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Nikolai Alexandrowitsch.

Nikolai Alexandrowitsch sitzt in seinem petersburger Palast und besinnt, mit wunden Nerven, die Maitage seines Lebens. Dem Knaben, dem Jüngling brachte jeder Maimond die Kinderlust der Geburtstagsfeier. Den zweiundzwanzigjährigen Thronfolger schickte der Vater in die weite Welt; und am elften Mai 1891 wurde der Großfürst Nikolaus in Otsu, nah bei Kioto, von einem japanischen Polizeisoldaten am Kopfe verwundet. Warum? Er hatte Keinen gekränkt, keine Rachsucht herausgefordert. Was trieb den Mann, den Beamten, der den fremden Prinzen bewachen sollte, zu tückischem Mordversuch? Nikolaus fragt; und vernimmt, daß Japan, Adel und Plebs, die Moskowiter haßt. Seit sie, vom Amur her, an die Küste kamen und dem Hafenplatz, den sie der schwachen Mandschurendynastie abgetrotzt hatten, den stolzen Namen Wladiwostok, des Ostens Beherrscherin, gaben. Seit sie, im Lenz 1875, die Japaner zwangen, ihnen Sachalin, die alte Ainoinsel, zu überlassen. Seit sie gar, ungefähr um die selbe Zeit, lüstern nach Korea hinüberzublicken begannen. Rußland hatte vor zweihundert Jahren die Riegel gebrochen, hinter denen das Morgenland Nippon traumlos schlief, und, wider des Tenno, des Kaisers, Befehl, dem Inselreich einen Handelsverkehr aufgenöthigt, der den Feudalstaat sacht in die Wirbelstürme kapitalistischer Weltwirthschaft riß. Rußland plant einen Eisenstrang, der seine Waaren, seine Geschütze und Truppen bis ans Japanische Meer führen soll. Am Ussuri hatte vor dreißig Jahren, unter der Führung Nikolais Ignatiew, Rußlands Erobererzug ins Ostasiatenland angefangen; und Nikolai Alexandrowitsch sollte jetzt den Bau der Ussuri-Bahn feierlich weihen. Wars nicht eine gute Patriotenthat, diesen Prinzen zu töten, dem »Feind aus Norden« den Thronanwärter zu rauben? Der Bedrohte kommt mit einer leichten Wunde davon; wird drei Jahre später Herr aller Reussen und zieht 1896 an die Moskwa, um sich auf Mütterchens heiligem Boden als Monomachos zu krönen. Wieder ein Maitag; der vorletzte nach unserer Rechnung. Aus allen Teilen des Riesenreiches ist die Menge zusammengeströmt, um den neuen Zaren zu sehen, den jungen Erben der Hordenkhane und Palaeologen, der morgen sich seinem Volke vermählen will. Hunderttausend lagern unter freiem Himmel; in plumpen Bastschuhen, auf zerfetzten Fußlappen sind sie herbeigeeilt, um das große Symbol zu schauen, den geweihten Krönungbecher als Fetisch heimzutragen. Uebers Chodynkafeld schallen Choräle; Meßbuden, Musikbanden, Jahrmarktsvergnügungen locken ringsum und den Hirnen entflackert irre Begeisterung, die nur in islamischer Vorstellungzone wachsen konnte. Endlich schlägt die Feierstunde. Die Ungeduld der übernächtigen, von Inbrunst und Wodka bis zum Taumel trunkenen Masse bricht in hitzigem Anprall die Schranke, stürmt wie in Fieberraserei vorwärts: und steht nach wildem Lauf wie von jäher Lähmung gebannt, vom grausen Geheul aufgehalten. Dreitausend Menschen werden im Drang von den Volksgenossen überrannt, zertreten, erdrückt, zu blutenden, im Koth dampfenden Fleischklumpen zerstampft; vielleicht viertausend. Niemand erfährt die richtige Ziffer, Niemand je des Unheils wahre Ursache. Auch der Zar nicht. Doch an diesem Maimorgen lernt der weichmüthige Sohn des Eisenkopfes erkennen, vor welche Aufgabe er gestellt ward. Die Beamtenschaft, der Tshin, ein morscher, selbständigen Wirkens unfähiger Körper; und hundert Millionen kindischer, ohne Hemmungnerv hinvegetirender Menschen. Als er die letzte Thräne getrocknet hat, sucht sein dunkler Sinn ein Mittel, das Heilung verheißt. Arm und roh ist das Russenvolk; wer ihm die schwere Rüstung vom Nacken nähme, würde das Leid gewiß lindern. Die Milliarden, die der Wehrkraft geopfert werden, könnten die Scholle düngen; und aus keiner Kaserne brächte der Mushik dann neue Roheit auf die schwarze Erde heim. Lieblich klingt die Schalmei. Und an einem Maitag wird im Haag die Friedenskonferenz eröffnet. 1899; von einem Murawjew. Dessen Ahn hatte 1858 dem Chinesenkaiser den Amurbezirk abgezwungen. Jetzt war hellere Zeit. Keinen Krieg mehr; nicht neue Rüstung: der Weiße Zar will den Frieden. Im Osten zieht sichs wieder zusammen? Seid getrost: der Wink des Kreuzszepters verscheucht das schwarze Gewölk. Nikolaos, dessen Name den Sieg weist, ist der starke Bürge des Friedens … Wieder ist Mai. Ein Krieg, wie ihn das Russenreich nie noch zu führen hatte, seit den Warägertagen nicht, hat Tausende schon gefällt, unermeßliche Werthe zerstört, den Schrecken, der von der Zarenmacht ausging, in Osten und Westen gemildert, fast völlig getilgt. Und der Sturmschritt des Sieges hat die gelben Männer schon bis an die Wälle von Port Arthur geführt.

Zwei Maitage sah Nikolaus nicht; und gerade ihr Anblick konnte den Aberglauben entwaffnen. Wer wach ihrer gedenkt, sieht hinter Nebeln den blanken Stahlglanz der Kausalkette aufblitzen. Die Straße von Tschili trennt Port Arthur von der Hafenstadt Tschifu. Sie war, im Lenz 1893, der Schauplatz des Vorspiels zu dem Historiendrama, das uns der Ost sehen ließ. Von Nagasaki her waren seit den letzten Apriltagen russische Kriegsschiffe gekommen. Panzer, leichte Kreuzer, Kanonenboote; schon warens mehr, als England selbst in diesen Gewässern hatte. Auf der Rhede von Tschifu machten sie klar zum Gefecht; Holzwerk, Teppiche, Möbel, Vorhänge, Alles, was einen Brand rasch verbreitet, wurde über Bord geschafft. Und wer an Deck die geschäftige Hast sah, mußte glauben, spätestens morgen solle ein Kampf auf Leben und Tod beginnen. Doch kein einziger Schuß fiel. Im Beach-Hotel wurde Alles hübsch still abgemacht. Da saßen, im drawingroom, russische, britische, deutsche Admirale neben Chinas und Japans Bevollmächtigten um den Tisch. Drei Wochen vorher hatte der kurze Krieg geendet, in dem Chinas Wehrlosigkeit, Japans wilde Jugendkraft enthüllt worden war. Rußland, Deutschland, Frankreich hatten sich verbündet, um die Auslieferung der im Friedensvertrag von Shimonoseki den Japanern versprochenen Kriegsbeute zu hindern. Wenn Japan auf der Liau-Halbinsel herrscht, ist Peking bedroht und Koreas Unabhängigkeit nur noch leerer Wahn. Das erklären die Vertreter der drei Großmächte in Tokio; und fordern, daß die Japaner aus Liautung abziehen und schnell besonders Port Arthur räumen. Die Männer von Nippon zaudern. Auf der Halbinsel ist das Blut ihrer Brüder geflossen; sie haben Port Arthur erstürmt: und sollen auf den werthvollsten Kampfpreis nun verzichten? Doch Rußland spaßt nicht; blickt lüstern nach Korea, braucht einen eisfreien Hafen und hat, seinen Willen durchzusetzen, wirksame Mittel. Kriegsschiffe überzeugen schneller als Diplomatengerede. Deshalb ist das starke Geschwader vor Tschifu versammelt: ists nöthig, so sprechen die Batterien. Ueberall sieht man russische Uniformen; als herrschte am Golf von Tschili schon der Reussenzar. Am zehnten Mai 1895 fiel im Beach-Hotel die Entscheidung. Mit rothem Stift hatten die Russen auf der Landkarte den Bezirk eingezäunt, den Japan herausgeben müsse. »So will es mein Herr; und hat mir befohlen, die Weigerung mit Waffengewalt zu strafen.« Dieses Wort des russischen Geschwaderchefs treibt die kleinen Japaner von ihren Sitzen. War solche Willkür möglich? Ihr Schlitzauge umfliegt angstvoll die Tafelrunde. Spricht keine Stimme hier für die gerechte Sache des Siegers? Keine. Der britische Admiral hebt mit kühlem Lächeln die Schultern: dieser trade interessirt ihn nicht sehr und im Augenblick ist gegen die russische Landmacht nichts anzufangen. Das weiß der Moskowiter; er wirft seinen Degen auf die Karte, daß der Tisch dröhnt, und fragt noch einmal: Ja oder Nein? Die Gelben behorchen einander mit raschem Blick. Gegen solchen Ueberfall ist ihr Land nicht gerüstet: sie müssen nachgeben. Sie werden Port Arthur räumen; aber erst, wenn China die zunächst fälligen dreißig Millionen Taels bezahlt hat. Doch Rußland hat Eile. Noch im Mai ist Herr Rothstein, der Direktor der petersburger Internationalen Bank, in Paris und schließt, in Wittes Auftrag, einen Anleihevertrag, der den Chinesen, unter russischer Bürgschaft, vierhundert Millionen Francs sichert. Da das stets von Bargeldnoth bedrückte Zarenreich nicht ohne listige Hintergedanken für einen Anderen Hundertmillionen erbettelt, wußte seit diesem Maitag die weiße und gelbe Welt, daß Rußland dem armen Himmelssohn bald einen (gewiß nicht allzu schmalen) Reichszipfel entreißen werde. Und die Japaner wußten seit dem zehnten Mai 1895, daß Liautung, daß namentlich Port Arthur das Ziel moskowitischen Sehnens war und daß sie mit den Zwirnsfäden des Völkerrechtes diesen zähen Drang niemals binden würden. Welches Recht wirkt, hatten sie erkannt, als der russische Kommandant seinen Degen auf den Tisch warf. Ein Hitzkopf und Draufgänger, der Pulver und Blei für sich reden läßt. Er hieß Makarow … Ihm und seinem Admiralschiff, dem »Petropawlowsk«, hat eine von den Japanern gelegte Mine den Untergang bereitet; fast auf den Tag neun Jahre nach dem Friedensschluß von Shimonoseki, um dessen Frucht Makarow Jung-Nippon geprellt hatte. Die Schmach von Tschifu ist gerächt. Rußlands Flotte ist einstweilen zur Ohnmacht verdammt, Rußlands Heer am Yalu und bei Kintschu geschlagen. Und die gelben Männlein stehen mit schwerem Geschütz dräuend vor Port Arthur.

