Agnes Harder
Schlumski
Agnes Harder

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Wenn die Not am größten

Von nun an beobachtete ich meinen Bedrücker. Jedesmal, wenn er in der Nacht das Kästchen unter dem Faß mit Sauerkraut hervorholte, war ich sicher, daß er am nächsten Tage beim Wechseln ein blankes Mark- oder Talerstück herausgeben würde. Und immer, wenn das falsche Geld in der Tasche des Betrogenen verschwand, wollte ich aufspringen und bellen. Aber was hätte es genützt? Der Hund ist klug. Er versteht seine eigene Sprache und auch die des Menschen. Der Mensch aber kann uns nicht verstehen. Er meint, wir bellen nur. Ach, wie gut wäre es für meine Leute gewesen, wenn sie gewußt hätten, was ich ihnen sagen wollte!

Denn denen ging es immer schlechter. Zwar war Peter nun aufgestanden. Dafür aber lag die Großmutter. Es fehlte ihr eigentlich nichts. Sie war nur sehr schwach. Lungrich höhnte, daß sie wohl die Faulkrankheit habe. Aber sie gab ihm nicht einmal Antwort. Sie dämmerte nur so hin. Die Frau im Laden hatte rote Augen. Aber sie tat noch die Arbeit der Großmutter mit. Es war alles so blank und so eigen, wie das in dem Kellerloch nur möglich war. Es ging auch alles seinen gewöhnlichen Gang. Fried und Minna trugen ihre 95 Zeitungen aus und lernten, so schwer es ihnen der Ede auch machte. Manchmal versteckte er ihnen die Bücher und lief fort. Dann kamen sie zu mir.

»Such, Schlumski, lieber Schlumski, hilf.«

Und ich suchte und fand immer. Und Treff hat kein Rebhuhn stolzer angebracht, als ich die biblische Geschichte oder den Federkasten.

Ja, in der Schule ging es den Kindern gut. Aber nach dem alten Kantor sehnten sie sich doch, und zu Weihnachten hatten sie ihm einen Brief geschrieben. Da kam nun eine Antwort an sie, ein richtiger Brief, an Fried und Minna adressiert. Nein, solch eine Freude! Immer wieder lasen sie ihn sich vor, bis sie ihn auswendig konnten. Ich hörte zu, hörte von dem hohen Schnee, der dort lag und so weiß und rein war, und von allen Leuten aus dem Dorf, von denen der Kantor erzählte. Aber von den Hunden schrieb er nichts. Das hatte er vergessen. Und ich hätte doch so gern gewußt, wie es auf dem Hofe ging. Nicht einmal von meinem Bruder Wotan erfuhr ich ein Wort. Dazu hatte ich Rheumatismus in der linken Vorderpfote, denn der Frost hatte wieder einmal mit Schmutz gewechselt. Aber Lungrich legte mir nicht die Decke unter, wenn ich so stundenlang auf der Straße hielt. Manchmal sah ich Ali von Weitem. Der hatte jetzt gute Zeit, denn nun gab es zwei, die ihn verwöhnten, und er hielt den Schwanz immer hoch vor Zufriedenheit.

Ja, da dachte ich oft, nicht nur Menschenlose, auch Hundelose seien sehr verschieden.

Dann erzählte Fried eines Abends ganz leise, der Ede hätte gestohlen. In der Schule sei oft mal 96 etwas fortgekommen, ein Bleistift, oder ein Taschenmesser. Niemand hätte gewußt, wer es genommen. Heute aber hätten sie ihn beklappt. Der Hans vom Schneider drüben, der hätte in der Pause ihnen noch einen Groschen gezeigt, den er bekommen, als er rasch vor der Schule noch ein Paar Hosen fortgetragen. Und in der Stunde hätte er auf einmal eine Hand in seiner Tasche gefühlt, zugegriffen und laut aufgeschrien. Als der Lehrer kam, hielt Hans Edes Hand noch fest, und wie sie sie aufmachten, da war der Groschen drin.

