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Réjane.

Als im Lenz des Jahres 1897 Frau Eleonora Dust sich zum ersten Mal den Parisern zeigte, wurde sie als ein ungewöhnliches Talent mit lautem Beifall begrüßt. Das war zu erwarten; in der Stadt der Aestheten und ihrer botticellisch frisirten Gesponsen, die Willy so unverschämt lustig geschildert hat, vor einem blasirten, die eigene Schwächlichkeit blaguirenden Publikum, dessen Lieblingblume das künstlich gezüchtete gefüllte Chrysanthemum war, konnte der kränkliche Reiz einer Künstlerin, die selbst einem wandelnden Nervenbündel gleicht, auf müde, in hastigem Genießen erschlaffte Nerven nicht die Wirkung versagen. Zwar fiel keinem ernsthaften, in Theaterdingen erfahrenen Menschen ein, Frau Duse wie ein Weltwunder anzustaunen und zu behaupten, sie habe Neues, nie vorher Gesehenes, auf die Bretter gebracht und mit ihr beginne der Schauspielkunst eine neue Epoche; aber man rühmte sie laut, nach Gebühr, und fand, sie könne als Melodramenspielerin sich mit den besten Mustern dieser begrenzten Gattung furchtlos im Kunstkampf messen. Man verglich sie auch der Meisterin Sarah Bernhardt und merkte, wenn man dem Vergleich nachsann, bald, daß Sarah die unendlich Reichere ist: Phaedra und Donna Sol, Mussets Lorenzaccio und Rostands Samariterin kann die Duse nicht spielen; sie ist für die Tragoedie und für das romantische Drama der Größten innerlich zu arm, hat den Versuch, Kleopatra und Julia Capulet zu scheinen, früh wieder, der Noth gehorchend, aufgegeben und würde an großen Aufgaben erlahmen, auch wenn ihre Ausdrucksmittel üppiger wären. Ihr Ton und ihre Geberde ist klein, wie fast alles im Kulturklima Gewachsene; und klein ist der Kreis, in dem ihr Empfinden sich reizvoll zu regen vermag. Wo die im Volkswesen wurzelnde Tradition, der Stab tastender Künstler, sie stützt, gelingen ihr starke oder dem Oberflächenbetrachter doch stark scheinende Gestalten: Vergas Santuzza und Goldonis Locandiera. Sonst sucht und findet sie ihre Wirkungen im Dämmerreich krankhafter Schwäche; sie spielt seltsame, leidende Damen, die sich in anmuthigen Schlangenlinien über die Bühne schleppen, sich fröstelnd und hüstelnd in weiche Mäntel hüllen und, wenn die Stunde geschlagen hat, recht nach der Kunst, der Spitalkunst, sterben. Naive wähnen, hier walte frei eine von keiner Konvention gehemmte Natur, die das erdichtete Schicksal durchlebt, der Gaffer im Parquet und in den Logen nicht achtet und sich von dem Gefühl der Sekunde treiben und tragen läßt; der Erfahrene spürt schnell, daß er eine raffinirte, klug die Wirkung berechnende Kunst vor sich hat, die nie sorglos der Kraft des Temperamentes vertraut und nicht das Geringste dem Augenblick und seiner Eingebung überläßt. Eine Dame, die als Fedora im letzten Akt in den Hintergrund der Bühne wankt und heimlich im Haar ein Knötchen löst, auf daß beim Sterben die Strähnen malerische Verstörtheit markiren, lebt gewiß nicht bewußtlos im fegenden Wirbelwind wilder Leidenschaften. Aber auch die Bernhardt hat sich, wie jeder Jahre lang virtuos gestaltende Künstler, längst in ein bewußtes, schlau die Wirkung erwägendes Schaffen gewöhnt; und da die graziös greisende Sarah den Parisern seit manchem Jahrzehnt bekannt ist, mußte sich für die neue, überraschende Erscheinung, schon weil sie »anders« war, eine Partei bilden. Canovas del Castillo, Spaniens (ermordeter) Ministerpräsident, pflegte zu sagen, die Bestie der Oeffentlichen Meinung wolle unaufhörlich mit neuem Fleisch gefüttert sein; dieses Wort, das dem Sprecher in der Erfahrung des politischen Lebens entstanden war, gilt ganz besonders auch für das vielköpfige, unersättliche Thier, das sich, nach Fleisch und Blut lechzend, vor den eine Welt bedeutenden Brettern räkelt, und erklärt blitzschnell alle dunklen Sagen von Coulissenneid und Theaterkabalen. Sarahs Kameliendame, die das erste, von Frau Doche geschaffene Bild aus dem Gedächtniß verdrängt hat, ist zwei Generationen in jedem Wesenszuge bekannt; nun erschien auf der Bühne ein sieches und in seinem Siechthum rührendes Geschöpf, das aus großen Augen staunend in die Hetärenwelt sah und dessen Kleid der Schmutz der Gasse niemals berührt hatte: Das war neu und mußte, weil es neu war, den Beifall gewinnen. Zwar merkten die Verständigen, daß diese Auffassung dem anmuthigen, in süßer Sentimentalität schwelgenden Melodrama den Inhalt und die Entwickelung nahm (denn Marguerites Schicksal soll uns ja lehren, wie eine befleckte Seele im Erleben einer reinen Liebe sich läutern und zum Opfermuth des Märtyrers reif werden kann), zwar zweifelten sie, ob diese Kameliendame je mit greisen Lustkäufern im cabinet particulier soupirt, je in durchdufteten Boudoirs an müden Genießern galante Künste geübt habe: aber es war doch eine andere Marguerite, – und das Andere gefällt den Blasirten zunächst immer. Das selbe Gesetz, das vor einem vom Parademarsch praller Schenkel gelangweilten Publikum den dünnen Beinchen der Barrisons einen europäischen Erfolg brachte, sicherte auch der mit dem Reiz der Abwechselung wirkenden leisen und kranken Kunst der Frau Duse den Sieg. Einzelne unkluge Enthusiasten stellten die Virtuosin der Natürlichkeit über die Bernhardt, über alle Sterne der französischen Bühne; und verstummten erst, als ihr verzücktes Rasen von der Frage unterbrochen wurde: »Et Réjane?« Nach einer Pause stammelten sie, ein Bischen verlegen: Ja, freilich … Réjane hat auch ihre Vorzüge, aber Réjane spielt ja keine Fedoren und Caesarinen und an Réjane hatten wir eben gar nicht gedacht.

