Adolf Hausrath
Elfriede
Adolf Hausrath

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Achtes Kapitel

Das Abenteuer mit dem Ringe hatte gemischte Empfindungen in dem Herzen des Knaben zurückgelassen, und er würde sein junges Haupt vielleicht noch lange über dasselbe zergrübelt haben, hätte nicht die Nachricht, daß er in das Gymnasium eintreten solle, seinen Gedanken eine ganz neue Wendung gegeben. Obgleich er etwas der Art geahnt hatte, als der schwäbische Kandidat das Haus verließ, ohne daß von einem Nachfolger geredet wurde, erbleichte er doch vor Schrecken, als der Vater ihm sein Schicksal verkündete. Das Neue, was da kommen sollte, ängstete ihn, denn er hatte das unbestimmte Gefühl, daß er den Anforderungen, die in dem neuen Leben an ihn herantreten würden, nicht gewachsen sei. So ging er bleich und aufgeregt umher und schlief in der Nacht vor Angst nur wenig. Noch mehr aber als ihr Söhnlein fand sich die zarte Baronin angegriffen, als es am Montag Morgen halb acht Uhr schlug. Nur schwer ließ sie sich davon abbringen, den kleinen Dulder im Wagen zum Gymnasium zu bringen. Aber der Baron wurde ernstlich unwillig, und redete gar von Affenliebe. Schließlich mußte die aufgeregte Dame sich damit zufrieden geben, daß Fritz Glimm ihren Nik bis an die Thüre seiner Klasse führen solle. Zitternd und bleich erschien der vierzehnjährige Knabe unter der Horde fremder Jungen, die seine Furcht alsbald entdeckten, und feierlich beschlossen, ihm den Namen ›Milchsuppe‹ beizulegen. Allein Nik war von Natur nicht feig. Nach wenigen Tagen hatte er seine Befangenheit abgeschüttelt, und suchte durch schneidiges Auftreten sein erstes schwächliches Erscheinen in Vergessenheit zu bringen. Rasch holte er nach, was er in seinem bisherigen abgeschiedenen Leben versäumt hatte, denn die Flegelei, der er hier überall begegnete, hatte für ihn den Reiz der Neuheit. Er lernte mit der Schnelligkeit eines lang zurückgedrängten Talents pfeifen wie ein Schusterjunge, fluchen wie ein Feldwebel, Steine werfen wie ein Schleuderer. Bald fand die gnädige Mama auch wieder an dem Leibe ihres Söhnleins blaue und grüne Flecke, nicht kommaförmige wie die früheren, sondern von mehr rundlicher Gestalt. Sie entsetzte sich sehr, aber Nik blieb bei Befragung unerschütterlich dabei, daß er sich gestoßen habe, und der Vater sagte ungeduldig: »So lasse ihn doch! Jungen müssen sich raufen. Daran wird er nicht umkommen.« Und in der That schien Nik sich zum ersten Mal in seinem Leben von Herzen wohl zu fühlen.

Einiger Mehlthau fiel freilich auf diesen Lenz seiner Schulfreudigkeit, als er sein erstes Zeugniß nach Hause brachte, das dem Herrn Baron die Röthe in die Wangen trieb. »Zerstreut, unaufmerksam, flüchtig, nachlässig, vergeßlich, unordentlich« waren noch die besten Prädikate, die Baronin aber stand da mit gewundenen Händen und sagte, »dazu also hast Du fünf Lehrer gehabt, um nun der Letzte in Deiner Klasse zu sein, während des Gärtners Fritz in der seinen der Erste ist, und zwei Jahre ist er Dir ohnehin schon voraus.«

Nik war auch keineswegs taub für solche Vorstellungen und nichts weniger als ein verhärteter Sünder. Im Gegentheil, er faßte die schönsten Vorsätze und hatte die allerfesteste Absicht sich anzustrengen. Eine Weile saß er wirklich eifrig hinter seinen Büchern. Aber eben, als die entscheidende Zeit gekommen war, erschien Tante Tina mit ihrer Valentine bei der Baronin auf's Neue zu längerem Besuche. Ihrem Neffen Nik brachte sie als Gastgeschenk eine vollständige Ritterrüstung mit, die ihn alsbald wieder in seine alten Ritterphantasieen zurückwarf. Der Baron meinte zwar, Nik sei viel zu alt für solche Maskeraden, aber dieser selbst konnte von da an den Schluß der Schulstunden kaum erwarten, um sich in seinen Harnisch zu werfen und seine Beinschienen anzuschnallen, in denen er dann, von Valentinen bewundert, durch den Zwinger und den Obstgarten stolzirte, wo die Hunde ihn anbellten. Setzte er sich dann doch wieder auf die Stube, um zu lernen, weil er in der Schule gestraft worden war, so stellte sich Valentine vor seine Fenster und rief mit großer Beharrlichkeit: »Nik, bist Du noch nicht fertig?« Da sie diese Anfrage jede Viertelstunde wiederholte, so warf Nik schließlich die Arbeit, bei der seine Gedanken unter solchen Umständen doch nicht waren, zur Seite, und beschloß, dem Schelten der Lehrer mannhaft Trotz zu bieten. Die Folge war, daß sein zweites Zeugniß noch schlechter ausfiel als das erste, und er im Herbste nicht versetzt ward. An die Strafreden des Vaters war er nun schon gewöhnt, und als die Ferien begannen, hatten die Eltern den ganzen Tag Gelegenheit, seine unzweifelhaftesten Fortschritte, nämlich die in der Ungezogenheit, kennen zu lernen. Er lag immer auf wenigstens drei Stühlen, quälte den Hund, und schimpfte die Dienstboten. Die Frau Baronin war entsetzt über diese Umwandlung ihres kleinen Engels, und wollte sich von dem Pfarrherrn durchaus nicht überzeugen lassen, daß alle diese Neigungen in ihrem sanften Kinde stets geschlummert hätten, und früher oder später vielleicht zu einer noch schlimmern Entfaltung gekommen wären. Ihr war das Alles Verführung, schlechtes Beispiel, Ansteckung, die sie stets vorhergesagt, und es war ihr ein Triumph, für jede Flegelei ihres Sohnes den Gemahl vorwurfsvoll anzublicken. »Da hast Du's«, war immer ihr erstes Wort, noch ehe sie Nik selbst eine Bemerkung über seine Streiche machte.