»Und nun meldeten sich noch mehr Jungens, Mutter. Der eine sagte, der Ede hätte seinen Bücherriemen, und der andere, er hätte seinen Federhalter, und einem dritten fehlte ein Paar Handschuhe. Ich schämte mich so, ich sah immer auf die Erde. Aber Ede sagte ganz verstockt: nein! und den Groschen hätte er auch nur zum Spaß nehmen wollen. Er hätte ihn dem Hans nachher wiedergegeben. Aber niemand glaubte ihm, und kein Junge will mehr mit ihm auf einer Bank sitzen. Er hat mir gesagt, Mutter, wenn ich es erzähle, schlägt er mir die Knochen entzwei. Aber ich muß es dir erzählen, und ich fürchte ihn auch nicht. Ich bin ebenso stark wie er.«

Die Mutter seufzte. Peterchen aber, der furchtbar ernst geworden war, seit er Pflaumenmänner verkauft und im Bett gelegen hatte, sagte ganz altklug:

»Schlechte Beispiele verderben gute Sitten.« Da mußte die Mutter lachen.

»Ach, du dummes Peterchen! Ihr werdet mir 97 doch ehrlich bleiben! So wird mich der liebe Gott nicht strafen. Und es gibt auch noch ein anderes Sprichwort, das lautet: wenn dich die bösen Buben locken, dann folge ihnen nicht.«

Ja, dachte ich, das stimmt auch für Hunde. Wie oft laufen da nicht solche Müßiggänger in den Straßen umher, die nichts tun, als andere Hunde zum Bösen verlocken! Da ist dann im Nu ein Auflauf zusammen, und ein Gebell und Gekläff, daß sich ein anständiger Hund schämen muß. Nein, den bösen Buben muß man nicht folgen. –

Aber eines Abends, als wir nach Hause gekommen waren, und ich mein Futter fraß und meine müden Knochen streckte, und die kranke Pfote ganz vorsichtig an den Ofen hielt, sagte Lungrich zu Peter, er solle eine leere Bierflasche nehmen und mit ihm auf die Straße kommen.

Peter gehorchte, und sie blieben lange Zeit fort. Die Frau ängstigte sich schon, und auch die Großmutter wurde unruhig. Als sie dann kamen, hatte Peterchen ganz schmutzige Hände. Seine Mutter wusch sie ihm und fragte ihn, wo er gewesen, und warum die Flasche noch leer sei. Aber er gab keine Antwort. Von nun an ging Peterchen, wenn es dunkel wurde, mit einer leeren Bierflasche auf die Straße und kam erst nach einer langen Weile zurück. Und immer brachte er die Flasche wieder, und immer waren seine Hände ganz voll Straßenschmutz. Er sprach auch keinen Ton. Es wurde ein ganz scheuer, verstockter, kleiner Bursche.

Die Mutter durfte nicht vom Ladentisch fort. Fried und Minna waren mit ihren Zeitungen 98 unterwegs. Die Großsche lag im Bett. Da sagte ich eines Tages zu mir selbst:

»Das geht nicht, Schlumski, du mußt nach dem Rechten sehen.«

Und als ich meine Schrotsuppe gegessen hatte, ging ich hinaus, so weh die Pfote auch tat.

Gleich roch ich Peterchens Spur. Die kannte ich gut. Mit der Nase am Boden ging ich dem kleinen Mann nach. Er mußte ziemlich weit gelaufen sein. Da kam ich in eine Nebenstraße, durch die nicht sehr viele Menschen gingen. Es war auch ziemlich dunkel. Und gerade, wo es am dunkelsten war, hörte ich Peterchen weinen und sah, wie er mit der Hand auf der Erde wühlte. Ich wollte auf ihn zulaufen. Da hielt ein fremder Herr an und sagte mitleidig:

»Was weinst du denn, Kleiner?«

Und Peterchen sagte:

»Ich habe zehn Pfennige verloren, und nun kann ich meinem Onkel nicht die Flasche Bier kaufen, und dann schlägt er mich.«

Der Herr sah auf den blassen, zitternden Knaben, zog dann seine Börse und gab ihm zehn Pfennige.