 

Als Frau Gabriele Réjane nach ihrem ersten Gastspiel von Berlin Abschied genommen hatte, las man in den Zeitungen, sie habe sehr gut gespielt, ganz vortrefflich sogar, gewiß, aber der Duse dürfe man sie doch nicht vergleichen, denn das Auftreten der Duse habe »eine Theaterrevolution erregt«. Ich muß bekennen, daß ich von dieser angeblich revolutionären Wirkung der blassen Eleonore nichts, wirklich gar nichts, gemerkt habe. Ein Mann, der das löbliche Werk Eduards Devrient fortsetzen und die Geschichte der deutschen Bühne im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts schreiben will, wird von einer durch Italiener bewirkten Revolutionirung des Schauspielens zu erzählen haben, aber er wird die umstürzende Bewegung an die Namen Ristori, Rossi, Salvini knüpfen müssen. Vor zwanzig Jahren, als Adelaide Ristori, damals schon an der Schwelle des Greisenalters, den Deutschen die düstere Barbarin Medea, die reizende Dulderin Marie Antoinette und die in einen schwachen Frauenleib gebannte Hypnotiseurkraft der Lady Macbeth zeigte, Rossi uns seinen Romeo, Othello, Macbeth und Lear, Salvini seinen Hamlet und Ingomar gab, wurde die schöne Kartonlinie durchbrochen, die so lange in der klassischen Tragoedie den Stil unserer Schauspielkunst bestimmt hatte. Der schmächtigen Frau Duse blieb nichts zu thun übrig und ihre blassen, von Nervenkrisen und Hysterie geplagten Salonpüppchen waren auch viel zu schwach, von Morphiumgenuß im Willenscentrum viel zu sehr zerrüttet, um einen Umsturz wirken zu können. Sie zieht seit Jahren mit Stücken, die von den Modernen mit verächtlich gerümpfter Lippe besprochen werden, durch die alte und neue Welt; und wenn sie, um ihrem Publikum doch einmal Abwechselung zu bieten, nach einer neuen Rolle umhergespäht hat, dann wählt sie Magda, die widrige Hintertreppenheldin des Herrn Sudermann, oder läßt sich von ihrem Landsmann D'Annunzio das bequeme Gewand einer holden Theaterwahnsinnigen zurechtschneidern. Frau Réjane sollte in ihren literarischen Neigungen wenigstens den Modernomanen näher stehen als die schlangenhart zierliche Zauberin aus dem Lande der Goldorangen, denn sie hat in gefährlicher Stunde für Goncourt gekämpft und ist den Trägern der »jungen« Literatur, den Becque, Lavedan, Porto-Riche und Donnay, eine stets zur Hilfe bereite Trösterin geworden. Auch sie hat keine Revolution »gemacht« (in Frankreich, das so viele Revolutionen erlebt hat, weiß man längst, daß sie überhaupt nicht gemacht werden), aber sie hat ihre Kunst entschlossen in den Dienst der Revolutionäre gestellt, denen es damals noch recht schlecht ging, und ihr hell, einem schmetternden Signal gleich, klingender Name wird mit der Bewegung, der die Brüder Goncourt zuerst das Ziel zeigten, eben so fest verbunden bleiben, wie die Namen Talma, Mars und Rachel mit dem klassischen, Frederick-Lemaître und Dorval mit dem romantischen Drama verbunden sind. Als das geistreiche Fräulein Desclée, die erste Frou-Frou und die Freundin des jüngeren Dumas, gestorben war, suchte Zola unter den beliebten Spielerinnen die Dorval des Naturalismus und richtete seine Hoffnung auf Sarah Bernhardt; die in lyrischer Süßigkeit unerreichte Donna Sol, die von der Romantik mit dem ersten, bestimmenden Eindruck geprägt war, erfüllte die Wünsche des großen Epikers nicht: sie ließ sich von Dumas und Sardou locken und halten und spielt heute noch lieber Rostands princesse lointaine, die aus duftenden Schleiern hervorlächelnde Märchenheldin, als die robuste Gervaise, die brünstige Therese Raquin und deren schlimme Geschwister. Erst im Dezember 1888 fand Zola die Gesuchte: an dem Abend, da die Réjane im Odeon Goncourts Germinie Lacerteux lebendig machte.