Da herrscht nicht mehr der träge Sohn des Himmels; nicht gegen Gleichfarbige, wie im ersten Krieg um Liautung, haben die Japaner jetzt ihr Feldgeschütz zu richten. Die drei Großmächte, die China im Lenz des Jahres 1895 so selbstlos beschützt hatten, sahen nach und nach ein, daß Uneigennützigkeit in unserer argen Welt nicht viel höher als Dummheit gilt. Sie heischten Lohn. Im April 1896 unterzeichnen Lobanow und Li-Hung-Tschang in Petersburg einen Vertrag, der den Russen Port Arthur und die Kiautschau-Bucht als Flottenstützpunkte überläßt. Die Russisch-Chinesische Bank wird gegründet. Rußland darf seinen Bahnstrang durch die Mandschurei legen und von dort in Garnisonen untergebrachten Truppen, Fußvolk und Reitern, bewachen lassen. Zwei Jahre nach Shimonoseki sitzen die Moskowiter fest in der Halbinsel, die sie Japan abgejagt haben; und der Erwerb hat sie kein Pulverkörnchen gekostet. Ein hübscher Erfolg, der dem Grafen Bülow beweisen konnte, daß man, auch ohne »vom Leder zu ziehen«, reiche Länder zu erobern vermag. Als er 1897 aus Rom kam, schien ers zu wissen. In Schantung waren zwei deutsche Missionare ermordet worden. Kiautschau wurde von unserer Marine besetzt, der ganze Bezirk später dem Deutschen Reich verpachtet. Der selbe Bezirk, den Li zwei Jahre vorher den Russen zugesagt hatte. Nicht nur an der Newa wurde man unruhig. Strebt Deutschland nach der Vormacht am Gelben Meer? Will es den ostasiatischen Handel an sich reißen? Neun Tage schon nach dem Abschluß des Kiautschau-Vertrages hatte Rußland das Pächterrecht auf Port Arthur und Talienwan erworben und neue Eisenbahnprivilegien erhascht, die seinem breiten Schienenstrang an der Küste zwei wichtige Endpunkte sichern. Nun war kein Halten mehr. England nahm Weihaiwei, Frankreich die Kwangtschu-Bucht. Japan bekam nichts; und knirschend sah das Volk des Sonnenaufgangs dem Ende der großen Aktion zu, die in Tokio und Tschifu mit der Nothwendigkeit begründet worden war, das chinesische Reichsgebiet vor Zerstückelung zu bewahren. Jetzt hatte jeder selbstlose Schützer sein saftiges Stück.

Sachalin war längst, nun auch die Hoffnung auf die Südmandschurei den Japanern verloren. Sollte die Zarenmacht ihnen gar noch Korea rauben? Um die Insel aus chinesisch-russischer Vormundschaft zu lösen, hatten sie 1894 den Krieg geführt und den Kaiser von China zum Verzicht auf sein Lehnsherrnrecht gezwungen. Korea war unabhängig; und wurde heimlich vom Tenno regirt. Nicht heimlich genug; im Siegerstolz hatten die klugen Leute von Nippon das rechte Augenmaß für das jetzt schon Erreichbare verloren. Sie mordeten die widerspenstige Kaiserin, behandelten den verängsteten Kaiser als Staatsgefangenen. Diesen Fehler nützten die Reussenagenten schlau. Eines Tages hörte Europa, der Kaiser von Korea sei den japanischen Wächtern entschlüpft und habe bei Rußlands Gesandten in Söul Obdach gefunden. Wieder ein Maitag; der vierzehnte des Jahres 1896: Rußland und Japan schließen einen (später von Lobanow und Yamagata unterzeichneten) Vertrag, der Koreas Unabhängigkeit abermals feierlich verbürgt, die Rechtsansprüche auf öffentliche Arbeiten abgrenzt und beide Kontrahenten verpflichtet, ihre Schutztruppe auf der Insel nicht über die Präsenzziffer von tausend Mann hinaus zu erhöhen. Solche Verträge waren für Rußland stets die societas leonina des Cassius Longinus: allen Vortheil dem erhabenen Gossudar, dem Anderen einen gestempelten Papierfetzen. Auch auf Korea hätten die Uebergriffe der petersburger Legaten schon früher zu offenem Kampf geführt, wenn der Eifer nicht durch den mandschurischen Pachtvertrag gekühlt worden wäre. Wer Port Arthur hat, kann auf Korea verzichten; so dachte man damals und ließ die Insel ruhig den Japanern. Die sind ja nicht ernsthaft zu fürchten. Die müssen gehorchen, wenn der slavische Riese winkt. Makaken nannte man sie noch bis vor wenigen Wochen in Nikolais Reich; nach den in Ostasien heimischen gemeinen Schmalnasenaffen, die aussehen, als seien sie auf der Entwickelungstufe zwischen der Meerkatze und dem Pavian stehen geblieben. Die Putzigen mögen sich getrost auf Korea austoben.

Der Boxerkrieg löste die Binde von allen Augen, die nicht blind sein wollten. Und ungefähr um die selbe Zeit regten sich in Petersburg, in Moskau und Wladiwostok neue Tendenzen. In der Mandschurei hatten Fabrikanten, Lieferanten, Spekulanten ungeheure Summen verdient und ertrogen; an dem Bahnbau, den Festungwerken, der aus dem Boden gezauberten Wunderstadt Dalny. Dieser Segen ging nun mählich zu Ende; und die Geschäftsleute und Schwindler schnüffelten nach neuer Geldmachergelegenheit. Wenn man die Bahn bis in den Hafen von Fusan führen könnte; mitten durch Korea! Die Insel soll Erz, Kohle und Kupfer in Fülle haben; Manche sagen gar, ihr Schoß berge Silber und Gold. Da wäre Etwas zu holen. Und warum nicht? Ja, wiederholten die in Liautung angesiedelten Russen, warum nicht? Eigentlich gehört Korea zur Mandschurei; wir hättens längst nehmen sollen. Port Arthur genügt nicht. Und wer will uns zwingen, am rechten Ufer des Yalu zu bleiben? Wie in aller Kolonialgeschichte so oft schon, verbündete Geldgier sich stolzem Nationalgefühl. Korea wurde wieder das Ziel russischer Expansion. Und jetzt folgt Streich auf Streich. Im Amurgebiet wird der Admiral Alexejew als Statthalter des Kaisers eingesetzt und sein erstes Diktatorwort sagt: »Wir bleiben, bis wir erreicht haben, was wir wollen.« Die Yalu-Gesellschaft fängt, unter der Leitung des Herrn Günsburg, plötzlich an, auf Grund einer Jahre lang unbenutzten Konzession die koreanischen Wälder abzuholzen, und ruft, zum Schutz ihrer Arbeiter, Kosaken ins Land. Soll das alte Spiel sich etwa erneuen? Die Japaner sind nicht länger zu halten. Sie fühlen sich; wissen, was sie seit dem schmählichen Tag von Tschifu geleistet, getragen haben. Unter der Last der neuen Steuern hat sich in Tokio das Leben in zwei Jahren ums Fünffache vertheuert; und Niemand murrt. Das Geld war ja nöthig. Die Organisation des Landheeres mußte verbessert und nach einem vorsichtig erwogenen Plan eine Flotte gebaut werden, die den Japanern unter ihrem Himmel die Vorherrschaft zur See sichert. Vor dem Eingriff einer dritten Macht schützt das mit England geschlossene Bündniß. Diesmal soll der Feind aus Norden uns nicht niederzwingen. In der Mandschurei sitzt er nun einmal. Das ist schließlich Chinas Sache. Doch er will auch Korea und hält uns nur mit Ausflüchten hin, bis er eine Armee herbeigeschafft hat. Wir können nicht, dürfen nicht warten. Rache für den Tag im Beach-Hotel! Unser Rothstift umrändert jetzt den verbotenen Bezirk und wir werfen das Schwert auf den Rathstisch. Die Regirenden zaudern zwar, ihr Bedenken wird aber von der Volksleidenschaft überschrien; und ehe der Allerhöchste es noch zu wünschen wagt, spricht schweres Schiffsgeschütz in des Tenno Namen.