Auch hatte sie darin nicht Unrecht, wenn sie behauptete, ihr armer Nik verwildere durch die schlechte Gesellschaft, in die er gerathen sei, nur war sie auf falscher Fährte, wenn sie diese schlechte Gesellschaft in der Schule suchte. Wäre die gnädige Frau nicht wie eine Träumende durch ihr eigenes Haus gewandelt, so hätte sie dieselbe ganz in ihrer Nähe entdecken können. Ihres Sohnes Schicksal war in Gestalt eines häßlichen, rothhaarigen Gärtnerlehrlings an ihn herangetreten, von dem die vornehme Frau auch noch nicht ein einziges Mal Notiz genommen hatte, während der Freiherr sogar geneigt war, diesen Verführer seines Knaben für einen recht wackern und arbeitsamen jungen Menschen zu halten. Wenn der hagere, sommersprossige Jüngling mit den tiefliegenden Augen auffällig zur Seite trat und ehrerbietig die Mütze abnahm, so oft der Baron im Garten ihm begegnete, so dachte dieser: »der Junge weiß wenigstens, was sich gehört.« Der Baron fand die sonnigen Plätze, an denen er sich mit seinen rheumatischen Gliedern niederzulassen pflegte, stets besonders sauber hergerichtet. Der Lehrjunge las ihm die Wünsche von den Augen ab, und verstand seine Bedürfnisse noch ehe er sie aussprach. Es kam ein kühler Wind, da legte Johann bereits die Decke, die er im Hause geholt, schweigend neben dem Freiherrn auf die Gartenbank; die Sonne blendete, da erschien der dienende Teufel mit dem blauen Sonnenschirme; der Abend ward kühl, so war der anstellige Junge ungeheißen mit dem Ueberzieher zur Stelle. Darüber kam der Freiherr bald in Unterhaltung mit dem Knaben, und als dieser merkte, daß der geschraubte, süßliche Ton des verlorenen Sohnes dem Baron mißfiel, legte er ihn rasch ab, und gab mit militärischer Kürze Auskunft.

»Verjage nur die Katzen«, sagte ihm der Freiherr eines Tages, »wir haben in diesem Jahre nicht eine einzige Nachtigall.« Als der Baron einige Tage später aus dem hinteren Schloßportale über die Brücke ging, hörte er aus den dichten Aesten einer kalifornischen Tanne Nachtigallentriller ertönen. Da die schluchzenden Töne immer von derselben Stelle laut wurden, trat er näher, um die kleine Sängerin zu belauschen, und sah nun dicht am Stamme der Tanne ein kleines Vogelbauer aus Holzstäben, in welchem der arme Singvogel gefangen saß. »Gut gemeint«, dachte der Freiherr. »Wie sollte der Junge auch ahnen, daß der Gesang eines gefangenen Waldvogels im Garten uns nur verstimmt. Aber wie kommt es, daß die kleine Kreatur um diese Morgenstunde musicirt?« Er drängte sich näher an das Bauer, so daß er selbst völlig in den Zweigen des Baumes verschwand. Dann wurde ein Ausruf des Abscheues laut. Der Freiherr hatte entdeckt, daß dem armen Thiere die Augen ausgestochen waren, damit ihm der Tag zur Nacht werde.

Als er unwillig wieder aus dem Schatten hervortrat, stand der rothe Johann vor ihm und erwartete mit einem verschmitzten Lächeln auf den plumpen Lippen seinen Dank. »Hast Du das Thier gefangen?« fragte der Baron.

»Der gnädige Herr sprachen den Wunsch aus, und da ließ ich es mich keine Mühe verdrießen«, erwiderte der Rothkopf unterwürfig.

»Und Du hast es über Dich gebracht, der armen Kreatur die Augen auszustechen«, fragte der Baron entrüstet.

Da gewahrte der Knabe, daß er zu weit gegangen war in seinem Eifer. »Oh«, sagte er schnell besonnen, in seinem frömmsten Tone, »wie können der Herr Baron so etwas von mir denken. Der Vogel muß früher in Gefangenschaft gewesen sein, wo grausame Menschen ihn blendeten, damit er auch bei Tage singe. Ich sah gleich, daß er ganz unsicher flog, darum ließ er sich auch so leicht greifen.«

Die Mienen des Freiherrn hellten sich auf. »Du wolltest mir eine Freude machen«, sagte er, indem er in die Tasche griff und Johann ein Geldstück gab, das dieser zögernd annahm. »Ich danke Dir, aber nimm den armen Vogel in Deine Wohnung, es würde mir den Aufenthalt im Garten verderben, wenn ich seine klagenden Töne auch nur aus der Ferne vernehmen müßte.« Damit bog er in den Park ein, während der Gärtnerslehrling ihm verdutzt nachschaute. Mit einem Fluche auf den Lippen kletterte er in die Tanne, um das Opfer seiner Liebedienerei so rasch als möglich bei Seite zu schaffen. »Es wird sich schon ein Käufer dafür finden«, sagte er. »Nicht alle Leute sind so wehleidig.« Damit schleuderte er den Käfig zornig in das Hüttchen, wo seine Kleider lagen, so daß der arme blinde Vogel sich flatternd an den Stäben hielt.

Nik hatte den Rothen seit dem Abenteuer mit dem Goldstücke gemieden. Ein unbestimmtes Gefühl sagte ihm, daß dieser Umgang für ihn gefährlich sei. Aber in den Ferien machte es sich von selbst, daß sich die beiden Knaben im Garten wieder öfter begegneten. Täglich war der junge Gärtner Zeuge von Nik's phantastischen Spielen im Parke, und hörte seine Reden und Selbstgespräche.