 

Fräulein Gabriele Réjane übte die junge Kraft als Possensoubrette. Sie war kaum mittelgroß, munter und frech wie ein pariser Taugenichts und mager wie ein Kätzchen, das fleißig nachts die Dächer besucht: leichtsinnige Mädchen und listige Kammerkatzen mußten ihr mühelos gelingen. Damals, um das Jahr 1875, stand Céline Chaumont auf der Sonnenhöhe des Ruhmes und alle Konservatoristinnen träumten davon, der vergötterten Heldin von Toto chez Tata und La petite marquise eines Tages ähnlich zu werden; daß die kleine Gabriele den Parisern einst die große Céline ersetzen und ihren Rollenkreis weit über das Chaumontreich hinaus dehnen könne, ahnte die flinke Anfängerin selbst sicher nicht. Sie hat viel, namentlich als Sprecherin, von dem Vorbild gelernt, und wenn sie die Unerreichbare auf deren eigenstem Gebiet auch nicht erreichte, so schuf sie doch bald ein neues poncif, das nicht weniger gefiel als Célines Frauentypus und früh schon den Blick der beliebtesten Theatraliker auf das werdende Talent lenkte. Sie merkten: der süße Racker ist für listige Zofen und Zwanzigfrancsmädchen zu gut; er kann vielleicht die neue Pariserin, das Modepüppchen der Dritten Republik, leibhaft auf die Bühne stellen. Henri Meilhac, der immer nach neuen Weiblichkeiten umherschnüffelte, hatte auch diesmal wieder die beste Witterung; er gab der rasch wachsenden Schauspielerin, die in Gondinets »Club« und in Richepins »Glu« aufgefallen war, aber noch nicht zu den Lieblingen der Boulevards zählte, die Hauptrolle in seinem feinen Schwank »Décoré«: und hatte sein Vertrauen nicht zu bereuen. Die Réjane fand den ersten großen Erfolg, Papa Sarcey breitete segnend die fetten Hände über ihr pfiffig blinzelndes Köpfchen; die neue Heldin der vie parisienne war entdeckt. Sie brachte Alles mit, was der alternde Meilhac brauchte, ersehnte: die elegante, wenns nöthig war, auch höchst korrekte Haltung, die nun nicht mehr an den Hetärismus des Zweiten Kaiserreiches erinnern durfte, die ironische Grundstimmung, die ihr erlaubte, mit einem Blick, einem aufleuchtenden Ton, einer raschen, kaum merkbaren Geberde die Komik der ernsten und den Ernst der komischen Vorgänge zu zeigen und so zwischen Bühne und Publikum eine stets schmeichelhafte, dem Pariser besonders willkommene Intimität herzustellen, und die behende Laune einer in allen Temperamentsfarben schillernden, über alle Töne und Mienen nach Belieben verfügenden Persönlichkeit. Der erfahrene Meilhac, der sich seit den Tagen der schönen Schneider an mancher großen und kleinen Komoediantin gerieben hatte, wußte den Werth solcher Persönlichkeit zu schätzen; ihm schien in Réjane das parodistische Talent besonders stark und er ließ sie in der vorn Dichter nicht allzu reichlich ausgestatteten Posse »Ma Cousine« deshalb die Künste produziren, die sonst nur auf Montmartre zu bewundern sind. Auch diesmal trog die Berechnung den Schlauen nicht: alle Pariser und erst recht alle Fremden wollten sehen, wie der soignirten Vaudevilleherrscherin der schauerlich freche Tanz der Dame Grille d'Egout gelang. Vorher aber schon war Fräulein Réjane zu helleren Kunsthöhen emporgestiegen, den Warnern, die sie im warmen Thal der gallischen Schwänke zurückhalten wollten, zum Trotz. Alte und junge Freunde, Kritiker, Kollegen und Chroniqueurs beschworen sie, sich auf das gefährliche Abenteuer nicht einzulassen, ihren Ruf nicht in leichtsinnigem Frevel aufs böse Spiel zu setzen, sondern sich im Lande Meilhacs und Sardous auch fernerhin redlich zu nähren. Doch da half nichts: Réjane lachte den Warnern ins bekümmerte Gesicht, legte die zu Stößen geschichteten Briefe säuberlich in den Kasten und erzählte Jedem, ders je hören wollte, sie sei für ihr Stück, ihren Autor und ihre Rolle begeistert und wolle um jeden Preis mitkämpfen, wenn der Naturalismus auf der Bühne die Hauptschlacht schlage. Zu diesem Entschluß gehörte damals immerhin Muth. Edmond de Goncourt, dessen Germinie gespielt werden sollte, hatte sich durch antisemitische und antikapitalistische Regungen bei einem wichtigen Teil des Publikums und durch mancherlei unbequeme Eigentümlichkeiten seines sensiblen Künstlerthums bei den Stimmführern der Presse verhaßt gemacht und die Schauspielerin, die für sein schon vor der Aufführung in den Abgrund verdammtes Werk so hitzig eintrat, mußte die Rache der Mächtigen fürchten. Und war denn sein Stück, das entfleischte Gerippe eines psychologischen Romans, auf der Bühne überhaupt möglich? Würde das geputzte Publikum sich für die Lebensgeschichte des Dienstmädchen interessiren, das sich in einen hübschen Kerl vergafft, im Rausch dumpfer Sinne nur das eine Streben noch kennt, den flatterhaften, lüderlichen Buhlen zu halten, den geliebten Leib fest zu umklammern, und kaum spürt, wie dieser Trieb die Vergiftete in die Tiefe zieht, in Trunksucht, Prostitution und das dunkle, ruchlose Diebsgewerbe? Und war denkbar, daß die Darstellerin mondäner Niedlichkeit für diese Elende, im Maschinenlärm der Großstadt Verkommende die Gestalt, den Ton, die Geberde finden werde?