Auch Nikolai Alexandrowitsch wollte den Krieg nicht; nicht um den Preis höchsten Siegerruhmes. Noch am vierzehnten Januar 1904 sagte er zu dem versammelten Diplomatischen Corps, er sei fest entschlossen, den Frieden am Gelben Meer zu erhalten; und sein Herz war bei dem Entschluß. Am eigenen Jünglingsleib hat er, in Otsu, den Russenhaß der verhöhnten Makaken gefühlt, auf dem Chodynkafeld, als er zum ersten Mal die Krone trug, sein Kindervolk erkennen gelernt. Und ließ blind sich dennoch den Abhang hinunterschleifen. Für dieses Einen Blindheit bluten Zehntausende. Denn er ist Herr über Leben und Tod, Gossudar und Papst der Griechenkirche, ist, so spricht die gesalbte Popenschaft, von Gottes Gnade zum höchsten Hirten erwählt.

Wjatscheslaw Konstantinowitsch Plehwe, der einzige Minister, auf den dieser Gesalbte noch hörte, wurde im Hochsommer durch eine Dynamitbombe getötet. Er hatte solches Ende gefürchtet und, um ihm zu entwischen, den Schein der Lächerlichkeit nicht gescheut. Die Kutsche, in der er fuhr, war gepanzert und von einer Schutzmännerschar umzingelt; Radfahrer, Reiter, manchmal ein Automobil: vorn, hinten, rechts und links eine lebende Hecke. Und zwischen Revolvern und Säbeln, dem Blick unerreichbar, kauerte hinter den kleinen Fenstern der rollenden Festung der stämmige Mann mit der früh verwitternden Fassade eines Riesen und dem Otternauge im Kopf eines schönen Jaguars. So zeigte, so verbarg Seine Hohe Excellenz sich dem rechtgläubigen Volk. In den Ministerialbureaux wurde er ausgelacht, wurde, wenn kein Lauscher in der Nähe war, spöttisch gefragt, ob der Tyrannenspieler sich denn nicht schäme, seine Furchtsamkeit am hellen Tag durch die Straßen zu fahren. Nein. Er schämte sich nicht. Wie Philipp der Sechste, der gekrönte, bei Crecy schmählich geschlagene Tropf, hielt auch dieser Heldenposeur sich für den von der allweisen Vorsehung zum Retter des Vaterlandes auserwählten Mann; die Panzerplatten schützten la fortune de la Russie. Jeder sollte sehen, daß im weiten Reussenreich kein Anderer so gefährdet, gefürchtet ist wie Wjatscheslaw Konstantinowitsch Plehwe. Warum? Weil Keiner mit so eifernder Treue dem Selbstherrscher dient. Das mußte auf den Kaiser wirken. Wirkte auch; Nikolais irritabler Sinn war von solcher Hingebung gerührt. Nützen konnte der Apparat freilich nicht. Wer bereit ist, sein Leben zu opfern, kann aus der dichtesten Leibwache Einen reißen und auf den dunklen Weg mitnehmen. Hundertmal ward erwiesen, daß weder uniformirte noch geheime Schutzmannschaft einen vom Fanatismus Bedrohten schirmt; tausendmal, seit Harmodios und Aristogeiton den Peisistratiden trafen. Doch sollte Plehwe etwa aus der Geschichte lernen? Den Schulmeister hätte er ausgelacht.

Vor hundert Jahren hatte Rußland einen Reichshistoriographen, der Karamsin hieß und der wachsenden Panslavistengemeinde die Bibel gab. Dieser orenburger Asiat, den Speranskijs Modespielerei ärgerte, schrieb, von Verfassungfiktionen, von der allergeringsten Einschränkung der Selbstherrlichkeit dürfe einstweilen nicht die Rede sein, und warnte, in einem Volk von Analphabeten künstlich Bedürfnisse zu wecken, die ungestört noch Jahrhunderte schlummern könnten; nur in schleuniger Rückkehr zur nationalen Ueberlieferung sah er das Heil. Hätte Plehwe auch nur ein Fünkchen solchen Gefühles gehabt: man müßte den Hut vor ihm ziehen. In den Nekrologen der Hasser ähnelte er einem Karamsin, erinnerte er beinahe an die geniale Askanierin, die im Klima des Russenislams so rasch heimisch ward. In der gemeinen Wirklichkeit sah er ganz anders aus. Nichts von dem Temperament, der leidenschaftlichen Ueberzeugung Katkows, von der starken Intelligenz Pobedonoszews, die alles erreichbare Wissen umfassen wollte, um es als nichtigen, dem Frommen abscheulichen Tand zu verschreien. Plehwe hat nie eine Sache gewollt; immer nur sich, seine carrière. Nicht einmal im Traum kam ihm der Gedanke an die einzige ernsthafte Revolution, die in Rußland möglich scheint: die slavische Jacquerie, den Aufstand der dumpfen Masse gegen die dünne Front der westwärts schielenden Intellektuellen. Das hätte ihm gar nicht gepaßt. Er übertyrannte den Tyrannen, griff unstet hierhin und dorthin, kränkte und hetzte Finen und Polen, Armenier und Juden, kürzte Professoren und Studenten, Bauern und Fabrikarbeitern das Bischen Lebensrecht und ließ kein Tadelswörtchen eines Zeitungschreibers ans Licht. Aber er wollte beliebt sein, Rühmliches über sich lesen und zitterte vor dem Fluch der Unpopularität. Gab sich für einen philosophischen Kopf, einen Hegelianer der alten Staatsschule, aus und hatte stets Muße, wenn er hoffen durfte, einen Journalisten, vielleicht gar einen aus Paris oder London, zu einem Lobliedchen beschwatzen zu können. Kein Reaktionär, sondern ein Streber. Woran er glaube, wußte Niemand genau; kaum, woher er eigentlich stamme. Pole oder Deutscher, Katholik, Kalvinist, Orthodoxer? Jedenfalls kein reiner Russe; und ohne die in einer sauberen Kinderstube empfangene Tradition. Um so kräftiger mußte er, wenn ers zu was bringen wollte, an seine Patriotenbrust schlagen, um so lauter den Segen ehrwürdiger Ueberlieferung preisen. Die Rolle des Liberalen hätte ihm mehr behagt. Da im Augenblick aber gerade eine eiserne Faust gesucht wurde, mußte der Polenpflegling sich in die Zeit schicken, den starr Konservativen spielen und die Riesenfassade dick mit Eisenfarbe anstreichen.

Die Berufspflicht hatte ihn an Gehorsam und zugleich an Härte gewöhnt. Er war Staatsanwalt, hatte den Alltagsverbrechen und den Verschwörungen der Nihilisten nachzuschnüffeln, mit listigen Advokaten um die armen Sünder zu raufen; und machte seine Sache so gut, daß er unter dem Heerdenvieh bald auffiel. Die Nase eines Spürhundes und die flinke Zunge Reinekes, der vor Nobels Thron um Gerechtigkeit fleht. Polizistentalent und Beredsamkeit: so köstliche Gaben konnten nicht unbelohnt bleiben. Loris-Melikow (Menschenkenntniß war nie die starke Seite der Liberalen) ließ ihn zum Departementchef im Ministerium des Innern ernennen. Jetzt hieß es, vorsichtig sein, um jeden Preis sich auf der ersten Sprosse der Ehrenleiter halten und, ohne den Neid böser Nachbarn zu wecken, sacht höher klettern. Plehwe hats erreicht. Er stieß nirgends an, wurde nie lästig, war unter drei Kaisern, drei scharf von einander geschiedenen Regirungsystemen immer mit dem selben Eifer am Werk. Aus dem dunkelsten Schlupfwinkel scheuchte er die Verdächtigen auf. Kein Skrupel, kein Schwindelanfall schreckte sein robustes Gewissen. Daß er seinen Pflegevater anschwärzen, den brieflichen Verkehr Loris-Melikows, als der schwächliche Reformator in Ungnade gefallen war, überwachen mußte, war hart, aber nothwendig. So wurde er Wirklicher Geheimer Rath, Staatssekretär für Finland und, als Sipjagin ermordet war, Minister des Innern. Doch im neuen Würdenkleid lebte der alte Adam. Der Staatsanwalt, der überall Verbrecher wittert, schnell jeden erwünschten Schuldbeweis zu zimmern vermag und so abgehärtet ist, daß ihm die Wimper nicht zuckt, wenn er zwischen Frühstück und Mittagessen sechs Menschen an den Galgen schickt … Der geistreiche General Fadejew pflegte zu sagen, ganz dumme Kerle gebe es nicht; irgendwo sei Jeder zu gebrauchen. Plehwe war ein pfiffiger, schlagfertiger und gut aussehender Staatsanwalt, das Ideal einer Büttelseele. Wie, nach dem Worte des jungen Schiller, die Gottheit, so versteht sich manchmal aber auch ein Statthalter des Himmelskönigs übel auf seine Leute und macht aus vollkommenen Henkersknechten schlechte Minister.

