe mit der Sense lauernd sich erhebt und dem Doktor freundliche Blicke aus den leeren Augenhöhlen zuwirft. Der Hausarzt, den der Diener durch den Garten zur Pforte geleitet, ist ein alter Herr mit fadem Lächeln und einem selbstgefälligen, wichtigthuenden Gesichte. Er ist stark parfümirt, und große Berloquen hängen an der schweren Uhrkette. In der Hand trägt er ein Rohr mit goldenem Knopfe, den er zuweilen an sein wohlrasirtes Kinn drückt, um sich ein nachdenkliches Aussehen zu geben. Sein Knopfloch ziert eine Rosette von Ordensbändern verschiedener Potentaten, die er von Krankheiten kurirt hat, die sie niemals hatten. Er hat drei Späße, die er mit jedem Kinde macht, und hat die Gewohnheit, die Kleinen auf den Arm zu nehmen, um ihnen so die Krankheiten, die er von der benachbarten Krankenstube in den Falten seines Gewandes trägt, um so sicherer zu vermitteln. Zuweilen küßt er sie auch, namentlich wenn er selbst den Schnupfen hat. Hat die Köchin einen kranken Finger, so erkundet er umständlich, woran ihr Großvater gestorben ist. Ist die Baronin krank, so läßt er sich täglich ihren Küchenzettel vorbeten, und verbietet, was er gestern erlaubt, und erlaubt, was er gestern verboten hat. Sie wundert sich dann, aber ein berühmter Arzt darf sich schon etwas gestatten. Heute will sein Besuch kein Ende nehmen. Ein Diener fährt im Wagen des Arztes nach der Apotheke, von wo er mit einer Last von Arzneien zurückkehrt. Endlich nach zwei Stunden zeigt der Lärm der Vögel, daß der Doktor das Haus verläßt.

»Fort, du Schuft, fort, du Schuft!« ruft die Wachtel. »Geh, Geh!« schreit das Schwarzköpfchen, und selbst der große Neufundländer erhebt sich von seinem sonnigen Platze an der Schloßtreppe, bellt zornig, und wendet dann verächtlich dem alten Herrn den Rücken. Der brave Gärtner, der beschäftigt ist, den Granitsand im Vorgarten zu ebnen, läßt seinen Rechen sinken, und indem er sich hinter den Ohren kraut, sagt er bedenklich: »Jetzt haben sie ihn gerufen, nun sollen sie sehen, wann sie ihn wieder los werden.«

»Ja, Herr Glimm«, erwiderte der Kutscher, der aus dem Teiche des Springbrunnens Wasser schöpfte für seine Pferde, »die Art ist wie die Wanzen, wo sie sich einmal festgesetzt haben, sind sie so leicht nicht wieder zu vertreiben.« Und so sieht denn die bleiche, junge Baronin den alten Herrn täglich kommen und gehen. Er verordnet Kräuterbäder zur Stärkung, Tränkchen zur Beruhigung, Einreibungen zur Geschmeidigung, Pülverchen gegen die Gährung, und bald ist kein Theil mehr an der armen kleinen Kreatur, der nicht medizinkrank wäre. Im Winter wird das Kind schlimmer und schlimmer und mit ihm ist die zarte Mutter zum Schemen abgemagert. Sie hört nichts, sie kümmert sich um nichts als um ihr wimmerndes Kind. Der Baron kommt schon lange nicht mehr in die Krankenstube, da er mit der Behandlung seines Söhnchens nicht einverstanden ist, aber erfahren hat, daß jede Einrede die schwache Frau in eine gereizte Löwin verwandelt, die meint, man bedrohe ihr Junges. Allein sitzt sie in der verdunkelten Stube neben der Wiege und betrachtet mit Todesangst die zuckenden Händchen und die eingesunkenen, fiebernden Augen des Kleinen. Da schleicht eines Abends die Kinderfrau, eine runzlige Greisin mit sauberer, weißer Haube, leise in's Zimmer und sagt: »Gnädige Frau, des Gärtners Weib ist draußen und wünscht die Frau Baronin zu sprechen.«

»Ich kann jetzt nicht«, erwidert diese unwillig. »Du siehst doch, daß das Kind schlimmer ist als je.«

»Das sagte ich ihr«, antwortete die Kinderfrau, »aber sie meinte, eben wegen des Kindes komme sie.«

»So laß sie eintreten«, antwortete die Baronin nach einigem Besinnen. Die zur Zeit etwas volle Gestalt der stattlichen Gärtnerin mit dem gesetzten matronenhaften Wesen erschien alsbald unter der Thüre, aber sie mußte ihr Auge erst an die hier herrschende Dunkelheit gewöhnen, ehe sie die Baronin entdeckte, die wie ein weißes Phantom hinter der Wiege ihres Kindes stand.