»Kommen Sie, Herr Baron«, rief er eines Tages ihm zu, »auf dem breiten Gange ist ein wirkliches Ungeheuer, eine gewaltige Schlange, die müssen Sie bekämpfen.« Nik galoppirte alsbald eifrig mit seiner Turnierstange den Abhang vom Parke hinab nach dem bezeichneten Sandwege, von dem man durch rebenumzogene Bogen nach dem Flusse hinabschaute. In der That wälzte sich dort eine unschuldige Ringelnatter behaglich durch den warmen, gelben Gartensand. Kampfbegierig stürzte Nik ihr entgegen, und zerschmetterte mit seinem Stecken den Kopf des harmlosen Thieres; dann schleppte er sie in den Wald und sah mit der Wollust erwachender Grausamkeit den qualvollen Windungen der geköpften Schlange zu, die noch Tage lang zuckte. Das mordgierige Schwelgen in Mohrenköpfen, zu dem ihn die Schauererzählungen der alten Bärbel verführt, wurde von nun an, unter Johanns Anleitung, zum Kampfe gegen lebende Thiere. Sein nächstes Taschengeld verwendete er darauf, sich ein großes Dolchmesser zu kaufen, mit dem er den grünen Eidechsen, von denen es an den sonnigen Mauern wimmelte, den gräulichen Drachen, wie er sie nannte, durch einen geschickten Hieb den Schweif vom Leibe trennte. Stunden lang konnte er mit der blanken Klinge in der Luft fuchtelnd und Probestöße führend, den Mörder spielen, wenn er nichts zu morden fand. Bald brachte ihm der Rothe auch ein Blasrohr, das er angeblich selbst gefertigt hatte. Nik nannte es sein Feuerrohr, mit dem er die Wilden, das heißt die Nachbarkinder, schreckte und Löwen und Tiger erlegte. Die Löwen waren die fremden Hunde, die zuweilen in der Hundehütte einen nachbarlichen Besuch abstatteten, die Tiger waren die Katzen, die im Park den Vögeln nachstellten; das Erlegen bestand jedoch darin, daß er nach ihnen zielte, und sie nicht traf. Seine Phantasie verwilderte darum doch immer mehr. Erst schoß er mit Beeren, dann mit harten Lehmkugeln, schließlich mit spitzen Bolzen, die ihm sein Sklave Johann anfertigen mußte. Dieser war auch zu Allem willig, aber nur unter der Bedingung, daß Nik es Niemandem verrathe, so daß sich stets neue Geheimnisse zwischen Nik und seine Eltern drängten, vor denen er früher nichts zu verbergen hatte.

Der Baron bekam mit der Zeit freilich eine Ahnung von diesem Treiben; er fand in den Baumrinden spitze Bolzen stecken, und die Menge von kleinen grünen Eidechsen fiel ihm auf, die den Schweif verloren hatten. Einmal nahm er zwischen Wald und Rebberg kleine Fleischstücke wahr, die da als Köder ausgestreut waren, und als er eines derselben mit dem Stocke zerfaserte, kamen krumm gebogene Nadeln zum Vorschein. Aber Nik hatte ihn mit seinen Streichen schon so ermüdet, daß er sich begnügte, dem Gärtner zu sagen, er möge den Knaben besser auf die Finger sehen.

Seit die blutdürstigen Träume Nik's sich so praktisch bethätigten, war er auch kühner geworden. Johann construirte ihm ein Werkzeug, das er einen Lasso nannte. Er befestigte eine bleierne Kugel an einer Leine und zeigte Nik, wie sie zu gebrauchen sei. Lange Stunden übte dieser sich im Garten, die Kugel so an die Bäume zu werfen, daß die Schnur sich zwei- bis dreimal in gewaltigem Schwunge um die Stämme legte. Dann wendete er diese Waffe auf die Ziegen des Gärtners an und erfreute sich an den Quersprüngen der geängsteten Thiere, die er bald an den Hörnern, bald um die Beine eingeschlungen hielt und nach Gefallen hin und her zerrte, bis die Schleife sich endlich löste und die mißhandelte Kreatur hinkend und klagend entlief.

Nik's Leistungen in der Schule wurden dafür immer schlechter, und bald fand sich die gnädige Frau auch durch Arrestzettel und Drohungen der Ausweisung von Seiten der Anstalt erfreut.

Unzufrieden mit sich selbst, der Schule überdrüssig bis zum Ekel, erbittert auf die Lehrer, auf den Pfarrer und die Eltern, die ihn nur zu tadeln und an ihm zu hudeln hatten, saß Nik eines Morgens an dem einsamsten Platze des Gartens, auf der Traumbank, wie man ein tief im Gebüsche verborgenes Plätzchen nannte. Die Mittagshitze war, obgleich man sich im September befand, selbst hier unerträglich, und halb boshaft, halb schwermüthig gestimmt, schlug der Knabe mit dem Bleigewichte seiner Fangleine an ein junges Bäumchen, stampfte Löcher in den schön geebneten Sand, köpfte mit seinem Dolchmesser die aufstiebenden jungen Tannen und zerkrümelte die neuen Triebe der benachbarten seltenen Nadelhölzer. »Der Alte wird schön schelten, wenn er das sieht«, sagte er dann, indem er hämisch lächelnd die Tannennadeln betrachtete, die er auf der Erde ausgestreut hatte. In diesem Augenblicke lief ein schwarzes, seidenhaariges Hündchen durch die Büsche. Als es den auf der Bank Sitzenden bemerkte, stellte es sich ihm kläffend in den Weg. Nik's Blut wallte tückisch auf. »Ich werde mich doch nicht in meinem eigenen Garten von fremden Hunden anbellen lassen«, sagte er. Boshaft lockte er das Thier näher, während er gleichzeitig seine Wurfleine wog. Dann warf er rasch das Blei um den jungen Ahornstamm, bei dem der kleine Hund stand. Die Bleikugel flog mit gewaltigem Schwunge um den jungen Baum, und die Schnur erfaßte die eine Hinterpfote und den Schweif des Wachtelhündchens, und heftete es fest an den Stamm. Kläglich winselte das kleine Thier, während Nik durch Anziehen der Leine seine Qual noch vermehrte.

»Puck, wo bist du, Puck?« rief jetzt eine helle Mädchenstimme.

Nik sprang auf, um die Leine rasch abzuwickeln, der Hund aber schrie doppelt kläglich, und im gleichen Augenblicke stand Elfriede vor Nik, die ihn erst entsetzt mit den Augen maß und sich dann mit einem Wehelaute nach ihrem Lieblinge bückte. Nik wollte ihr helfen, aber sie stieß ihn zurück, und befreite den kläglich winselnden Hund von der Schnur.

»Die Pfote ist gebrochen«, sagte sie dann mit einer entrüsteten Stimme, in der eine Thräne zitterte.

»Es war ein dummer Zufall«, sagte Nik, dem alles Blut zum Herzen geschossen war.