Plehwe war ein spottschlechter Minister, zeigte sich im hohen Rang wirklich als einen Dummkopf und wurde von den verständigen Leuten im Zarenreich fast noch mehr verachtet als gehaßt. Dennoch brauchte der Klüngel, der ihn emporgebracht hatte, die Wahl des Werkzeuges nicht zu bereuen. Im Frühling 1902 scheint Nikolaus entschlossen, vor der drohenden Grimasse der japanischen Affenhorde sänftiglich zurückzuweichen. Kein Wunder: noch beherrscht Sergej Juljewitsch Witte den Sinn des Bescheidenen und hindert thörichte Abenteuer. Das darf nicht dauern. Die Kamarilla, zu der ein paar Großfürsten, Alexejew, Bezobrazow und Andere eiusdem farinae gehören, muß den Monarchen zunächst von dem Minister trennen, der, seit Lobanow tot ist, auch der internationalen Politik die Richtung weist. Das alte Spiel, das so oft den Kronenträgern verhängnißvoll ward, wird wieder begonnen. Ein Kaiser, zischelts zum Thron hinan, darf sich nie dem Willen eines Sterblichen beugen. Ein von Gottes Gnade Gesalbter sieht weiter als andere Menschen. Nach einer Weile wirkts. Der gutmüthige, schüchterne Zar, der seinem Volke das Beste ersehnt, fangt sich zu fühlen an und gleitet erst, taumelt dann in den Wahn, für den Bismarck das Spottwort fand, manche Monarchen bildeten sich allen Ernstes ein, in einem besonderen Geheimrathsverhältniß zum Lieben Herrgott zu stehen. Nun darf man gegen den Minister schon Etwas riskiren. Dieser Herr Witte thut, als sei er berufen, das Vermächtniß Alexanders des Dritten zu wahren. Dabei hat er keine Ahnung von Rußlands weltgeschichtlicher Mission und wagt, zu behaupten, auch wir seien dem Entwickelungsgesetz unterthan und müßten den Weg der Europäerkultur gehen; wir, die doch von ganz anderer Art sind als das faule Gesindel im Westen. Was hat er denn gar so Ungeheures geleistet? Schulen gegründet. Mit Recht aber sprach die große Kaiserin einst: »Wenn unsere Bauern anfangen, Etwas zu lernen, werden sie mich bald von meinem Sitz jagen.« Und sonst? Ungesunde Industrie ins Land gebracht und unruhiges Proletariat gezüchtet. Eine zuverlässige Stütze der heiligen Autokratie ist der Mann sicher nicht. Strebt aber nach Allmacht im Reich und hält sich für unentbehrlich. Dieses Mittel versagt nie. Unentbehrlich darf sich in Monarchien Keiner dünken. Nikolaus verliert die Unbefangenheit, die er früher im Verkehr mit seinem klügsten Minister hatte, und gewöhnt sich in den falschen, unköniglichen Stolz des Schwächlings, der sich von fremder Leistung verdunkelt fühlt. Er will seine Selbständigkeit zeigen, als Monomachos schalten: und sieht sich bei jedem Schritte doch gehemmt. Im ganzen Ministerrath ist kein tauglicher Handlanger. Der Hausmeier hält Alle in strenger Zucht. Da wird Plehwe empfohlen. Und nun hat der Sohn Alexanders des Stillen, des Starrköpfigen endlich den Mann, den er sich wünschte.

Der weise Li-Hung-Tschang hatte die Gefahr des Asiatenkrieges vorausgesagt; als er zu den Krönungfesten nach Rußland gekommen war, hatte er dem Finanzminister mit drängender Zärtlichkeit gerathen, die Bahn nur bis Wladiwostok zu bauen und sich nicht in den Süden locken zu lassen; sonst seien unabsehbare Verwickelungen sicher. China wolle jede mögliche Erleichterung gewähren und werde, um den Russen einen Umweg von sechshundert Kilometern zu sparen, den Bau der mandschurischen Strecke Nertshinsk-Tsitsikar-Wladiwostok erlauben. Nur ja nicht weiter südlich gehen! Witte hatte die Warnung beherzigt und immer die Räumung der Mandschurei empfohlen. Das hätte einen Strich durch die Rechnung der Kamarilla gemacht, die schon nach Korea lugte und auf neue profitliche Unternehmungen hoffte. Die Aufgabe, den Zaren für ihre Zwecke einzuspannen, war nicht ganz leicht; ein Trompetenstoß hätte den neurasthenischen Schwärmer aufgeschreckt. Man mußte es feiner anfangen. Was Witte will, hieß es, ist nicht falsch; nur ists mit den Mitteln, die er vorschlägt, nicht zu erreichen. Solcher Finanzmensch versteht eben nichts von Taktik. Wer den Gelben nicht imponirt, ist verloren. Wenn wir uns heute fügsam zeigen, fordern sie morgen das Dreifache. Nein: auf den Tisch hauen, mit dem Schwert rasseln, die Makakenbande erinnern, daß sie mit dem Russenreich zu thun hat, vor dem der Erdkreis zittert. Dann giebt sies billig; wird sich hüten, mit uns anzubinden; hat nur, so lange wir uns ducken, ein großes Maul. Das war bis jetzt der Fehler. Allzu bescheiden. Der Weiße Zar muß stets zeigen, daß er auf dem Stuhl des Weltrichters sitzt. So klang die Lockflöte. Und Nikolaus ließ sich einlullen. Er wollte den Frieden erhalten, glaubte, die Japaner würden allen Hohn, jede Schmälerung ihres Besitzes und ihrer Hoffnung ruhig hinnehmen, und verbot rechtzeitige Rüstung. Im Ministerrath hatte er ehrerbietigen Widerstand gefunden. Wittes erstes und letztes Wort war immer: Wir müssen halten, was wir versprochen haben. Plehwe kam als Vertrauensmann der Hofclique ins Amt und trat offen als Anwalt der Kamarilla auf. Des Kaisers Wille war ihm höchstes Gesetz; und oft war der Dummkopf schlau genug, schon den fernen Wunsch des Herrn zu errathen. Der Gossudar war zufrieden. Endlich hatte er einen Gehilfen, auf den er sich unter allen Umständen verlassen konnte, der aus dem Advokatengezänk die Gabe rascher Replik mitbrachte, Jedem übers Maul fuhr und das Sachverständniß durch dreiste Schroffheit ersetzte.

In Rußland, wo nichts veröffentlicht werden darf, bleibt nichts verborgen. Auch die zwischen Witte und Plehwe in der Stille des Kronrathes gewechselten Worte sickerten schnell durch den Tshin und wurden von Mund zu Mund weiter getragen. Witte sagte, die militärische Besetzung der Mandschurei sei zwecklos, Port Arthur für Rußland auf absehbare Zeit ohne Werth. Plehwe antwortete, wer die erste Stufe einer Treppe betreten habe, müsse, wenn er nicht furchtsam scheinen wolle, weiterschreiten. Witte rieth, den ganzen Komplex der in Ostasien streitigen Fragen den Diplomaten zu überweisen, die auch das Heikelste ohne Lärm erledigen würden. Plehwes Antwort war: »Durch seine Bayonnettes, nicht durch Diplomatenkunst, ist Rußland geworden, was es ist.« Der in die Politik verschlagene Staatsanwalt, dessen Diplomatie in der geschickten Benutzung von Spitzelzuträgereien bestand und dem die Reussengeschichte ein versiegeltes Buch war, erdreistete sich, dem Colbert des Zarenreiches bei jeder erhaschbaren Gelegenheit über den Mund zu fahren. Und war auf solche Leistung höchst stolz, schwatzte seine Rednertriumphe aus und ließ sich von den Abenteurern als Retter des Vaterlandes feiern. Witte that, was die Selbstachtung gebot. Er sah den Krieg kommen, den dümmsten, den Rußland je geführt hat, wollte ihn nicht verantworten und bat um Entlassung. Vielleicht hoffte er, der Herr werde ihn halten; doch der Abschied wurde in Gnaden bewilligt. Der kühnste, an Erfolgen reichste Finanzminister der Romanows ging. Der Krieg kam und fand Rußland so unvorbereitet, wie es nach dem Willen seines friedlichen Zaren sein mußte.