Nach der Generalprobe schrieb Goncourt in sein Tagebuch: »Oh, eile est merveilleuse, toutle temps, Réjane! Et au moyen d'un dramatique tout simple, du dramatique que je pouvais rêver pour ma pièce. C'est vraiment une actrice!« Am nächsten Abend wurde in diesem Punkt wenigstens sein Urtheil vom Massengericht bestätigt: das Stück fiel und ward mit allen literarischen Ehren bestattet, die Schauspielerin aber erlebte einen Triumph, der an Sarahs ersten Heldinnensieg im Hause Molières die Erinnerung weckte. Die kleine Soubrette Meilhacs fand für die arme Germinie, qui a un gros fonds de tendresse à placer, einen ins Tiefste vordringenden, ganz persönlichen Ton; sie verbannte jede eitle Regung, trat in derben Stiefeln als plumpe, rotharmige Küchenmagd auf: und wieder zeigte sich, daß die in der Possenschule erzogenen Schauspieler, wenn sie Starkes kräftig empfinden, mit ihrer derben, entschüchterten Seele die besten Darsteller der Alltagstragik sind.

Germinie Lacerteux blieb im Bühnenleben der lacertenhaften Réjane eine Episode. Sie kehrte wippend bald in den Salon zurück, trug wieder seidene Röcke, funkelnde Ringe und modische Hüte, war wieder die galante Heldin in der geschniegelten Welt des Snobismus. Aber die Dichter und Direktoren wußten nun, was diese schlanke Frau konnte, und sorgten für Rollen, in denen der ganze Umfang ihres Könnens sichtbar werden sollte. Daudet ließ sie seine entsetzlich wahre Sappho spielen und Goncourt, der sonst nicht so unvorsichtig ist wie sein Kollege Bahr, schrieb verzückt: »Jamais on n'a joué l'amour comme cela;« und Frau Daudet überlegte, ob sie ihren jungen Sohn ins Theater mitnehmen, ihn der ansteckenden Wirkung dieser Fieberbrunst, dieses letzten, verzweifelnden Sinnenbegehrens, aussetzen dürfe. Georges de Porto-Riche gab ihr Amoureuse, Henri Lavedan Viveurs, Maurice Donnay Lysistrata und La Douloureuse; und allmählich entstand so ein neues, dunkler gefärbtes Genre Réjane. Von ihr gespielt zu werden, war der ehrgeizige Traum aller jungen oder Jugend heuchelnden Dichter; denn sie allein schien ihnen modern, sie nur konnte die neue Frau glaubhaft verkörpern. Das merkwürdige, erschreckende Wesen, das diese Herren die neue Frau nennen, ähnelt ein Bischen der guenon du pays de Nod, der Uräffin, von der Dumas, der zärtliche Frauenfreund, warnend einst sprach. Die ist ein sehr sinnliches, sehr skrupelloses, sehr listiges Geschöpf, das nicht an den Herd und nicht in die Kinderstube taugt, Hausfrauenpflicht und Mutterschaft als unerträgliche Last empfindet und nur auf den Mann dressirt ist: auf den bourgeoisen, in allen geilen Lüsten und Lastern der Ohnmacht erfahrenen, in schmutzigen Geldhändeln entsittlichten, in der Treibhausluft der Großstädte verweichlichten Mann, der sich gern eine weiße Luxusbestie mit weichem Fell im parfumirten Käfig hält und wüthend aufheult, wenn die Gefangene die Stäbchen des Gitters durchbricht und draußen dem Geschlechtssehnen Befriedigung sucht. Solche Männer, in denen, nach Nietzsches Wort, des Mannes zu wenig ist, mit Indianerschlauheit zu quälen, am glimmenden Feuer der Eifersucht langsam zu rösten und, wenn der Appetit sich regt, mit Haut und Haar zu verspeisen, daß zwischen den Zähnen die Knöchelchen knacken, ist solchen Frauen höchstes Vergnügen. Manchmal glückt der Spaß, manchmal rafft der Mann die Energiereste zusammen, dünkt sich kraftvoll, während er nur brutal ist, und schlägt die äffische Quälerin zu Boden; immer bleibts aber ein netter, durch seine Fährnisse unterhaltsamer Sport und immer bewahren die Weiber, die doch wissen, daß es um Leben und Tod geht, die ironische Grundstimmung ihrer Wesenheit. Ironie ist der Trost und die Wonne der Müden, denen an der Peripherie der sittlichen Welt die Leuchtfeuer erloschen, die festen Grenzen von Gut und Böse verwischt sind und die nun an nichts mehr glauben, auch nicht an sich selbst, und an den eigenen Gefühlen, Trieben und Leidenschaften neugierig so lange herumklopfen, bis die hohle Stelle gefunden, die tragische Maske zerlöchert ist; dann kichern sie, mit einem Thränchen im Auge, über die Komik der kleinen, schwindligen Bürgerseelen, die auf geliehenen Stelzen in ein Heldenpathos hineinstolziren wollten. Der natürliche, gesunde Mensch kennt und versteht ironische Regungen nicht; wo sie sich melden, muß schon eine Kultur überreif geworden und mit Schimmelgespinnst bedeckt, ein Glaube geborsten, ein Baugrund versumpft sein. Sie zerbeizen mit Laugenschärfe jede Weltanschauung, zerstören die Einheit jedes Charakters und krümmen die große, gerade Linie der Volksepen ins Operettenhafte. Ironie ist die letzte Stütze der dem Tode Geweihten; und wenn gar die Weiber, die Pathetiker unter den zweizinkigen Gabelthieren, ironisch werden, dann hat einer Kultur, die so Unerschautes schuf, schon die Sterbeglocke geläutet. Die jungen französischen Dichter, die von den Brüdern Goncourt, von Stendhal und Flaubert, dem Schöpfer des unsterblichen Paares Bouvard und Pécuchet, abstammen, sind stets bitter und stets ironisch gestimmt und ihre Heldinnen tragen die Spur des väterlichen Geistes. Sieht die neue französische Frau, die berühmte, wirklich so aus? Der alte Sardou, der ein streng Konservativer war und für Sitte und Ordnung schwärmte, hat von der Pariserin gesagt, sie sei launisch und komplizirt, zärtlich, tückisch und treulos, selbstsüchtig und zum schwersten Opfer bereit, als Geliebte ein Kätzchen mit Krallen, als Freundin ein anhänglicher Pudel. Mit dieser Charakteristik soll das besondere Wesen der Réjane bezeichnet sein, die nach Sardous Ansicht die echteste Verkörperung der Pariserin ist; mir scheint, die Beschreibung paßt auch auf ältere Töchter der aus der Rippe Geschaffenen, und ich möchte sagen: Alles Allzuweibliche liegt im Bereich der réjanischen Kunst, der nur die hehrste Hoheit der Heldin und der Vestalin versagt ist. Seltsam, daß man dieser zum Küssen und zum Entsetzen weiblichen Künstlerin, vielleicht, weil sie auch wie ein Schlingel necken und toben kann, den Geschlechtsartikel entzogen hat: sie ist nicht die, nicht Frau Réjane, sie ist Réjane, kurz und bündig. Und doch hat sie ihrem Mann zwei Kinder geboren, nicht ihn nur beglückt und die Weiblichkeit ist ihr stärkster Reiz.