»Hier, Kleiner.«

Peter bedankte sich und rannte davon. Ich konnte ihm zuerst gar nicht folgen, so erschrocken war ich. Peterchen war ein Betrüger. Er suchte nach zehn Pfennigen, die er gar nicht verloren hatte. Aber daran war nur der Lungrich schuld, der hatte ihn dazu angestiftet! Weiß Gott, wie er ihn geschlagen hatte! Und nun suchte ich wieder seine Spur, die Nase am Boden, und als ich ihn 99 gefunden hatte, stellt ich mich so, daß der Wind ihm nicht meine Witterung zutragen konnte, obgleich ich glaube, Menschen riechen so schlecht, daß sie nicht einmal auf zehn Schritt wissen, wer kommt! Und wirklich, Peterchen wühlte wieder im Schmutz, und dieses Mal gab ihm eine Dame das Geld.

Dann sah er sich scheu um und ging nach der Kutscherkneipe an der Ecke, wo Lungrich saß und seine Weiße trank. Ich sah, wie er ihm Geld hinzählte, und wie Lungrich ihm dann das Bierglas an die Lippen hielt. Aber da schüttelte der kleine Kerl den Kopf und ging raus und schlich ganz langsam nach Hause. Als ich kam und mich auf meine Decke legte, saß er schon hinten im Laden, in einer dunklen Ecke, recht wie ein Häufchen Unglück.

Ich schlief die ganze Nacht nicht. Immer dachte ich an meinen Herrn, den Lumpensammler, wie ehrlich der gewesen war, und wie fleißig! Gar zu gern hätte ich Ali noch um Rat gefragt. Aber der Schmeißweg fuhr jetzt mit seinen Sachen in einen anderen Stadtteil, und wir sahen uns nur Sonntags, wenn Ali frei hatte. Und es waren doch meine Leute. Für die mußte ich allein handeln.

Als es dunkel wurde, nahm Peter wieder die Bierflasche.

»Peter«, sagte seine Mutter, »bleib doch daheim. Es regnet ja. Mußt du denn fort?« Er nickte nur ganz gleichgültig mit dem Kopf. Er sah seine Mutter nie mehr an.

Als er aber eine Weile fort war, ging ich zu der Frau und zog an ihrer Schürze, und sah nach 100 der Tür und sprang hin und her. Sie sah mich ganz erstaunt an.

»Was hast du nur, Schlumski?«

Da lief ich nach der Ecke, wo Peters Sachen lagen, nahm den zerbrochenen Seehund, den er immer so im Arm hatte, wenn er im Winkel saß, und brachte ihn ihr und sah wieder nach der Tür.

»Peter, ist es was mit Peter, Schlumski?«

Da bellte ich laut und sprang an ihr in die Höhe. Sie hatte mich verstanden!

Die Frau nahm die Schürze ab.

»Großsche«, sagte sie, und ihre Stimme zitterte, »es ist was mit Peter nicht richtig. Schlumski will mich hinbringen. Ich muß gehen, Großsche. Ich schiebe das Bett hier an die offene Tür, daß du in den Laden hereinsehen kannst. Wenn jemand kommt, sag, er soll warten. Ich muß fort.«

Die Alte nickte mit dem Kopf. Die Frau zog das Bett vor. Dann ging sie mit mir auf die Straße. Ich lief vor, und sie folgte.