 

Der mußte, als dann der Friede geschlossen werden sollte, Sergej Juliewitsch Witte aus dem Schmollwinkel des ungnädig Verabschiedeten holen. Als man ihm rieth, Witte wieder zum aktiven Minister zu machen, rief er: »Wenn Rußland es verlangt, werde ich, so schwer es mir wird, auch dieses Joch noch einmal auf mich nehmen.« Tröstete sich aber: Rußland verlangt das Opfer ja nicht. Lange sträubte er sich, Witte als Vertreter für die Friedenskonferenz zu wählen. Damals nährte die Hoffnung noch den Plan, die Verhandlung brüsk abzubrechen, Japan vor der Welt anmaßender Ueberhebung zu bezichtigen und in einem Volkskrieg nach kutusowischem Muster das Heil zu suchen. Daran wurde nicht mehr gedacht, seit man mit der Mißstimmung der Truppen rechnen gelernt hatte und jede rasche und umfangreiche Rekrutirung scheute. Sollte es aber Ernst mit dem Frieden werden, dann war der beste Mann für Portsmouth gerade gut genug. Und Sergej Julitsch hat am Hof mächtige Freunde. Die Kaiserin liebt ihn nicht, weil er »ihren Mann fast jeden Freitag so furchtbar aufregte«, hat von seinem Können aber eine hohe Meinung und sähe ihn am Liebsten in der Rolle eines britischen Premierministers, die ihren Nika entbürden, ihm das behagliche Leben des dicken Onkels Eduard sichern könnte. Die Kaiserin-Mutter, die nicht zu bewegen war, Frau Witte am Hof zu empfangen, und auch als Witwe die Fortdauer des Boykotts durchgesetzt hat, schätzt den Mann ungemein, der ihres Gatten Finanzminister war, den ihr angebeteter Sascha gefunden und ohne Zaudern auf den ersten Platz im Reich erhöht hatte. Der Versuch, Witte sacht wieder in den Vordergrund zu schieben, wäre auch diesen verbündeten Majestäten, denen ein Großfürst half, vielleicht nicht gelungen; denn Nika ist eigensinnig und, wie alle Schwächlinge, stets ängstlich bestrebt, zu erweisen, daß er nicht zu beeinflussen, die Kraft seines Willens nicht zu brechen noch auch nur zu beugen ist. Da kamen aber schlaue Höflinge und sprachen: »Laß Sergej Julitsch ruhig übers Meer fahren, Väterchen. Erstens sind wir ihn hier für eine Weile los; er kann nicht im Dunkeln munkeln, mit fremden Preßleuten plaudern und unser Handeln und Unterlassen kritisiren. Kann nicht als der Reichsregent oder Diktator, der Robespierre oder Gambetta von übermorgen empfohlen werden. Und zweitens liegen die Dinge für uns leider so schlecht, daß aus Portsmouth nicht viel zu holen sein wird. Der Mann, der diesen Friedensvertrag heimbringt, hat ausgespielt und wird von der lüderlichen Vettel, die sich Oeffentliche Meinung nennt, verwünscht und arg zerzaust werden. Laß ihn hinüber, Batjushka, gieb ihm alle Vollmachten, die er fordert: der providentielle Mann, der Dir jetzt immer als herrschender Diener aufgedrängt werden soll, kehrt nicht mit ungemindertem Nimbus wieder und Du hast die Möglichkeit, den jetzt Gerühmten später, wenns nützlich scheint, als Sündenbock in die Wüste zu jagen.« Das mag dem armsäligen Gossudar eingeleuchtet haben. Witte war freilich klüger als seine Feinde; zu klug, um sich in eine Falle locken zu lassen. Er wußte, was er wagte: daß er die Arbeit eines Lebens aufs Spiel setzte. Dennoch ging er wahrscheinlich nicht ungern. Ging mit Trümpfen, die kein Anderer mitnehmen konnte. Er kennt die Bedürfnisse seiner Heimath (die er, wie manches Gespräch mit ihm mir unzweideutig bewiesen hat, mit der ganzen Leidenschaftlichkeit seines selten ganz entschleierten Temperamentes liebt), hat mit allen Königen und Duodezfürsten europäischer Finanz persönlich verkehrt, weiß, wie jeder einzelne zu nehmen, an welcher Stelle zu kitzeln ist, und hat die unbeirrbare, durch vierzehnjährige Erfahrung gefestigte Zuversicht, daß Rußland so viel Geld bekommt, wie es haben will, und daß alle Bankiers des Kontinentes sich in geiler Hast an den Mann drängen werden, der sie aus der Ferne ein Anleihegeschäft hoffen läßt. Noch wichtiger ist, daß alle Ostasiaten ihn als hellen Kopf bewundern, Fleisch von ihrem Fleisch in ihm wittern. (Mit Recht; sein Genie ist urasiatisch. Daß er, wie in den Zeitungen hartnäckig behauptet wird, von Deutschen abstamme, glaube ich nicht. Er kann kaum einen deutschen Satz zusammenstümpern und hat den Accent des echten Moskowiters. Sein Französisch ist nicht überwältigend, doch gewiß nicht schlechter als das der Japaner.) Der alte Li-Hung-Tschang liebte ihn beinahe väterlich und der japanische Graf Matsukata nannte ihn seinen verehrten Freund. Er brachte Prestige, Erfahrung und die schwere Kunst der Menschenbehandlung mit. Wittes Gegner hatten immer getuschelt, dem Finanzminister fehle die gründliche Vorbildung; wenn er mit Rothstein und anderen Börsianern genug gejobbert habe, lasse er sich von radikalen Professoren aus Petersburg und Moskau das Allerneuste verschreiben, mime dann den hochmodernen Sozialpolitiker und pfusche mit den Rezepten des Kathedersozialismus und Marxismus an dem kranken Leib des unglücklichen Landes herum. Wirklich stark sei er nur in der Dialektik. Gegen seine Zungengewandtheit könne Keiner aufkommen … Bis Plehwe kam.

Der konnte es. Mußte Nikolai nicht entzückt sein? Endlich ein Gehilfe, auf den er sich unter allen Umständen verlassen konnte und der vor Sergej Julitsch nicht erbebte. Endlich die Aussicht, von der Tyrannis befreit zu werden. Dieser Witte hielt sich wohl gar schon für einen Bismarck und wähnte, er dürfe mehr sein als ein Commis des Zaren? Lächerlich. Ein kleiner Südwestbahndirektor, den eine Schrift über die Grundsätze der Eisenbahntarifpolitik bekannt gemacht und den Wyshnegradskij, um den ehrgeizigen Rivalen loszuwerden, vom Posten des Departementchefs im Finanzministerium an die Spitze des Verkehrsministeriums befördert hatte. Seit er dann als Wyshnegradskijs Erbe wiederkam, hat er sich ja manches Verdienst erworben. Ordnung in den Staatshaushalt gebracht, die Goldwährung, das Branntweinmonopol und einen billigen Zonentarif eingeführt, Bahnen verstaatlicht, den Eisenstrang durch Sibirien und die Mandschurei gelegt, eine Industrie geschaffen, durch Gesetz die Arbeitzeit geregelt, die Fabrikinspektion gebessert und (weil er für seine Kulturpläne mehr Geld brauchte, als die alljährlich wachsenden Ansprüche der Militärverwaltung ihm übrig ließen) dem Selbstherrscher aller Reussen die dankbare Heilandsrolle des Weltbeglückers suggerirt. Suggerirt … Das ists. Ueberall wurde getuschelt: »Er hat den Kaiser hypnotisirt und macht mit ihm, was er will.« Die Zaritza selbst scherzte über diese Hypnose und zeichnete den Eheherrn, wie er als artiges Püppchen auf dem Schoß Wittes sitzt; und Hofleute zeigten einander in stillen Winkeln eine noch bösere Karikatur: Nika als Pudel, der mit Schweif und Pfoten um die Gunst des allmächtigen Finanzministers wirbt. Unerträglich. Und Sergej Julitsch wurde von Jahr zu Jahr kecker. Sein Selbstbewußtsein sah auch im Thron keine Schranke. Die Freitage, an denen er dem Zaren Vortrag hielt, waren für Nikolai eine Last, die er Tage lang vorher mit Entsetzen nahen sah. Im peterhofer Landhaus sagten die Adjutanten schon lange: »Wenn Sergej Julitsch schreit, hörts hier das ganze Palais.« Blaß, todmüde, ganz verstört kam Nika dann ins Familienzimmer. Und war denn alles von diesem anmaßenden Emporkömmling Geschaffene für Rußland wirklich ein Glück? Kommt die revolutionäre Bewegung, von der in den großen Städten der Boden dröhnt, nicht aus den Centren der Industrie, die für Rußland nicht taugt? Wars verständig, die Lehren des Sozialismus in dieses junge Erdreich sickern zu lassen? Und ist der Rath, jetzt den Japanern so weit entgegenzukommen, mit der Würde der größten Militärmacht vereinbar? Die Vorsehung hatte Plehwe gesandt. Doch schon dämmert der Augusttag, der Nikolai Alexandrowitsch an der Gruft des tückisch gemordeteten Günstlings sieht. Und Witte geht, als Rußlands Vertreter, übers Weltmeer.