»Das ist nicht wahr«, erwiderte die schlanke Elfriede, die, ihr Hündchen auf dem Arme, jetzt hochaufgerichtet ihm gegenübertrat. »Wir wissen wohl, wer unsere Ziege so ängstete, daß sie die Milch verlor. Sie haben eine Freude daran, wehrlose Thiere zu quälen. Sie haben ein schlechtes Herz.«

Nik stand bleich vor Scham,, und es lief ihm eiskalt über den Nacken. Noch suchte er nach irgend einer Ausrede, da hatte das schöne Mädchen ihm bereits den Rücken gewendet, und er sah nur noch, wie ihre schlanke Gestalt durch die Büsche verschwand, worauf er mit zitternden Knieen sich auf der Traumbank niederließ. In diesem Augenblicke läutete es zu Tisch. Mechanisch folgte er dem Rufe, aber die Zunge klebte ihm am Gaumen. Erhitzt und mit zitternden Gliedern saß er den Eltern gegenüber. Er konnte keinen Bissen hinabwürgen. Die Mutter seufzte. Der Vater dachte, »er wird wieder einmal eine tüchtige Strafe in der Schule zudiktirt erhalten haben und rückt mit der Sprache nicht heraus.«

Mehrere Tage ging Nik in dieser Beklemmung umher. Er hatte sich vorgenommen, in der Schule sich anzustrengen, aber er konnte seine Gedanken in keiner Weise zusammenhalten. Immer sah er nur die zornigen Augen Elfriedens, er hörte den verächtlichen Ton ihrer Stimme, und doch war ihm an ihrer Achtung mehr gelegen als an der der ganzen Welt. Stundenlang konnte er dasitzen und den Ring betrachten, den er aus seinem Schranke hervorgesucht hatte, und mit Macht kamen die alten Empfindungen wieder über ihn. Endlich zeigte sich ihm ein Ausweg. Er wollte an Fritz schreiben, durch ihn bei Elfrieden um Verzeihung nachsuchen, und ihn bitten, sein Freund zu sein. Als er dem Papiere gegenübersaß und sich besann, was er Alles zu beichten habe, übermannte es ihn. Wie viele Schlechtigkeiten gegen Menschen, Thiere und Bäume hatte er in den letzten Monaten verübt; wie traurig hatte er seine Pflichten versäumt; wie wurde er von Lehrern und Schülern dafür verachtet. Niemand ging mehr mit ihm um. Er hatte keinen Gespielen als den rothen Gärtnerjungen, der allen andern zu schlecht war.

Sobald er sich das wirklich einmal klar gemacht hatte, überwältigte es ihn. Wieder sah er die zornigen Augen Elfriedens, und er begann zu weinen. Auf das mit Thränen benetzte Papier schrieb er nur wenige Worte: »Lieber Glimm! Ich bin auf schlechten Wegen. Ich kann mir nicht selbst helfen, alle verachten mich. Du bist mit mir confirmirt worden, hilf mir. Ich will Dich bei dem Altare am Epheumeer im Park um sieben Uhr erwarten, und Dir Alles sagen. Jetzt kann ich nicht mehr vor Weinen.«

Diesen Brief schickte er durch den Diener in das Gärtnerhäuschen hinüber, da er wußte, daß um diese Zeit Fritz bei seiner Arbeit saß. Es dämmerte schon unter den hohen Ahornstämmen, die den einsamen Platz umgaben, in dessen Mitte ein alterthümlich gearbeiteter Altar stand. Unterhalb desselben senkte sich das Terrain, und eine Fluth von Epheu ergoß sich gleich einem Strome den Abhang hinab. Hierher schlich sich um die festgesetzte Stunde Nik. Er war bleich und hatte verweinte Augen. Aengstlich wich er dem Geisterweg aus, da er von Ferne unter den Tannen etwas Weißes zu erkennen glaubte, und schmiegte sich dann in die Ecke der Bank bei dem verabredeten Platze. Aber es blieb Alles still. Hie und da löste sich ein gelbes Blatt von den Bäumen und fiel rauschend vor ihm nieder. Wie sehr hatte er sich verändert, seit er gemeinsam mit den Zwillingen sich des Knospens dieser Bäume erfreut hatte. Als Niemand kam, erfüllte eine namenlose Bitterkeit sein Herz. Also so tief war er verachtet, daß selbst der Sohn des eigenen Gärtners seinem Hülferufe kein Ohr mehr lieh.

»Er glaubt mir nicht«, seufzte er. »Es glaubt mir Niemand.«

Traurigkeit und Zorn gegen Fritz kämpften in ihm. Da hörte er einen leichten, leisen Schritt. Fritz war das nicht. Von den Tannen her kam eine lichte, weiße Gestalt, Nik schauderte. Er trat einen Schritt zurück und hielt sich zitternd an den Hörnern des Altars. Da stand Elfriede vor ihm.

»Fritz durfte nicht kommen«, sagte sie mit ruhiger Stimme. »Der Vater verbot es ihm, weil er noch böse ist über die Ziege. Ich konnte es aber nicht über das Herz bringen, Sie hier allein warten zu lassen.« Dann schwieg sie, als ob sie eine Antwort erwarte. Es blieb aber Alles still, Nik wollte etwas sagen, aber als er zu reden versuchte, brach er in Thränen aus.

»Weinen Sie nicht«, sagte Elfriede mild, »wir haben Ihnen Alles vergeben, und Puck ist fast schon gesund und fängt an, die kranke Pfote wieder zu gebrauchen.«

»Ach, das ist es nicht«, sagte Nik unter Schluchzen, »so schlimm es war. Aber Niemand will mit mir umgehen. Erst haben sie mich gehänselt, mich Baron gescholten, Milchsuppe, Faselhans und was weiß ich. Was blieb mir da übrig, als mich an den schlechten Menschen zu halten, der mich in alle Schändlichkeiten eingeweiht hat. Und nun verachten auch Sie mich; und Fritz, den ich anflehte, kommt nicht einmal, um mich anzuhören.«

Elfriede schwieg eine Weile, dann sagte sie: »Fritz will mit Ihnen sprechen. Sie sollen morgen von der Schule mit ihm nach Hause gehen, aber die Bedingung ist, daß Sie den Umgang mit Ihrem Verführer abbrechen.«

»Das habe ich schon gethan«, erwiderte Nik. »Seit ich Sie bei der Traumbank sah, habe ich kein Wort mehr mit ihm geredet.«

»Das ist gut«, meinte Elfriede freundlich. »Und daß Sie Alles so ernst nehmen, freut mich auch. Ich sehe, daß Sie nur verführt waren, und selbst kein schlechtes Herz haben. Halten Sie sich nur an Fritz, der ist ein braver Junge.«

»Sie haben früher Du zu mir gesagt«, schluchzte Nik jetzt. »Wenn Sie mir wirklich verziehen haben ...« Er erröthete und wagte nicht fortzufahren.