 

Ich sah sie zuerst als Frou-Frou. Das Stück, das Zola noch 1881 une peinture charmante d'un coin de notre société nannte und an dem er die Wahrheit und Feinheit der Beobachtung rühmte, ist uns innerlich fremd; die heiteren Szenen wirken noch frisch, die Sentimentalitäten schmecken wie kostbares Zuckerwerk, das lange im Ladenfenster gelegen und auf dessen Oberfläche sich ein dünnes Staubkrüstchen gebildet hat. Ach, die Zeit vergeht jetzt wirklich zu schnell! Zola fand außer Sarah keine Schauspielerin, die ihm für Frou-Frou modern genug war, und heute rufen unsere Feuilletonfürsten, in diesem verlogenen Stück dürfe eine echte Künstlerin eigentlich gar nicht auftreten. Von Frou-Frou braucht man nur den Bonbonstaub abzukratzen, dann sieht man: das Drama ist gar nicht so unmodern, denn es zeigt, wie unter der determinirenden Einwirkung der Umwelt und ererbter Anlage sich ein Menschenschicksal gestaltet. Die kleine Gilberte Brigard ist ein leichtes Blut (sie hats vom Vater, der noch unter dem weißen Haarschopf für geschminkte Chanteusen erglüht) und wird, weil sie nur für Putz und Tand, für seidene Fähnchen, glitzernden Schmuck und rauschende Schleppen Sinn hat, im Hause kosend Frou-Frou genannt. Keine starke Seele kümmert sich ernstlich um sie, Keiner sucht sie zu bilden, zu stützen, gegen die Fährlichkeiten des Lebens zu stählen. Papa, der die lästigen erwachsenen Töchter gern unter der Haube hätte, treibt an einem lauen Sommerabend seine Jüngste in die Arme eines Mannes, den sie nicht liebt und der sie nicht kennt. Das nannte man damals schon »eine Verlobung«. Die tändelnde Braut wird eine müßige Frau und eine lieblose Mutter, die mit dem Kind nur wie mit einer Puppe spielt, ihm die Brust, deren feine Linie nicht leiden darf, versagt und nur krause Gedanken an Kurzweil und heitere Gesellschaftfreuden im hübschen Vogelköpfchen hegt. Sie nimmt nichts ernst als das Komoedienspiel, das sie in einem Salon »für die Aermsten« veranstalten will, merkt nicht, daß im eigenen Hause die Aermsten wohnen, ihr Mann und ihr Kind (L'Arronge hat aus den Flicken, die Meilhac hier fallen ließ, ein ganzes Familienstück von wohlthätigen Frauen gemacht), und ist sehr erstaunt und beinahe zornig, da sie unter dem Ehedach mählich vereinsamt. Der Mann liebt sie zärtlich, ist aber für den Versuch, sie sich zu erziehen, zu schwach und findet bei der älteren, hausfraulich verständigen Schwester Trost; der Vater denkt nur an seine Tricotdamen und das zappelnde Knäbchen gewöhnt sich, in der Tante die Mutter zu sehen. Nichts bleibt der armen Frou-Frou, in der die Frauensehnsucht erwacht, gar nichts, sie wird verdrängt, ist überall bald entbehrlich und stört, wenn sie einmal nicht auf den Ball gegangen ist, nur die gemüthliche Harmonie der am Kamin froh Vereinten. Das kann das eitle, verwöhnte Kinderherz nicht ertragen. Frou-Frou läuft davon, mit einem munteren Lebemann, der sie schon lange gierig umwirbt. Nun aber rächt sich die Sitte, die immer Recht behalten will, und die Sünderin muß erleben, daß durch ihre Schuld, durch die Schuld einer närrischen, putzsüchtigen, frivolen Frau, ein Familienglück vernichtet und ein blühender Mann blutend und fast schon verröchelnd vom Kampfplatz getragen wird. Unter der