»Was bringen Sie, Frau Glimm«, ertönte nun die Anrede der gnädigen Frau, nicht ohne einen Ton der Ungeduld in der Stimme. Die Gärtnerin trat ihr ruhig näher mit der bescheidenen Festigkeit einer Frau, die nichts für sich sucht und nichts für sich will, die aber entschlossen ist, eine Pflicht zu erfüllen. »Die Frau Baronin wollen es mir nicht für ungut nehmen«, begann sie, indem sie mit der Hand ihre saubere Schürze glatt strich, »es hat mir aber keine Ruhe gelassen, wenn ich dachte, das Kind könnte vielleicht gesund werden, wenn ich nur den Muth hätte, den Mund aufzuthun. Die gnädige Frau wissen ja, daß ich bei dem Herrn Kommerzienrath diente, wo alle Kinder durch den Herrn Medizinalrath behandelt worden sind, und sind alle gestorben.« Die junge Mutter zuckte zusammen, aber die Gärtnerin fuhr ruhig fort: »Damals sah ich zu, wie er die Kleinen zu Tode kurirte. Die Mutter der Frau Kommerzienräthin sagte freilich: »die einzige Medizin für ein krankes Kind ist eine gute Amme.« Aber der Herr Kommerzienrath war wie vernarrt in den Medizinalrath und sagte, er dürfe ihn nicht beleidigen, denn er sei der Leibarzt des Königs. So verlor er lieber seine Kinder als die Gunst des Hofs. Ich war in jenen Tagen noch ein junges Ding und mußte bei Allem still sein. Aber jetzt, da ich selbst Kinder habe, die gedeihen, wollte ich nicht schweigen, damit ich mir nicht später einmal sagen muß, hättest du den Mund aufgethan, so lebte der junge Herr vielleicht noch heute.«

Während sie so redete, ward sie sehr ernst, was aber dem wohlwollenden Ausdruck ihres blühenden Gesichtes, das ganz von den freundlichen klaren Augen beherrscht war, keinen Abbruch that. Die bleiche junge Mutter erwiderte nichts und schaute starr vor sich hin. Das Alles hatte ihr ihr Mutterherz seit Wochen selbst gesagt, aber sie hatte nicht den Muth gehabt, ihre Meinung dem berühmten Arzte gegenüber zu verfechten, und der Gedanke, ihr Kind einer Amme auszuliefern, war ihr um so unerträglicher, als sie ihren Mann mit der gleichen Zumuthung leidenschaftlich abgewiesen hatte.

Aber die einfache Frau, die da vor ihr stand, mit ihrer stattlichen matronenhaften Gestalt, hatte etwas Mütterliches in Blick und Haltung, was Zutrauen erweckte. Die Baronin kam sich fast kindisch und unreif vor gegenüber dieser verständigen Frau, die keine zehn Jahre älter war als sie. Diese aber fuhr freundlich fort: »Ich kann wohl sagen, daß es meine eigenen Kinder sind, die mich schicken. Wie sie so satt und rosig da lagen und mich anblinzten mit ihren lieben hellen Augen, da fiel es mir plötzlich schwer auf's Herz, daß es dem Kinde meiner Herrschaft, das doch am gleichen Tage geboren ward, so schlecht gehe. Es schien mir fast ein Unrecht, daß mir meine Kinder alle Tage ihres Lebens nur Freude gemacht haben, und für die gnädige Frau war jeder Tag Sorge und Angst. Und wir sind doch arme Leute, und Sie sind vornehm und reich. Da war es mir, als ob ich mich meines Glückes nicht mehr freuen dürfte, wenn ich nicht zuvor auch hier geholfen, daß Alles in Ordnung komme.«

In dem Gesichte der Baronin ging eine Aenderung vor sich. Der Eigensinn, ihre hervorragendste Eigenschaft, schien das Feld zu behaupten, und als sie sich aufrichtete, war sie wieder die gnädige Frau, die keiner Hülfe bedarf. Aber noch ehe sie zu Wort kam, trat die Kinderfrau hart an sie heran. Ihr gutes altes Gesicht schaute ängstlich aus der großen weißen Haube, und sie flüsterte leise: »Gnädige Frau, geben Sie ihr das Kind. Als ich vorhin von dem Dachboden, wo ich die Wäsche aufhing, nach den Tannen an der Parkecke sah, erhob es sich zwischen den dunkeln Bäumen wie eine weiße Gestalt. Es war die Brunnenfrau, und das Gespenst ging treppab gegen das Schloß zu, nicht wie sonst, nach dem Weinberge.«

Die Baronin trat entsetzt zurück und winkte unwillig mit der Hand. »Unsinn«, wollte sie sagen, aber es lief ihr eiskalt über den Rücken.