»Gut, Nik«, sagte sie, »wenn Du versprichst, wieder wie früher zu sein, so will ich Dich wieder Du nennen.«

»Ich gelobe es bei den vier Hörnern dieses Altars«, rief Nik enthusiastisch, »und bei den vier heiligen Eschen an den Pforten meines Hauses.«

»Papperlapapp«, sagte Elfriede unwillig. »Nicht gleich wieder Theater spielen, davon kommt all Dein Unglück. Erst hast Du mit eingebildeten Ungeheuern gefochten, und als Dir das endlich zu langweilig wurde, hast Du Thiere gequält. Deshalb haben Dich Deine Kameraden erst verspottet und nachher gemieden. Ich will ein ernstes Versprechen. Gib mir die Hand darauf, daß Du Dich bessern willst.«

Er reichte ihr die Hand und drückte ihre zarte, schlanke Rechte. Damit war die Verhandlung zu Ende, und sie traten aus dem Parke heraus. Nik, der Elfrieden wie im Traume gefolgt war, wurde jetzt erst gewahr, daß er sich an der verrufenen Parkecke am Ausgang des Geisterwegs befinde.

»Fürchtest Du Dich nicht, nach Sonnenuntergang hier zu sein«, fragte er Elfrieden, indem er ängstlich nach der Brombeerhecke schielte.

Elfriede lachte laut auf. »Du bist confirmirt und glaubst noch an Gespenster. Siehst Du, was bei Deinen Märchenbüchern herauskommt.« Und mit einem fröhlichen »gute Nacht« sprang die schlanke Gestalt mit graziös zur Seite geneigtem blonden Haupte den Rebberg entlang, behend jedem fruchtbeladenen Zweige ausbiegend, bis sie hinter den Obstbäumen für Nik's Auge entschwand. Er sah dann, wie sie unter der Thüre des Gärtnerhäuschens noch einmal nach ihm zurückschaute und dann in's Haus trat. Dieses Mal kam er den Geisterweg hinab ohne anderen Schauder, als die selige Empfindung, daß die Geliebte ihm verziehen, und daß er von guten Menschen begnadigt sei.

Am anderen Tage, nach dem Unterrichte, erwartete ihn Fritz bereits an der Schulthüre. Er machte nicht viel Worte, denn Elfriede hatte ihm verboten, Nik zu schelten.

»Komme um vier Uhr mit allen Deinen Schulheften und Büchern zu mir«, sagte er, »dann will ich sehen, was zu thun ist. Erst muß man seine Pflicht erfüllen, dann findet sich das Uebrige ganz von selbst.«

Nik ging beschämt neben ihm her, und wagte nicht zu reden, bis Fritz ihn nach seinen Schicksalen bei den einzelnen Lehrern fragte. Da war denn nicht viel Gutes zu vermelden, doch wurde ihm Fritz nicht durch Tadeln lästig.

Am Mittage ging Nik mit seinen Büchern über die Wiese zum Gärtnerhause. Er war sehr pünktlich, denn er hoffte vorher noch einen Blick von Elfrieden zu erhaschen. Aber sie war nicht um die Wege. Nur die wohlbekannte Ziege sah er, die ängstlich zu schreien begann, als sie seiner ansichtig wurde. Mit Herzklopfen trat er unter das traubenschwere Rebdach, wo das Wachtelhündchen ihn grimmig anbellte. Das saubere Häuschen duftete bis in den Vorplatz so köstlich nach Aepfeln und Quitten, daß ihm der Mund nach ihnen wässerte. Durch die offene Thüre sah er dann die Gärtnerin, die an einem Waschgestell die feine Wäsche für das Schloß aufhing. Als sie Nik erblickte, streifte sie die bis über die Ellbogen aufgestülpten Aermel herab und trat ihm einige Schritte entgegen. Sie war ernster als sonst; eine kleine, scharfe Falte auf ihrer Stirne zeigte, daß sie etwas gegen Nik auf dem Herzen habe, und die großen hellen Augen, die sie jetzt auf ihn richtete, machten, daß er die seinen niederschlug. Die stattliche Frau hieß ihn in die Stube treten, und während sie in ihrer ruhigen Weise einen Tisch abräumte, auf dem die geplättete Wäsche ausgebreitet war, sagte Nik tief erröthend und mit stockender Stimme: »Ich möchte um Erlaubniß bitten, mit Fritz zu lernen.«

»Daß Sie lernen wollen«, sagte Frau Glimm trocken, »ist schon recht, aber wird Fritz auch von Ihnen Gutes lernen? Wir haben eine arme Ziege und einen kleinen Hund im Hause, die nicht eben Ihr Lob singen. Wer keine Liebe zu den Thieren hat, hat auch keine zu den Menschen.« Sie fuhr dabei ruhig in ihrer Arbeit fort, nur daß ihre klaren Augen ständig auf Nik gerichtet waren.

»Ich habe Fritz versprochen«, sagte Nik kleinmüthig, »daß keine Klage mehr gegen mich kommen soll. Versuchen Sie es nur einmal mit mir«, setzte er dann in einem vertraulicheren Tone hinzu.

»Ich will Ihnen sagen, junger Herr«, fuhr die Gärtnerin in ihrer ruhigen Weise fort, »warum ich das erlaube. Mein Mann wollte erst nichts von einem solchen Verkehre wissen, denn er meinte, ›wer als Junker ein Thierquäler ist, wird als Offizier ein Leuteschinder. Mit solchen Herren will ich nichts zu thun haben‹, sagte er. Mich aber dauert Ihre Frau Mutter, und ich möchte nicht, daß Sie darauf angewiesen sind, mit dem rothen Müller umzugehen, den Ihr Herr Vater besser heute als morgen aus dem Hause jagte. Vornehme Kinder haben ihre geschworenen Verführer an solchen schlechten Dienstboten, die sich anschmeicheln wollen; das war Ihr Unglück von Jugend auf. Darum haben Sie keinen gesunden Zahn mehr im Munde, weil die alte Bärbel mit der Zuckerdüte sich um Ihre Liebe bewarb. Aber der Müller verdirbt Ihnen noch mehr als die Zähne, und ich will es nicht mit ansehen, wie dieser schlechte Mensch, der meinem Manne schon fast die ganze Stelle im Schlosse verleidet hat, auch noch Sie zu Grunde richtet. Deshalb habe ich es Fritz erlaubt, daß er mit Ihnen umgehe.«

Während die brave Frau so sprach, war Fritz eingetreten, nickte dem beschämt dastehenden Kameraden freundlich zu, und nun setzten sich beide an die Arbeit. Nik gab sich wirklich viele Mühe, und während er auf seiner Stube oft drei Stunden träumend vor seinen Büchern saß und dann doch nichts wußte, hatte er heute in kaum zwei Stunden sein Pensum gründlich erledigt. Erst gegen Ende, als er Elfriedens Stimme draußen hörte, ließ seine Aufmerksamkeit nach.