Wucht dieses Schicksales bricht die Schwache zusammen und rafft nur noch einmal sich auf, um von dem gekränkten Gatten Verzeihung zu erwinseln. Er vergiebt der hilflos Gewordenen, kindisch Gebliebenen; und Gilberte stirbt selig, mit einem letzten, ohne Bitterkeit hingehauchten Scherzwort über die eigene Nichtigkeit auf lächelnder Lippe, – immer die Selbe, immer Frou-Frou. Das Stück trägt den Stempel des Zweiten Kaiserreiches und Frau Réjane ist geistig ein Kind der Dritten Republik, der resignirten, ironisch gestimmten; ihre sprühende Heiterkeit hat am Rand einen Sprung und kann klirrend im nächsten Augenblick schon in Scherben zerfallen. Ihr fehlt das für Frou-Frou Wichtigste, die naive Unbewußtheit, auf die unsere (für die Tochter des Herrn Brigard freilich allzu robuste) Hedwig Niemann die Rolle baute; aber ihr sicher im Dunklen tastender Kunstinstinkt macht aus der Noth eine Tugend. Diese Gilberte umweht schon im ersten Akt ein fader Fäulnißduft, der uns vom Kommenden die Witterung giebt und später das Staunen erspart; sie hat furchtbar erfahrene Blicke und man merkt: ihr Mund hat ein Früchtchen wenigstens schon vom Baum der Erkenntniß genascht. Aus einem Menschensinn kann nichts hervorwachsen, wozu der Keim nicht in der Seele lag; hier spürt man im Kind schon den Keim und das klinische Bild der Erkrankung wird, nachdem die Giftpilze in den faulenden Organismus gedrungen sind, in lückenloser Logik vor dem zuschauenden Auge gestaltet.

Ein allerliebstes Bild aus dem Siechenhaus sittlich haltloser Weiber. An Grazie, an blitzartig aufzuckendem Witz und technischer Kunst ist Frau Rejane nicht zu übertreffen. Sie ist reizend bei der Theaterprobe, ganz vom Ernst ihrer Sache erfüllt, noch ohne die Spur eines Verständnisses für die wirklich ernste Pflicht ihres Frauenlebens, und rührend, wenn sie all in ihrem Jammer den früh welkenden Leib zum Teppich machen will, über den des geliebten, schmählich beleidigten Mannes Fuß lautlos hinwegschreiten kann, wenn sie aus irren Augen in die kalte Welt starrt und gar nicht begreift, wie um sie, um ein in rauschende Schleppkleider gehülltes Nichts, solcher Streit, so unsägliches Unheil entstehen konnte. Wie sie aussieht? Sie ist nicht hübsch, war es auch in der ersten Jugendblüthe wohl eigentlich nie. Der schlanke, fast hager scheinende Wuchs einer fausse maigre, ein schöner, geschmackvoll ausgestellter Hals, feine, in ihrem Geberdenspiel wunderbar ausdrucksvolle Hände, deren spitze Nägel rosig geschminkt sind, die schlaffen Arme einer alternden Frau. Aus dem blassen Gesicht springt, wie ein dunkler Blutfleck, der Mund hervor, ein sehr großer, sehr sinnlicher Mund mit dicken, begehrenden Lippen, hinter denen ein festes Gebiß, das Gebiß einer Pantherkatze, drohend sichtbar wird; die schmale Nase ist keck nach oben gestülpt und in den Nüstern mit dem Karminstift betupft; in den schwarz umränderten Augen, die unter dem röthlichen Haar noch schwärzer scheinen, funkeln alle Lichter lustiger Laune, ruchloser Bosheit und höllischer Hexenkunst. Sie kann aussehen wie ein Clown und wie eine gefährliche, mit saugendem Blick das Opfer lockende Verführerin; Grisette und Vampyr, Dulderin und Teufelin scheinen. Sie kann aussehen, wie es ihre Rolle verlangt.