»Man soll an solchen Spuk nicht glauben«, fuhr die Kinderfrau fort. »Es sei der Abendnebel, sagt der Herr Pfarrer, aber ich kann mir nun einmal nicht helfen, wenn ich die Gestalt sehe, überläuft es mich kalt. Es sei, was es sei, ich weiß nur, daß ich nun vierzig Jahre im Schlosse bin, und so oft die Müllerstochter aufstieg über dem alten Brunnen, hat sie uns stets etwas Schlimmes gebracht.«

Das Kind zuckte jetzt wieder und schlug mit den Händchen hart gegen die Wiege. Dann fing es in kurz abgebrochenen, stoßenden Tönen zu weinen an. Unschlüssig stand die junge unerfahrene Mutter mit gefalteten Händen vor dem armen Wesen, das dem Tode geweiht schien. Da trat die Gärtnerin kurz entschlossen zum Fenster und schlug die Vorhänge zurück. Das gedämpfte Licht des scheidenden Tages fiel auf die abgezehrte Gestalt der Baronin, die mit ihren spärlichen blonden Flechten und dem bleichen Angesicht neben der kräftigen Frau aus dem Volke ein Bild kläglicher Verkümmerung darbot. Das sonnenverbrannte junge Weib beugte sich über das wachsgelbe Püppchen in der Wiege, das zu schreien fortfuhr und dazwischen gierig an seinen Händchen lutschte. »Er hat Hunger«, sagte sie entschlossen, nahm das Kind heraus, setzte sich auf einen Schemel und reichte, ohne weiter zu fragen, dem hungernden Kleinen die Brust, der dieselbe auch sofort annahm. Die Baronin legte ihr bleiches Gesicht in ihre durchscheinenden magern Hände und ließ Alles über sich ergehn.

Nach einer Weile klopfte es rasch an die Thüre und der Medizinalrath trat ein. Nachdem er einen kurzen verwunderten Blick auf die Gruppe geworfen, sagte er mit einem süßlichen Lächeln: »Ah, Sie haben sich entschlossen. Ich wagte Ihnen das nicht vorzuschlagen, aber das Beste ist es freilich.« Frau Glimm fuhr in ihrem Geschäfte fort, als ob der Arzt gar nicht da wäre, und nur die strenge Falte auf ihrer Stirne vertiefte sich etwas. Der Geheimrath beachtete sie weiter nicht, und nachdem er noch eingeschärft, mit seinen Mixturen pünktlich fortzufahren, empfahl er sich ungewöhnlich schnell wieder, seinen Verdruß als gewandter Weltmann unter vielen höflichen Worten verbergend. Der Knabe, den die hülfreiche Gärtnerin nun wieder in die Wiege legte, fiel alsbald in einen festen und gesunden Schlaf, während Frau Glimm, als ob es sich von selbst verstehe, in ihrer ruhigen bestimmten Weise alle Medizinkolben und Salbentöpfe in die dunkelste Ecke des Waschtisches schob, überhaupt in der Stube aufräumte und für Alles eine zweckmäßigere Ordnung herstellte. Als diese Arbeit gethan war, ließ sie mit einem zufriedenen Kopfnicken noch einmal ihr Auge durch das Zimmer gehn, und nun wurden die beiden jungen Frauen bald miteinander einig. Frau Glimm wollte ihre Zwillinge abgewöhnen und alle drei Stunden herüberkommen und den kleinen Junker nähren. Die Arzneien des Medizinalraths wurden pünktlich gemacht, aber von der resoluten Frau Glimm eben so pünktlich zum Fenster hinausgegossen. Endlich kam der eitle Herr hinter diesen Sachverhalt und nun erschien er seltner, und da Frau Glimm ihm sehr unverblümt andeutete, sie bringe das Kind schon allein durch, blieb er vorerst ganz weg.