»Du wirst müde und dumm«, sagte Fritz offenherzig. »Doch ist's auch genug für heute.« Damit räumten die Knaben die Bücher zusammen. Als sie vor das Haus traten, sahen sie, wie Elfriede ihrer Mutter beim Brechen der Aepfel behülflich war. Es war ein anmuthiges Bild, wie beide unter dem alten Baume standen, beleuchtet von der untergehenden Sonne, in der die an den entlaubten Aesten hängenden Aepfel wie Lichter erglänzten. Die kräftige Gestalt der Mutter stand auf einer kleinen Stehleiter, von der sie ihren Arm nach den Früchten ausstreckte, während die schlanke Elfriede, die schwarze Schürze ausspreitend, dieselben geschickt auffing. Unter dem Vorwande, zu helfen, machte sich Nik alsbald herbei; Fritz schwang sich kühn in die Aeste des alten Baumes, und Nik folgte ihm. Mit Necken und Scherzen flogen die Aepfel nun Elfrieden zu, und nur all zu rasch war die lustige Arbeit vollendet. Dann gingen die drei jungen Leute noch eine Weile längs des Rebberges hin und her, und Elfriede erzählte, was sie in der Residenz gesehen und gelernt hatte.

Dieses einfache Leben wiederholte sich nun Tag für Tag. Nik kam wohl vorbereitet in die Schule, und bald sagte der Klassenvorstand: »Sehen Sie, Altenbrück, Sie können ganz gut, wenn Sie wollen.« Nik war über dieses erste Lob so beglückt, daß ihn nun ein wahres Lernfieber überfiel. Er arbeitete unter Fritzens Aufsicht, dann erging er sich bis zur Abendmahlzeit mit den Geschwistern im Garten. Nach dem Nachtessen aber vertiefte er sich nicht mehr in Romane, sondern holte nach, was er zu Anfang des Schuljahres versäumt hatte. Am Sonntage griff er zum Staunen seiner Eltern sogar zum Gesangbuche und ging in die Kirche. Dabei war er heiterer, als früher, weniger launisch und zankte nicht mehr mit den Dienstboten. Seine alten schlechten Zerstreuungen aber vergaß er gänzlich.

Seit Nik seine freie Zeit in Gesellschaft der Geschwister zubrachte, war ihm der Anblick des rothen Johann völlig unerträglich. Er wich ihm aus, wo er ihn von ferne sah, und wenn Müller sich ihm geflissentlich in den Weg stellte, fertigte er ihn kurz ab, oder schickte ihn wohl gar an die Arbeit. Dieser wußte nicht, wie er sich diese völlige Umwandlung in der Stimmung des jungen Barons zu erklären habe. »Er will vornehm werden«, dachte er bei sich. Auch sah er mit Unmuth, daß Nik sich immer enger an die Gärtnerskinder anschloß, denen von ihrem Vater jeder Verkehr mit ihm untersagt war. Das war schlimm, aber er gab die Hoffnung nicht auf, den jungen Herrn bei Gelegenheit wieder auf seine Seite herüberzuziehen. Bald wäre es auch gelungen. Eines Mittags erschien Nik im Gärtnerhäuschen, begleitet von einem schneeweißen, jungen Pudel. »Welch schönes Thier«, sagte Elfriede, indem sie ihn streichelte. »Und wie kluge Augen er hat. Kann er auch Kunststücke?«

Nik pfiff: »Azor, wie spricht der Hund?« Der Hund bellte.

»Mache Männchen, Azor«, sagte Nik, und der Hund stellte sich auf die Hinterfüße, indem er die Vorderpfoten vor dem Maule kreuzte.

»Azor, hole den Stock«, rief Nik, seine Gerte von sich werfend, und der Hund brachte sie im Maule, und wartete auf den Hinterfüßen, bis Nik sie ihm abnahm.

»Azor, trommle«, rief Nik, eine Gießkanne vor ihn stellend, und Azor stellte sich wie ein Tambour auf und trommelte mit den Vorderpfoten.

»Azor, trage den Korb«, commandirte der Herr, Elfriedens Notentasche ihm hinreichend, und gehorsam trabte der Pudel neben Nik her, indem er die Tasche im Maule hielt.

»Azor, lasse dich begraben.« Der Hund legte sich zur Erde, streckte alle Viere von sich und wartete, ohne sich zu rühren, bis Nik ihn durch einen Pfiff wieder an sich nahm.

Elfriede jubelte auf vor Vergnügen und legte dem klugen Thiere die schönen weißen Hände um den Nacken, indem sie es liebkoste.

»Ich wollte Dich bitten«, sagte nun Nik verschämt, »ihn als Andenken von mir anzunehmen.«

Fritz hatte während dieser ganzen Vorstellung ernst bei Seite gestanden, ohne ein Wort zu reden. Jetzt trat er dazwischen. »Von wem hast Du den Hund?« fragte er in sehr bestimmtem Tone.

Nik schwieg, er schaute auf Elfriede und schien die Frage zu überhören.

»Du hast ihn von Johann Müller«, sagte Fritz zornig. Bei diesem Namen ließ Elfriede den Hund sofort los und schaute Nik ängstlich an.

»Nun ja«, erwiderte Nik, »was ist dabei?«

»Du darfst den Hund nicht behalten«, erwiderte Fritz in ernstem Tone. »Von dem Rothen läßt man sich nichts schenken.«

»Wenn Ihr ihn nicht wollt«, sagte Nik achselzuckend, »dann behalte ich ihn.«

»Nein«, erwiderte Fritz. »Du hast die Wahl zwischen uns und Deinem Johann. Wenn Du den Hund behältst, so ist Alles aus zwischen uns.«

»Aber warum denn?« fragte Nik betroffen. »Ich kann ihn ja bezahlen.«

»Jetzt nicht mehr«, sagte Fritz, »nachdem Du ihn als Geschenk angenommen, ist es dazu zu spät. Ich leide es aber auch nicht. Denn erstens ist der Hund sicher gestohlen, und zweitens war eine lange Quälerei nöthig, um das arme Thier so zu dressiren. Da, sieh einmal diese Schwielen und hier die Stelle, wo ihm die Haut vom Gelenke geschlagen ist. Du darfst Dich nicht wieder zum Genossen dieses Menschen machen. Wenn Du Geschenke von ihm annimmst, dann gehst Du wieder mit ihm um, aber nicht mit uns.« Nik zögerte eine Weile. Es reizte ihn, daß er sich so müsse schulmeistern lassen. Aber er überwand sich und sagte: »Elfriede soll entscheiden. Nur ihr wollte ich eine Freude machen, mir liegt an dem Köter nichts.«