»Schnell, Schlumski, schnell.«

Als wir in die Straße kamen, in der Peterchen war, zog ich sie am Rock und drängte sie an die Wand, und sie verstand mich auch und stand im Dunkeln hinter ihrem Kind mit Augen, die brannten nur so. Und es ging gerade wie gestern. Peter wühlte im Straßenschmutz und sagte, er hätte Geld verloren, und ein Herr blieb stehen und wollte ihm welches geben. Aber da trat die Frau vor und sagte ganz laut:

»Tun Sie das nicht, mein Herr, mein Kind ist ein Betrüger.«

101 Wie aber das Peterchen die Stimme seiner Mutter hörte, lief es geradeaus, die Straße herunter. Nie hätte ich gedacht, daß es mit seinen krummen Beinen so laufen könne. Aber seine Mutter lief hinter ihm her. Und wie das Peterchen ihre Schritte hörte und auf eine Brücke kam, die über ein dunkles Wasser führte, da sprang der Junge ins Wasser.

Die Frau stieß einen Schrei aus und wollte Peterchen nach. Der Herr aber, der uns gefolgt war, 102 hielt sie zurück. Und ich machte einen Satz, hinein in den Kanal, und als das Kind auftauchte, hielt ich es an der Jacke und schwamm nach einem Äpfelkahn, der da lag. Da nahmen die Schiffer ihn mir ab und zogen mich auch hinein. Nicht lange, da waren wir beide am Ufer, Peterchen lag seiner Mutter im Arm, und die Leute standen im großen Kreis umher und lobten mich.

Ja, und der Herr war auch da, und auch ein Polizist. Der schrieb alles auf. Aber der Herr sprach mit ihm. Da ließ er uns nach Hause gehen.

Wie wir da angekommen sind, hat die Frau Peter ausgezogen und zur Großsche ins Bett gelegt. Unterwegs hatte er seine Augen schon aufgemacht, seine Mutter gesehen und blos gesagt:

»Mutter, Mutter!«

Und nun schlief er gleich ein.

Die Frau aber hat Minnachen und den Fried auch schlafen geschickt und sich mitten hingestellt und auf den Lungrich gewartet. Der ist mit dem Ede, den er schon überall mitnahm, im Wirtshaus gesessen bis Mitternacht. Ich hab dagelegen und auf die Frau gesehen, wie sie da stand und wartete. Und manchmal hat sie mir zugenickt und gesagt:

»Ja, Schlumski, so ist es. Und seine Kinder müssen wir retten.« Da hab' ich gewußt, daß sie an den toten Mann dachte.

Als der Lungrich mit seinem Jungen die Treppe heruntergestolpert ist, und die Frau steht so vor ihm, ist er erschrocken und hat in die Ecke geschielt, wo das Faß mit dem Sauerkraut stand. Das war sein böses Gewissen. Dann hat er die Frau angefahren, 103 ob nicht genug Petroleum verbrannt würde, und was sie hier noch wolle. Morgen fände sie dann wieder nicht aus den Federn.

Sie blieb aber ganz ruhig, und sie sprach ernst, daß er sie hören mußte.

»Ich hab' heut meinen Peter geholt. Erst von der Straße, wo er ja wohl lernte, ein schlechter Mensch zu werden und andere zu betrügen, und dann aus dem Wasser, denn so hat er sich vor seiner Mutter geschämt, daß er sich da hinunter gestürzt hat. Nun hab' ich aber genug.

Gib mir die dreihundert Mark, die ich für unser Häuschen bekam, und dann laß uns gehen. Unsere Wege sind geschieden.«

Da lachte der Lungrich und sagte nur:

»Du bist wohl verrückt? Hier, sieh nach, ich führ' genau Buch, was ihr mich kostet. Fünf Köpfe, Essen, Wohnung, Kleidung, es ist nun bald ein Jahr. Schuldig bist du mir noch hundert Mark. Wenn du mir die abzahlen kannst, denn mache, daß du mit deiner Brut auf die Straße kommst, sonst kannst du mir danken, daß ich euch das Dach über dem Kopfe gönne.«

Damit ging er hinaus. Die Frau aber sank in die Kniee und betete.

»Lieber Gott, hilf! Jetzt ist die Not am größten!« 104


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