 

Wir, Nikolai Alexandrowitsch, Kaiser und Selbstherrscher aller Reussen, Zar zu Moskau, Kiew, Wladimir, Nowgorod, Astrachan, von Polen, Sibirien und dem taurischen Chersones, Herr von Pskow, Großfürst von Smolensk, Litauen, Wolynien, Podolien und Finland, Fürst von Esthland, Livland, Kurland, haben die Großfürsten, den Reichsrath, das Ministerkomitee, den Heiligsten Synod, die General-Gubernatoren und Gubernatoren Unserer Provinzen, die höchsten Würdenträger des Heeres und der Flotte nebst den Vertrauensmännern der Semstwos heute hier, vor dem Thronsitz Ruriks, versammelt, um dieser russischen Gemeinschaft rechtgläubiger Christen Unseren Willen kund zu thun, auf daß sie hingehen und dieses Willens Meinung verbreiten, so weit Unsere Landesfarben Weiß-Blau-Roth unterm Himmelsgewölbe leuchten, so weit auf Unserer Kriegsflagge das schräge Kreuz des Skythenapostels im Seewind flattert. Dieses Willens Ziel ist, dem Volk den Frieden zu sichern, Unserem leidenden Reich neue Opfer zu ersparen, dem russischen Menschen endlich den Segen ruhiger Arbeit für sein Haus und fürs gemeine Wesen wiederzuschaffen, der ihm unter der Obhut Unserer Ahnen in guten Tagen beschieden war. Das aber kann nur, darf um Unserer heiligen Rossija willen nur geschehen, so lange Wir frei sind, nicht äußerem Zwange gehorchen, sondern wählen, wie Unser Wollen selbständig bestimmt. Noch vermögen Wirs. Der Feind, der aus tausend von Unserem Schwert geschlagenen Wunden blutet, die Blüthe seiner Jugend vernichtet, die Kraft seines Leibes hinsiechen sieht, er selbst kann Uns nicht ohnmächtig glauben. An Menschen, an Bodenschätzen, an münzbarem Vertrauen sind Wir unendlich reicher als er und nichts auf der Welt kann Uns hindern, weiterzukämpfen, bis er unter der Last seiner Rüstung zusammenbricht. Nichts als Unser eigener Wille. Ein neues Heer würde auf Unseren Ruf in den fernen Osten eilen, neues Gold Uns, ehe Wirs fordern, aus allen Schatzkammern der Erde geboten werden; und wenn die Winterdecke sich wieder über Unsere nordischen Ströme breitet, würden Geschwader, die auch der Haß fürchten müßte, Rußlands Flagge ins Gelbe Meer tragen. Wir sind geschlagen. Wir sind nicht erschöpft noch gar besiegt. Doch über Uns ist Gott. Er will nicht, daß hienieden das Leben des Menschen, dem er seinen Odem einblies, weniger gelte denn eines Hundes, den kein Redlicher launischem Eigensinn hinschlachten wird. Das Unternehmen eitler Laune aber wäre es, jetzt um jeden Preis die Reife der Frucht erzwingen zu wollen, die das Reich der Zaren später, nach geduldigem Warten, mit leichterer Mühe zu ernten berufen ist. Eingedenk des göttlichen Gebotes, im winzigsten Menschen das Ebenbild seines Schöpfers zu ehren, eingedenk auch der Tage, da das Russenvolk einst Rurik, Sineus und Truwor, die drei Waräger, ins weite, schöne, reiche Slavenland rief, um Ordnung zu stiften, da zum Wohle des Volkes also vor tausend Jahren die Krone verschenkt, nicht Widerstrebenden abgetrotzt ward, haben Wir Uns zu friedlicher Beilegung des großen Streites entschlossen und offen, wie es dem Mann und dem Herrscher ziemt, Unsere Absicht, ohne Vermittlung, auf geradem Weg zur Kenntniß des Kaisers von Japan gebracht. Im hohen Sinn des Kaisers Mutsuhito, den die Trauer über den Tod von zweihunderttausend Menschen umwölkt, doch nicht verfinstert hat, fanden Wir Unserem Wunsch einen Verbündeten. Schon sind die wesentlichen Bedingungen des Friedensschlusses, der die russische Menschheit noch einmal aus alten, lieben Träumen reißt und abermals vom südlichen Meer abdrängt, vereinbart; und in wenigen Tagen kann die tapfere Schaar der Aufrechten vom Kriegsschauplatz den Weg in die Heimath antreten.

Zwischen Uns und Unserem Volk sei fortan keine Lüge! Dieser Friede bringt nicht nur eine Minderung russischer Macht, eine Schmälerung des Ansehens, das sich das erwachsende Reich des Ostens auf der ganzen Fläche des Erdkreises erworben hat: er ist eine Demüthigung, wie die Menschengeschichte, seit David den Goliath schlug und Dareios vom Häuflein der Makedonen überwunden ward, nur wenige sah. Denn der Starke räumt dem Schwächeren, dem lange Verachteten das Feld. Wäre nicht dieses Bedenken, die Furcht, das Reich Unserer Väter mit dem Erbe der Schmach zu belasten, gewesen: unter dem Wintermond schon hätten Wir den Frieden gesucht. In der dunklen Zeit der Heimsuchung erst, als im Inneren der Aufruhr sein Hydrahaupt erhob, der Bruder hier mit der Waffe den Bruder hinstrecken mußte, kam Uns die Erleuchtung. Nur der Friede ist möglich, der Rußlands Waffenehre unangetastet läßt. Hat der Krieg Unschuldige in Schaaren gemordet, so darf der Friede nur den Schuldigen schänden. Dem Männer schützenden Sohn Philipps und der Olympias konnte ein lebloses Sühnopfer genügen; als er die Burg der Perserkönige in Flammen aufgehen ließ, schien Persiens Verbrechen ihm von der glühenden Fluth dieses Feuermeeres aus dem Gedächtniß gespült. Für schwerere Schuld muß jetzt ein Lebender büßen. Denn die Enkel Alexanders Newskij wohnen in einer anderen Sittenzone als der makedonische Heide. Seit Dieser auf dem Bukephalos sieghaft über den Balkan kam, drang zu uns die Botschaft, daß der Gehorsame, der sich in Demuth göttlichem Befehl beugt, dem Herrn der Welt besser diene und wohlgefälliger sei als Einer, von dessen Brandaltar früh und spät Opfergeruch himmelan steigt. Und seit der erste Christenfürst Alexander von dem an der Newa über den fremden Eroberer erfochtenen Sieg den Zunamen Newskij empfing, vernahm das innere Ohr der Russengemeinde auch die Stimme Samuelis, das Wort des Richters über die Könige: »Die Söhne wird der König Euch nehmen und zu Wagenknechten sie machen, zu Reitern, die vor seinem Wagen hertraben, zu Hauptleuten und Ackerleuten, zu Schnittern und Waffenschmieden; für sich nur wird er in Euren Aeckern, Weinbergen und Oelgärten ernten; und Alles, was jetzt Euer ist, wird ihm allein dann fronen: Knechte und Mägde, der glatte Jüngling und der wollige Widder.« Ward in der Heiligen Schrift solches Schreckbild eines Königs allen Völkern gezeigt und der gläubigen Christenheit offenbar, daß ein Mensch, dem Gottes Gnade so ungeheure Gewalt über Andere verlieh, nicht hoffen darf, ein Brandwölklein könne den Mißbrauch dieser Gewalt für alle Zeiten verhüllen.

Wer hat gesündigt? Wir nehmen die Mütze des Monomachos von Unserem gesalbten Haupt, entkleiden Uns freiwillig allen Zeichen irdischer Majestät und sprechen als russischer Christ nun zu rechtgläubigen Brüdern.