Der Knabe erholte sich allmählich, aber während die Zwillinge an freier Luft bei ihrem Sandhaufen saßen und mit Holzschüsselchen Kuchen buken, wurde der kleine Dulder vom Schlosse höchstens tief verschleiert in der Sonne hin- und hergetragen und die gnädige Frau trippelte ängstlich bald vor ihm, bald neben ihm, um zu spähen, ob kein Zuglüftchen ihn berühre. Gelegentlich kam auch der Pfarrer wieder auf das Schloß und ließ sich den Junker zeigen, aber er schüttelte mißbilligend den Kopf, und indem er seine Augenbrauen in die Höhe zog und über die silberne Brille hinweg die Baronin fixirte, legte er sein freundliches altes Gesicht in bedenkliche Falten. »Der junge Herr muß mehr an die Luft«, sagte er entschieden.

»Er zahnt jetzt«, erwiderte die bleiche Mutter seufzend, indem sie das Kind wieder tief in seine warme Wiege steckte.

Der Baron aber strich sein glattes, fein polirtes Haupt und indem er seine eigenen magern Beine durch sein Augenglas betrachtete, und dann wieder seinen Schnurrbart drehte, sagte er in schnarrendem Tone: »Gestehen Sie, mein lieber Herr Prediger, daß Ihrem lieben Gotte die Zähne gründlich mißrathen sind. Unter Schmerzen bekommen wir sie, unter Schmerzen wechseln wir sie, und noch haben wir die letzten nicht, so quälen uns schon die ersten wie das höllische Feuer.«

»Da Gott sie gemacht hat«, erwiderte der Pfarrer ernst, »so werden sie auch gut gewesen sein, bis die Menschen durch ihr lasterhaftes Leben sie verdarben.«

»Woher wissen Sie, daß Gott sie gut gemacht hat?« lachte der Baron mit seiner hölzernen Stimme. »Sie lassen freilich die Kinder lernen, Eigenschaften Gottes sind Weisheit, Güte, Vollkommenheit und so weiter, und beweisen das aus der Herrlichkeit seiner Werke, aber wenn ich an die Zähne meines Kindes und die meiner Frau und die meinen denke, könnte ich gerade so gut sagen, seine Eigenschaften sind Ungeschicklichkeit, Freude an der Qual der Kreatur und so weiter.«

»Sie vergessen nur die Gerechtigkeit«, erwiderte der Pfarrer gelassen. »Hätten die Väter ihre Kraft nicht vergeudet, so würden die Kinder tausend Leiden weniger haben.«

»Ah, die Väter haben Herlinge gegessen«, spottete der Gutsherr, »und den Söhnen werden die Zähne stumpf. Aber ist das Gerechtigkeit, daß mein Kind meine Sünden büßt und ich die meines Großvaters?«

»Es ist gerechte und schwere Strafe für die Eltern, ihr Kind durch ihre Sünde leiden zu sehen«, sagte der Pfarrer in sehr bestimmtem Tone. »Das ist Gottes Gerechtigkeit bei der Sache. Gottes Liebe aber erweist sich darin, daß er dem Kinde das Leben nicht so leicht macht als es den Alten gewesen ist, damit es nicht in Gefahr gerathe, auch so leichtsinnig zu werden wie seine Vorfahren. Dann wird dem Knaben innerlich zehnfach ersetzt werden, was er jetzt äußerlich erduldet.«

Die Baronin schaute den Pfarrer mit zustimmenden Blicken an. Der strafende Ton, den er gegen ihren Gemahl anschlug, war ihr wahrhaft entzückend. Auch freute es sie, daß der würdige Mann Nik's schlechte Gesundheit dem Vater zur Last lege und nicht ihr. Die Freudigkeit, mit der sie ihm beim Abschiede die Hand reichte, hatte fast etwas Triumphirendes. »Möge Ihre Vorhersagung sich an Nik erfüllen«, sagte sie. Der Baron griff mit einer Grimasse nach seinem Feuerzeuge, um sich eine Cigarre anzuzünden. »Ein grober Bauer«, brummte er verdrossen, noch ehe die Thüre sich völlig hinter dem Pfarrer geschlossen hatte.

»Warum forderst Du ihn immer heraus?« erwiderte die Baronin. »Du wirst Dir doch keinen Prediger wünschen, der solche Reden, wie Du sie führtest, ruhig hinnimmt?«

»Es ist aber doch Unsinn zu sagen, mein Kind leide mit Recht darunter, daß ich etwas rasch gelebt habe. Nik hat mich doch nicht freiwillig zum Vater gewählt!«

»Weißt Du das so gewiß?« sagte die Baronin. »Ich möchte wohl wissen, was sie in ihrem Kinderbrunnen träumen, und ob sie dem Storche nicht sagen, wohin er sie tragen soll?«


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