»Dann gib ihn zurück, Nik«, sagte Elfriede, ihn freundlich mit ihren blauen Augen anblickend. »Du hast mir dann eine doppelte Freude gemacht. Wir wissen besser, wie schlecht der Andere ist. Je weniger Du mit ihm zu thun hast, um so besser ist es.«

»Gut«, sagte Nik beschämt. Er pfiff dem Hunde, und ging nach dem Garten zurück. Als er Johann gefunden, sagte er ihm: »Ich kann den Hund nicht behalten; ich danke Dir aber nochmals für Deinen guten Willen, und hier hast Du etwas für Deine Mühe.« Damit reichte er ihm einen Thaler, in welchem sein Taschengeld für diese Woche bestand. Ehe sich der Rothe noch auf eine Antwort hatte besinnen können, drehte Nik sich um und lief nach der Wiese. Der Hund schoß neben ihm her, aber Nik commandirte: »Azor, laß Dich begraben!« Da legte der Pudel gehorsam sich nieder, und Nik entkam unbehelligt zu seinen Freunden. »Abgemacht«, rief er schon von Weitem den Geschwistern zu und wurde mit freundlichem Lächeln von ihnen empfangen. »Nun aber zur Arbeit«, commandirte Fritz. »Wir müssen es dahin bringen, daß Du versetzt wirst, sonst kommen wir immer weiter auseinander.«

Und Fritz brachte es dahin. Wenn Nik's Schlaffheit wieder überhand nehmen wollte, drohte er, die Hand von ihm abzuziehen. Elfriede zog ihre kleine weiße Stirne kraus und Nik bekämpfte seine Flatterhaftigkeit, so daß er am Schlusse des Schuljahres seinem Vater ein ganz erträgliches Zeugniß vorlegen konnte. Als dieser ihn dafür loben wollte, sagte Nik kurz: »Ich verdanke das Alles Fritz Glimm, mit dem Ihr mir früher den Verkehr verbotet. Hättet Ihr mich gleich mit ihm umgehen lassen, es wäre besser gewesen.« An den Sohn seines Gärtners freilich hatte der Baron am wenigsten gedacht, wenn er sich der völligen Wandlung Nik's erfreute, er hatte gemeint, seine eigenen Strafpredigten hätten dieses erfreuliche Resultat erzielt.

Daß Nik den Eltern gegenüber so entschieden auftrat, hatte freilich noch besondere Gründe. Seit er drüben in dem Gärtnerhäuschen einen großen Theil des Tages zubrachte, waren ihm die Augen aufgethan worden, so daß er in seinem väterlichen Hause vieles sah, woran er früher achtlos vorübergegangen war. Er hatte bis dahin nur gefühlt, daß die üble Laune der Eltern über ihm hänge, wie eine trübe Wolke. Seit er aber an dem bescheidenen Glück im Gärtnerhause einen Maßstab gewonnen und er in die Jahre der Unterscheidung getreten war, ging ihm das Auge dafür auf, daß bei allem Glanze wenig Glück in dem prachtvollen Schlosse seiner Eltern herrsche. Wenn die Glocke gellend zum Abendessen rief, so verließ er nur ungern drüben die traulichen kleinen Räume der Gärtnersleute, wo die Zwillinge in der Dämmerstube Possen trieben und durch die Kammern tanzten. Kam er dann im Schlosse an, so fand er meist noch gar nichts gerüstet; Mama hatte nur schellen lassen, weil sie sich langweilte. Die zarte, kleine Frau saß am Ofen und schob mit ihrem Fuße einen locker gewordenen Messingreifen bald herauf, bald herunter. Der Vater ging in dem Salon auf und ab und warf jedesmal, ehe er umkehrte, einen Blick auf die Uhr über dem Schreibtisch, ob der Zeiger nicht auf den Schlag vorrücke, so daß er berechtigt wäre, über Ausbleiben des Essens zu schelten. Ihn verdroß es, daß alle Mittel vergeblich waren, das Stillschweigen seiner Frau zu brechen. Auf hingeworfene Bemerkungen antwortete sie nicht oder einsilbig und fuhr ruhig fort, mit ihrem Füßchen den verdammten Reif bald rechts, bald links in die Höhe zu schieben. »Du hättest den Reif auch schon lange fest machen lassen können«, murrte er. »Erst gestern war ja der Schlosser hier.« Die Baronin schwieg. »Ist der Uhrmacher immer noch nicht gekommen?« erneute der Baron die Unterhaltung.

»Ich habe seine Rechnung gleich bezahlt«, erwiderte die Baronin leise, wie leidend.

»Aber ich wollte ihm ja meine Uhr mitgeben«, fuhr der Baron auf, »und die Wanduhr geht auch nicht, die Stehuhr in meiner Stube eben so wenig.«

»Das wußte ich nicht«, sagte die Baronin apathisch.