Ich, Nikolai Alexandrowitsch, habe gesündigt. Und keinen anderen Schuldigen dürft Ihr, Brüder, suchen. Nicht darin besteht meine Schuld, daß ich die Theilung ererbter Gewalt so lange geweigert habe. Das mußte ich thun, wenn mein Behagen, meines und der Meinen, mir nicht mehr galt als die Ruhe des Reiches; und getrost werde ich diesen Entschluß vor dem Thron des Himmelskönigs vertreten. Zu viele verschiedene Stämme wohnen in unseren Grenzen, zu jung ist unsere Geschichte, als daß wir trachten dürften, in einer feindlichen Welt uns selbst zu regiren. Zersplitterung, Zerfall, Ohnmacht wäre die Folge. Das fühlt auch das Volk. Rußland will einen Herrn. Die sich gegen die Selbstherrschaft erheben, sind Todfeinde jeglicher Ordnung oder unklare Schwärmer; halbwüchsige, eitle Knaben, die aus unfrommen Büchern zu wissen wähnen, wie die Welt zu verbessern sei, oder den heimischen Sitten entfremdete Lustfahrer, die bei fremden Frauen vergessen haben, was daheim ihr Mütterchen braucht. Kämen die hundertvierzig Millionen Menschen, die mit uns hausen, zum Wort, sie würden die Erhaltung der alten Reichsgrundlagen fordern; und ihr einmüthiger Ruf würde das Gekreisch des Sektirerhäufchens überdröhnen wie der Schlachtgesang christlicher Kämpfer den Angstschrei eines verirrten Mädchens. Nicht darum bangt mein Gewissen, weil ich nicht wider den Willen der Mehrheit die Herrschaft der Mehrheit ertrotzen ließ. Auch nicht, weil ich gezwungen war, gewaltthätigen Aufruhr jüngst gewaltsam niederzuschlagen. Denn nicht nur den Feinden russischer Ueberlieferung kann von Gott erlaubt sein, mit Feuer und Schwert sich zu waffnen, und den Schützern dieser Ueberlieferung von ihm nicht geboten, wehrlos solche Anschläge zu dulden. Jene haben versucht, in den Tagen schwerster Prüfung und höchster Gefahr den Arm Rußlands zu lähmen, mit schmähendem Wort und tückischer That das feste Mauerwerk unserer Macht zu höhlen; dem Feind verbündeten sie sich, dem Fremdling: und Pflichtgefühl befahl deshalb laut, ihrem Wühlen mit aller Kraft zu wehren. Nicht zum Schutz des Kaisers schossen in der Hauptstadt bewaffnete auf unbewaffnete Brüder. Der Kaiser war wohlverwahrt, der Residenz fern und sicher vor feindsäligem Anfall. Das von Plünderung bedrohte Eigenthum friedlicher Bürger, die Freiheit des von der Schreckensherrschaft trunkener Banden geängsteten Arbeitervolkes mußte geschützt werden. Darum nur gab ich, schweren Herzens, den Befehl zu blutigem Handeln. Und nicht über mich wird in der Stunde des Gerichtes dieses Blut kommen. Was ich als Wahrer ehrwürdiger Tradition sündigte, war nur die verzeihliche Sünde wohlmeinender Schwachheit. Unerfüllbare Hoffnungen weckte ich, schwankte allzu lange vor jedem Entschluß und ließ manchmal, um Ruhe zu finden, geschehen, daß Irrglaube mit Nebeln die Geister umfing. Ein Herrscher, den sein Volk in Ehrfurcht Vater nennt, muß stetig im Wollen sein: und ich war unstet. Muß wissen, wem er vertrauen darf: und ich vertraute gestern dem Einen, heute dem Anderen und morgen gar Keinem mehr. Muß das Ziel des Weges kennen und immer im Auge behalten, den er die blind ihm Folgenden führen will; und ich wußte niemals, wohin ich ging. Mein ist die Schuld, daß der Wahn entstehen konnte, die Tage der Selbstherrschaft seien gezählt. Nie wäre die Wirrniß so groß geworden, wenn in jeder Stunde mein Wille, des Kaisers, des Kirchenhauptes, des Reichsvaters, sichtbar geblieben wäre, den Zweifel mit Stumpf und Stiel auszuroden.

Doch viel schwererer Schuld muß ich mich zeihen. Ich verhieß, dem Volk den Frieden zu erhalten, und riß es in den blutigsten Krieg, von dem die Bücher menschlicher Geschichte melden. Ob er hinauszuschieben, ob ganz zu vermeiden war: laßt uns nicht heute, nicht hier danach fragen! Wem frommte die Antwort, die nur das Werk kurzsichtiger, sterblicher Weisheit sein könnte? Auch der Höchste darf irren; zeigt sich aber, daß er von Neuem stets irrt, immer der Spielball äffender Truggeister ist und niemals auch nur so klar sieht wie der Blick des Hüttenbewohners, dann muß er herunter von hohem Sitz. Wenn Jugendwahn Einen treibt, nach dem Amte des Weltenrichters zu greifen und aus Menschenmund die frohe Botschaft vom Erdenfrieden über die Lande zu rufen, so muß er fest entschlossen sein, selbst den leisesten Anstoß zu meiden, der zu Streit und Krieg fortwirken könnte. Und wenn Einer das Wagniß unternimmt, die Schaaren der ihm zu Gehorsam Verpflichteten in Streit und Krieg zu führen, so muß er dafür sorgen, daß diese Schaaren zu solchem Beginnen gerüstet sind; darf er nicht selbst etwa gar die Arbeit der Rüstung hindern. Denn auf ihm ruht die Verantwortlichkeit. Und unverzeihlich ist, wenn sie ihn niederdrückt, seine Schuld.

Ist meine Schuld. Ich konnte dem Japaner die Frucht seines Sieges über China gönnen: und thats nicht. Ich konnte dem Rath des klugen gelben Mannes folgen, der, das Fest meiner Krönung zu ehren, ins Russenland kam und nicht müde ward, uns vor dem Marsch in den Südosten Asiens zu warnen: und verschloß mein Ohr seiner Rede. Denn für den von der Vorsehung Auserwählten hielt ich mich, der das alte russische Sehnen nach einem Südmeer endlich stillen werde. Ohne Blut zu vergießen. Wer würde wagen, mit uns die Kräfte zu messen, gegen unser Heer, vor dem der Erdball erzittert, ins Feld zu rücken? Das kleine Volk gelber Schmalnasenaffen gewiß nicht. Das that sehr muthig, sehr kriegerisch, würde in Demuth aber, sobald es Ernst sähe, das Gesetz meines Willens hinnehmen. Daß ich den Gegner verkannte, mag noch verziehen werden; nicht aber die Ueberschätzung eigener Wehrkraft. Weil ein ruhiges Leben im häuslichen Freudenkreis mir besser behagte, hielt ich mich dem Heer fern, horchte nicht auf seinen Athem, fragte nach seiner Noth nicht noch nach seinem gerechten Anspruch, sah es flüchtig nur und ohne den inneren Trieb, ins Wesen dieses Organismus zu dringen. Alle Selbstherrscher, deren Angedenken vom Volke gesegnet wird, haben mit der Armee gelebt; ich lebte nur mit meiner Familie, mit Priestern, Schreibern und Gauklern. Wozu kostbare Zeit an ein Werkzeug verschwenden, das ich doch niemals gebrauchen wollte? Friede sollte fortan ja auf Erden sein. An dieses Evangelium klammerte ich mich; denn ich liebte den neuen Heiland, der es verkündet hatte, viel mehr noch als den, an dessen Krippe es zuerst ertönt war. Lächelte deshalb auch nur, als mir gesagt wurde, der Japaner bereite sich in der Stille zum Kampf, immer wieder gesagt und dringend empfohlen, die Rüstung zu beschleunigen und die Löcher im Panzerhemd ohne Säumen zu stopfen. Ich führe keinen Krieg: Das war stets die Antwort. Und jede Rüstung wäre Aufreizung zum Krieg, könnte vom Gegner wenigstens so gedeutet werden. Keine Eile beim Bau unserer Schlachtschiffe. Keine Verschiebung neuer Truppen gen Osten. Keine neue Division zum Schutz der mandschurischen Bahn; nicht eine einzige. Alles, was den Japaner mißtrauisch machen und reizen könnte, ist zu meiden. So sprach ich. War er aber etwa nicht gereizt worden, als wir den Vertrag von Shimonoseki mit bewaffneter Hand zerrissen? Ihm die Beute des Sieges nahmen? Uns in Port Arthur niederließen und nach Korea die Fänge streckten, wie vorher nach der Ainoinsel Sachalin? Ich that wie ein Knabe, der ein wildes Thier, weils an der Kette liegt, mit einer dünnen Lenzgerte so lange ärgert, bis es sich von der Kette reißt und den wehrlosen Peiniger niederwirft; wie ein Wegelagerer, der dem Wanderer ein Kleidungstück nach dem anderen raubt, nicht darauf achtet, daß der so Entblößte insgeheim nach der Pistole gegriffen hat, und nun jammert: Mit Pulver und Blei fällt dieser Elende in stiller Nacht mich friedfertigen Menschen an, den er nicht einmal gewarnt hat! Nicht klüger, nicht redlicher war mein Beginnen.

In lächelnder Zuversicht saß ich noch, als an der Waffe des Gegners der Hahn schon gespannt war; und brüstete mich: Jede Vorbereitung zum Krieg ist gehindert, also wird Friede sein. Mea culpa! Nicht im Thun, nicht im Unterlassen Anderer suchet die Schuld. Daß sie schlechte Rathgeber hatten, stöhnt nur die Gewissensangst der Könige. Wer hieß sie dem schlechten Manne ihr Ohr leihen? Eitelkeit, die den Schlechten, Feigen, Nachgiebigen lieber sieht als den Unbequemen, den Treugefühl zu warnender, tadelnder Rede drängt. Könige, glaubet mir, haben immer die Rathgeber, die sie zu haben verdienen. Hätte ich, habe ich in meiner Nähe denn Einen geduldet, der mir widersprach, meine Wünsche nicht täglich mit Katzenpfötchen streichelte? … Das Auge Sergejs Juliewitsch spricht Euch und mir deutlich die Antwort: Keinen.