 

Sie gleicht als Baronin d'Ange in »Le Demi-Monde« nicht mehr der kleinen Frou-Frou, nicht der fast heldisch frechen, kerngesunden, gegen alle Sitte und prüde Sittlichkeit revolutionären Madame Sans-Gêne. Ich glaube, Dumas hat sich seine Abenteurerin eleganter, stattlicher, damenhafter gedacht, so, wie Rose Chéri und die Croizette sie spielten, wie sie heute noch von den Darstellerinnen der großen, klassischen Koketten gespielt wird. Die Réjane giebt sie ganz als Kanaille, als das Raubthier, die rothe Bestie, die aus finsteren, schmutzigen Höhlen gebrochen ist und sich, nach Beute gierig, nun auf die prassende Gesellschaft stürzt. Diese Susanne kämpft um die Anerkennung, um ihr Bürgerrecht im hellen Licht des Reiches, in dessen verschwiegenen Winkeln sie bisher nur, als ein für Jeden käufliches [Lustobjekt], still geduldet wurde. Ein gütiger Freund hat sie aus dem Schlamm gezogen, sie glänzt seit Jahren im Kreis der Entgleisten, beglückt mit ihrem Reiz und ihrem behenden, anschmiegsamen Geist die Männer aus der Oberschicht, die in der Nähe auch nicht ganz reinlich riecht noch zweifelsohne aussieht, und will nun den letzten Schritt wagen, den schweren Schritt in die ehrbare Bürgerlichkeit. Sie kämpft athemlos, mit Nägeln und Zähnen, mit List, Gewaltthat und Betrügerkunst, um den Mann, der sie endlich legitimiren, mit seinem Namen die unsaubere Spur ihres Ursprunges verdecken soll: sie wird diesen Mann glücklich machen, wird so sittsam sein wie andere Frauen: und sieht sich, da sie das Ziel schon erreicht zu haben wähnt, um den Preis des verzweifelten Ringens geprellt. Ihr alter Liebster, dem sie doch unbezahlbare Wonnen gespendet hat, tritt zwischen sie und ihr Glück, die Ehrbaren, Tugendsamen schließen den schützenden Ring und sie, die Ehrlose, bleibt draußen, bleibt in der Kälte, dem rauhen Novembersturm eines Lebens ausgeliefert, das über den Scheitelpunkt längst hinausgeführt hat und schon zum Abend neigt … Man müßte das ganze Stück, das in den ersten Akten ein blankes, glänzendes Meisterwerk seiner Gattung ist, erzählen und lange bei jeder Szene verweilen, um einen Begriff von der reifen, der thierisch klugen Kunst zu geben, die Frau Réjane, Schritt vor Schritt, bot. Jeder Ton, jeder rasche Blick, jede leiseste Geste war vorher genau berechnet und überlegt und schien doch in der Eingebung der Sekunde entstanden. Und das Unwahrscheinlichste wurde wahr: die abenteuernde, tückisch schweifende Bestie listete uns Mitleid ab und unser feinstes Menschengefühl war mit ihr, als sie dem alten Liebsten, der ihr, mit plötzlich erwachter Ehrenmännermoral, nun die legitimirende Liebe wehren will, unter Thränen zornig das echte Dumaswort entgegenrief, daß jeder Mann ewig der Schuldner des Weibes bleibt, das ihn liebend einmal umklammert hat, und nie, niemals ihr Opfer vergelten kann. Später erst, da der Eindruck verwischt war, dachte man der niedlichen Sophistik der kleinen Dame nach, die aus der Hingebung ihres Leibes seit Jahren schon ein Geschäft gemacht hatte.