»Aber die Uhren stehen ja seit acht Tagen.«

Die Baronin zuckte nur die Schultern. »Nun kann ich morgen die Leute wieder von der Arbeit weg in die Stadt schicken«, grollte der Baron unmuthig. Dann hörte man wieder nichts in der Stube als den Schritt des Barons, und das Gähnen Nik's, oder das Krachen des Stuhls, auf dem er sich schaukelte. Endlich wurde zum Essen gerufen. Früher war es Nik wohl auch zuweilen aufgefallen, daß die Eltern oft Tage lang kein Wort mit einander sprachen, sondern beide das Wort nur an ihn richteten. Er machte sich dann wohl auch Gedanken, warum die Mutter so bleich, schmächtig und traurig aussehe, und ein Ausdruck des Leidens und der Niedergeschlagenheit über ihre ganze Person ausgebreitet sei, und warum anderseits der Vater mit seinem spiegelnden Kahlkopfe und dem gewichsten Schnurrbart so finster und verbittert darein schaue? Er erinnerte sich noch, wie er als Knabe still am Tische gesessen hatte, und seine Augen prüfend vom Vater zur Mutter und wieder zum Vater gegangen waren, und wenn der Vater dann fragte, was hast Du denn, so war er roth geworden. Aber Partei zwischen den Eltern zu ergreifen fiel ihm damals nicht ein. Beide waren freundlich gegen ihn, und wenn sie sich untereinander stritten, schienen ihm beide recht zu haben. War der Vater sehr gekränkt, so wendete sich seine Zustimmung ihm zu; fing die Baronin an zu weinen, so dachte er, der Vater habe Unrecht. Aber das Ganze war ihm doch nur peinlich gewesen, und er hatte dann stets gesucht, so rasch als immer möglich zu entwischen. So waren die Tage hingegangen, so weit seine Erinnerungen zurück reichten. Seit Nik nun aber bei den Gärtnersleuten gesehen hatte, wie andere Menschen lebten, fing er an, über die Ursache der drückenden Atmosphäre im väterlichen Hause nachzudenken. Im Gärtnerhause wurde nie gezankt, da dazu Niemand Zeit hatte. Jeder that seine Arbeit, und wenn man zusammen kam, freute man sich der gemeinsamen Erholung. Man war fröhlich, weil man fleißig und gesund war. Die Eltern aber, wie hätten sie sich nicht zanken sollen, da sie nichts zu thun hatten? Der Vater ging müßig durch das Haus, that nichts, aber kritisirte alles. Die Mutter saß traurig in der Ecke und brütete sich immer neue Hirngespinnste aus. Wie reinlich sah es in der kleinen Gärtnerwohnung aus, wo die tannenen Böden glänzten, und alle Scheiben spiegelten, während in den Prunkgemächern des Schlosses stets alles in Unordnung war. Immer waren die Dinge verräumt oder verlegt, verstäubt oder von Spinnweben beschmutzt, und man schaute unter damastenen Gardinen durch trübe Fenster. Das Haushalten der Baronin bestand wesentlich darin, daß sie die Mägde zwang, schneeweiße Schürzen zu tragen, daß sie bei Tisch die Teller wieder hinausschickte, wenn sie glücklich eine trübe Stelle an denselben entdeckt hatte, und die Fenster ringsum eben so oft aufreißen ließ, als der Baron sie ängstlich schloß, einmal, weil sie, blutarm, wie sie war, einen krankhaften Lufthunger empfand, vornehmlich aber deshalb, weil ihr rheumatischer Gemahl eine Furcht vor jedem Luftzügchen zeigte, die ihr lächerlich erschien, und die ihm jedenfalls vor seinem Tode noch abgewöhnt werden mußte. Den Tag über strickte sie an Pulswärmern für einen alten Säufer, dessen blaue Nase sie auf die Vermuthung gebracht hatte, daß er vom Froste leide, und Unterröckchen für die alte Müllerin, die diese für immer neue Enkel abholte, obgleich der Jüngste, den sie hatte, der rothe Johann, schon längst in Diensten des Barons stand. Das war sehr gutmüthig, aber nichts desto weniger war die zarte, blonde Dame durch ihre nervöse Unruhe eine wahre Plage für ihre Leute. Da sie, ohne das Geringste zu verstehen, doch in Alles hineinredete, hatten diese die Hölle auf Erden, und die Dienstboten wechselten darum auch kaleidoskopisch mit jedem Quartal, und oft mit jedem Monate. Nik sah das jetzt mit immer helleren Augen an. »Wie sollte es auch anders sein«, dachte er, »was sollte Mama sonst thun als die Leute quälen?« Im Gärtnerhause wurden keine Mägde gezankt, weil die Gärtnerin und ihre Tochter Alles selbst besorgten, und sie verrichteten Alles pünktlich, weil sie es für Vater und Bruder thaten. Auch waren die Zwillinge die Ordnung selbst, und wenn Nik seine zerrissenen und beschmutzten Schulbücher mit ihren Eselsohren mit denen des Gärtnerssohnes verglich, so schienen die von Fritz die vornehmen zu sein, so rein und neu sahen sie alle aus. Das kam aber daher, daß der Gärtner seine Kinder von Jugend auf gelehrt hatte, nichts im Garten zu beschädigen, auf keinen neuen Rasen zu treten, keine Ranke zu streifen, kein Blatt zwecklos abzureißen, überhaupt nichts zu verderben. So waren sie gewohnt, Alles zu schonen, auch die Gefühle ihrer Umgebung. Der Umgang mit den Blumen machte sie zart und rücksichtsvoll auch gegen die Menschen. Nik's romantischem Auge erschien der alte Glimm wie der Mann aus dem Lande Uz, schlecht und recht, gottesfürchtig und ein Feind alles Bösen. Noch mehr Respekt aber hatte er vor Frau Glimm. Die hatte keine Freundinnen wie seine Mama, denen sie ihre Klagen über das Verhalten ihres Mannes anvertraute. Sie trug eine einfache Haube, kochte das Mittagessen selbst, wusch für das Schloß, und flickte alte Strümpfe. Aber sie war stets gut aufgelegt, hatte für Nik immer einen freundlichen Scherz und einen köstlichen Apfel oder eine saftige Birne bereit, und Alle waren heiter und guter Dinge. So kam Nik die Ahnung, daß es kein besonderer Vorzug sei, vornehm zu sein, wenn nicht gar, wie ihm bei den verdrießlichen Gesichtern seines Vaters und den verweinten Augen seiner Mutter zuweilen vorkam, ein rechtes Unglück. Unter diesen Umständen, und bei der schwülen Stimmung, die stets im elterlichen Hause herrschte, war es kein Wunder, daß Nik selbst im Winter lieber im Gärtnerhause drüben mit seinen Büchern saß als zu Hause, wo nie gutes Wetter war. Hätte man den Eltern gesagt, daß der größere Theil der Anziehungskraft von der schlanken, elfenhaften Gärtnerstochter ausgehe, so würden sie nur gelacht haben über diese romantische Knabenliebe. Sie aber meinten, er lerne mit Fritz, den sie dafür sehr in ihr Herz schlossen, während es durchaus nicht bloß Schulbücher waren, die Nik hinübertrug in das Gärtnerhäuschen. Vielmehr suchte Nik Elfrieden ebenso zu bilden, wie Fritz ihn, indem er ihr pathetisch die Werke der neuesten Dichter vorlas, oder ihr dieselben zum Lesen zurückließ, da er selbst mit jedem Buche in kürzester Zeit zu Ende war. So verstrichen die Tage, die jedem Theile charakterbildende Momente zuführten, rasch und glücklich. Nik aber hatte in dem Verkehre mit den Geschwistern eine Ruhe und eine Zufriedenheit gefunden, die nur ein gutes Gewissen gibt, und die ihm bei seinem frühern Treiben ganz abhanden gekommen waren.


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