So ging mirs auch in Donnays »Douloureuse«; auch hier wurde das Empfinden eine Weile verwirrt und fand sich nur langsam zurecht. Das in der Dumasschule locker gefügte Stück ist unbeträchtlich; hübsche, geistreich vorgetragene Beobachtungen, wie Maurice Donnay sie früher dem Publikum der Vie Parisienne allwöchentlich kredenzte, sind um eine große, stark wirkende Szene gereiht; dem Ganzen fehlt die Einheit, das dramatische Leben, aber es beleidigt nicht, wie manche berühmte Leistung unserer Kneipendichter, und plaudert allerlei lustige und ernste »Wahrheiten« über das Wesen der für die Gesellschaft und in der Gesellschaft erzogenen französischen Frau aus. Ein schnöder Spekulant hat ein Dutzendmädchen gekauft oder, wie man gesitteter sagt, geheirathet und die schlimm Gepaarte verliert sich aus Langeweile in schwüler Stunde an einen in der Erlegung jagdbaren Wildes erfahrenen Mann, der sie zur Mutter macht. Der Gatte merkt nichts; er steckt bis an den Hals im Panamasumpf. Aber die fromme und doch treulose Helene langweilt sich wieder, noch mehr als vorher, seit sie mit dem ersten Liebhaber ausgespielt hat, und nimmt, wie es in solchen Fällen bei schönen Sünderinnen der Brauch ist, einen zweiten. Diesmal ists eine ernste Leidenschaft. Der Zweite ist ein berühmter Künstler, ein versonnener, bei Weibern nicht sehr aktiver Herr, der sich nehmen und lieben läßt und, wenn die Traute ihn zärtlich küßt, für sein geduldiges Stillhalten noch Dank zu heischen scheint. Der Panamist wird ertappt, erschießt sich: Helene ist frei und kann ihren Philippe vor der Welt nun bald als Gatten umarmen. Da, als die Vorbereitungen zur Hochzeit schon fast beendet sind, erfährt der Bräutigam den ersten Fehltritt der Geliebten; er hat sich, bequem, lauwarm und geduldig wie immer, von Helenes Freundin verführen lassen (nichts Ernstes, mein Gott, nur so zur Probe, zum Zeitvertreib): und die herzige Dame, die natürlich auch im Ehebund schmachtet, hat ihm das Geheimniß ins Ohr geraunt, um vor dem Abschied noch sein Glück zu vergiften. Der Mann, der selbst erst eben gesündigt hat, kann über die frühere Sünde der Frau nicht hinweg. Nie. Der endlich aus einer müden Passivität Gerissene brüllt der Erbebenden seinen ganzen Groll ins Gesicht. Aber er verräth sich: nur die Freundin kann ihm das Geheimniß zugetuschelt haben, kein anderer Mensch kennt es; und nur einem Liebhaber sagt eine Frau solche Dinge. Und nun beginnt die Auseinandersetzung, die große Szene, um die das Stück geschrieben wurde …

Man erlebt in der Alltagswirklichkeit selten »Szenen«, aber Verliebte erleben sie manchmal; und wie sie roh dann in ihrer Leidenschaft rasen, mit Lust in schmerzenden Wunden wühlen und nicht eher ruhen, als bis sie ganz morsch sind, zerkratzt, kraftlos und zerrüttet: Das hat der Dichter ohne Tünche nach Erlebtem geschildert. Der Mann beschimpft die Frau, die Frau den Mann, Eins sucht das Andere an Brutalität zu überbieten, jeder alte Vorwurf, der längst eingesargt schien, wird hastig hervorgekramt, – und schließlich brechen Beide, erschöpft, mürb, leer, entgeifert, zusammen und mühen sich, mit zitternden Nerven, die muthwillig einander geschlagenen Wunden, so gut es geht, zu verbinden. Donnay hat seine Szene ironisch beleuchtet. Frau Helene ist zum Diner eingeladen; und nun ist ihre Frisur zerrauft, das Gesicht geschwollen und von Thränen geröthet, die ganze kunstvolle Herrichtung der Weltdame durch den unerwarteten Ausbruch thierischer Leidenschaften zerstört. Die kleinen mondänen Sorgen melden sich. Zu einer Absage ist es zu spät. Schnell die Quaste, ein Bischen Puder, ein paar Striche mit dem Taschenkämmchen, ein Tropfen kühlenden Wassers. Zur Noth wirds so gehen. Der Liebste hilft ihr in den schweren Pelzmantel, stopft sorgsam, als gebe es nichts Wichtigeres auf der weiten Welt, die modisch gebauschten Aermel des Kleides in die warme Hülle; und die Frau wankt, mit müdem, zärtlichem Gruß, hinaus und wird in einer halben Stunde lächelnd, munter mit ihrem Tischnachbar plaudern. Was Frau Réjane hier gab, hatte ich noch auf keiner Bühne gesehen. Ihr hilfloses Schluchzen, das Keuchen der wunden Brust, die aus den tiefsten Geschlechtsgründen hervorbrechende brünstige Wuth, der unstillbare Thränenstrom, der wirklich, nicht zum Bühnenschein nur, ihr Gesicht verheerte und sie in fünf Minuten um zwanzig Jahre gealtert aussehen ließ: nur ganz große, die Natur zwingende Kunst vermag solche Wunder. Wie der menschliche Automat sich wieder zu regen und in die Wirklichkeit und ihre kleine Gesellschaftpflicht zurückzufinden begann, wie aus Schmerz und Zorn Zärtlichkeit wurde, neue, gesänftigte, nicht mehr hitzig, selbstsüchtig begehrende Zärtlichkeit: Das zu sehen, an lebendigem, warmem Fleisch zu fühlen, mußte dem Psychologen ungeahnten Genuß bereiten. Wieder wurde das Empfinden zunächst in die Irre geleitet, wieder litt man fiebernd mit einer Frau, die, in ihrer Haltlosigkeit, doch nur gerechte Vergeltung empfing; wieder aber währte der Irrthum nicht lange. Frau Réjane putzt die wurmstichige Schwäche nicht zum Heldenthum heraus; schwindelt uns ihre sittlich kranken Geschöpfe nicht für gesunde auf. Ich war von dem falschen Pathos ihrer Helene im ersten Akt überrascht und merkte erst später, wie fein ihr Gefühl sie auch hier wieder geführt hatte: Frau Helene kennt den Ausdruck der Leidenschaft nur aus dem Theater, von den klassischen Abenden der Comédie, und lernt erst im wehen Zusammenbruch ihres ganzen Wesens wahr und schlicht fühlen. Ob es Frau Gabriele auch so ergangen ist?


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