Die durch meine Schuld, auf mein Geheiß wider alles Warnen versäumte Zeit war im hastigsten Lauf nicht wieder einzuholen. Die Schiffe unfertig und ohne geschulte Mannschaft. Das Heer neuntausend Kilometer weit vom Kriegsschauplatz. Geschütz, Munition, Proviant: nichts in Bereitschaft für solches Ringen. Und ein Eisenstrang, ein einziger, vom Feind und von Bandenschwärmen bedrohter, um Menschen und Thiere, Waffen und Mundvorrath, Ärzte und Krankenpfleger dahin zu befördern, wo wir sie brauchten. In langen Monaten konnte Strategie und Taktik sorgsam vorbereitet, die Gegend von unserem Topographencorps erforscht, der Chinese, der Mandschu, Tunguse mit Gold und Versprechung gewonnen werden: nichts davon geschah; nichts durfte geschehen. So wollte es mein Wille. Was kommen mußte, kam. Noch wißt Ihr nicht, wie schwach, wie lächerlich schwach wir am Anfang des Feldzuges im Osten waren. Uebermächtig konnten wir auftreten: und sind bis auf diesen Tag die an Zahl und an Rüstung Schwächeren geblieben. Durch meine Schuld. Nur boshafte Lüge kann sagen, unser Heer habe nicht so gut gekämpft wie die Tapfersten je, von denen Fama berichtet. Flecklos weht seine Fahne im Wind und keine Rostspur haftet fressend an seiner Waffenehre. Gewissenloser Leichtsinn schickte es in schlechter Wehr auf den Plan: und dennoch schlug es sich, daß die Enkel auf solche Vaterthat stolz sein dürfen. Ehre ihm; und mir die Schmach, mir ganz allein. Nicht eine Probe russischer Kraft war dieser Feldzug; oder wäre die Ohnmacht eines Riesen vom Wuchs unseres Muromers erwiesen, weil er von seinem thörichten Thurmwächter in Schlaf gelullt und schlafend von einem bis an die Zähne bewaffneten Zwerg überwältigt ward? Ist damit der Leichtsinn des Wächters nicht nur, nicht die Schwäche des Großen dem ernstlich prüfenden Auge enthüllt? Der junge Riese wird sich erholen; und dann werdet Ihr sehen, welche Streiche der Wache mit seinen guten Waffen zu führen vermag.

Damit Ihrs erlebet, muß der Wachtdienst besseren Augen anvertraut werden. Wie sollte Ilja von Murom nicht die Schicksalsstunde verschlafen, wenn Oblomow bestellt wäre, ihn zu wecken? Aus jeder Blutpfütze reckt sich ein zum Knochen geschrumpfter Arm himmelwärts, zu letzter, lautloser Klage; in den Semlianken, den von der Noth hastig geschaufelten Erdhöhlen, flüstert es zornig und bebt und kann nicht begreifen, warum Leid und Schmach den niedrigen Eingang nicht freigeben wollen; aus hundert Millionen Kehlen steigen Seufzer und Flüche auf und suchen ihr Ziel. Seht es hier! Seht einen Kaiser, der sich schuldig bekennt vor allem Volk, der vor dem Blick der Christengemeinde sich, wie der elendeste Verbrecher, an einen Kreuzweg stellt und, mit gebeugtem Haupt, den zerlumpten Bettler, den Burlaken, den Hütejungen noch demüthig bittet: Verzeih mir, Bruder, um aller Wunden Christi willen verzeih dem Bruder, der nicht schlecht war, nur schwach, nicht bös, nur eitel; der als Vater und Bürger im Engsten Nützliches geschaffen hätte, mit seiner schmalen Brust und seiner dünnen Haut nur nicht für die Monomachenwürde und ihren Heldenanspruch geboren war!

Nun that er sie ab. Zum letzten Mal hat der Selbstherrscher zu Euch gesprochen. Was bliebe mir noch? Nichts fühle ich in mir von jenem Friedrich, der, in fegenden Gewittern vom Schiffbruch bedroht, dem Sturm zu trotzen schwor und mit königlichen Gedanken zu leben, zu sterben. Mein Los wäre im Gnadenfall das Bajesids, auch eines Zweiten, der unter der lastenden Wucht eines großen Namens mühsam als Sultan seine kurze Wegstrecke hinkeuchte und nach manchem Weh vom Gifttrank des eigenen Sohnes aus der Bahn geräumt ward. Wie er, habe ich einen Ahn, dessen Wink auf dem Balkan, im Archipel, bis nach Ungarn und Böhmen gebot. Wie er, sprach ich vom Frieden, entfremdete mich dem Heer und vermochte, als dennoch die Stunde zum Kampf schlug, gegen den Feind so wenig auszurichten wie der schwächliche Türkenherr gegen Bosniaken und Venezianer. Soll ich warten, bis meine Janitscharen wider mich aufstehen, im eigenen Hause sich mir der Mörder waffnet? Nein. Aus freiem Willen beschloß ich, was Bajesid gezwungen that. Nur dieses eine Opfer konnte ich dem Volke bringen; doch dieses eine ist nicht gering. Ahnt Ihr die Seligkeit des Befehlens? Die Wonne, über Millionen sich als Schicksal zu fühlen und keinen Herrn zu kennen als den einen, dem der Priester nur, unser biegsames Werkzeug, die Zunge löst? Dann wüßtet Ihr auch, was es heißt, auf solcher Höhe, der heißen Sonne so nah, zu frieren und im Innersten zu empfinden: Dein war die Macht und Du hast sie frevelnd den Deinem zum Unheil genützt.

Ein Trost bleibt mir: auch für das Reussenreich ist die fortwirkende Kraft meines Opfers nicht gering. Nicht Rußland schloß diesen Frieden, sondern Einer, der von morgen an im Geschick russischer Menschheit nicht mehr bedeuten wird als der ärmste Bauer im entlegensten Dorf. Mein die Schuld und mein auch die Sühne. So mußte es sein. Ich wollte Frieden: und taumelte schlaftrunken in den gefährlichsten Krieg. Ich wollte Ruhe und Ordnung im Reich: und stärkte durch stetes Schwanken den Geist der Empörung. Um ihn dann niederzudrücken, brauchte ich Siege und forderte sie drum von meinem Feldherrn, heischte sie gebieterischer von Tag zu Tag. Vergebens beschwor er mich, ihm Zeit zu lassen, damit er sein Heer nicht nur sammeln, sondern auch zusammenschweißen und in neue Dienstpflicht gewöhnen könne. Vergebens. Er sollte siegen, schnell und mit Glanz. Er mußte seinen Plan ändern, den klug ersonnenen Rückzug aufgeben, der die Verbindunglinie des Feindes ins Unerträgliche verlängert hätte, mit Prahlerberedsamkeit sich laut seiner Truppenmacht rühmen und den Kampf da annehmen, wo er ihm aufgezwungen ward. Denn der Gossudar konnte nicht länger mehr warten. Der Gossudar rief immer wieder laut über den Erdkreis hin: Kein Friede ohne entscheidenden Sieg unserer Waffen! Und leiser: Du, Oberfeldherr, sorge mir für den Sieg! Nun hat er, ohne den allerkleinsten Waffenerfolg, nach der schwersten Niederlage Frieden geschlossen. Das Leid, das der Krieg zeugte, kann er nicht lindern; läßt das Erbe, das er empfing, gemindert, das Reich, von dem der Stärkste mit scheuer Achtung sprach, als die Zielscheibe schnöden Hohnes. Die Schmach dieses Friedensschlusses aber nimmt er mit auf seinen einsamen Weg.

Gott segne mein gutes Beginnen! Und Du auch blicke es in Gnade an, Sanctus Andreas, Patronus Russiae! Hier liege, bei anderer majestätischen Zier, der Deinem Andenken gestiftete Orden, dessen Ritterschaft ich als Unwürdiger erwarb. Den Männlichen nennt Dich Dein Name; und mir war nur im Weibergemach so recht wohl. Als ein Mann des Friedens zogest Du, den Heiland zu predigen, furchtlos bis ins wilde Skythenland; und ich that wie Simon Petrus, Dein Bruder, und verleugnete, als just die Zeit zum Bekennen gekommen war, die heilige Sache. Nie mehr schmückt mich drum der grüne Sammetmantel mit dem Silberbesatz, weht vom Ritterhut mir die rothe Feder. Nur dieses eine Mal noch darf ich auf das goldene Bild des doppelköpfigen Adlers, der das blaue Andreaskreuz trägt, die Lippe drücken, einmal in Andacht noch die Schrägbalken berühren, an die Du, Deinem Meister gleich Kruzifixus, geheftet bist, und an den Ecken die Römerbuchstaben lesen, die dem Kind schon enträthselt wurden: S. A. P. R. Nie wieder. »Für Treue und Glauben.« Zwischen den acht Strahlen des Silbersternes las ichs oft. Wem hielt ich die Treue? Mir selbst nicht bis auf diesen Tag. Zwischen Dir und mir war keine Gemeinschaft. Doch siehe: nun nehme auch ich mein Kreuz auf mich. Trugst Du viel schwerer daran? Ich will nach Achaia pilgern und an der Stätte, wo Du den Martyrtod littst, den Wind, der seit Jahrhunderten die Halme beugt, aus dem Dunkel frommer Reue fragen, ob er Dich bis zum letzten Wank lächeln sah.

Ich scheide nicht heiteren Herzens, doch ohne Groll; ein Reuiger, nicht ein Ankläger noch ein schuldlos Gerichteter. Die Krone ließ ich meinem jungen Sohn Alexej. Gott schütze den Zaren! Die Reichsverweserschaft meinem Bruder Michael Alexandrowitsch. Er findet viel zu thun. Aber seine Arme sind frei; nie hat der Haß sich, der Verdacht auch nur an ihn gewagt und unbelastet ist sein Gewissen. Nichts bindet ihn, der kein Vertrauen getäuscht hat, und mein Wille, der Wille des Autokraten, war, daß auch zärtliche Bruderliebe ihn nicht den Beschlüssen des Vorgängers verlobe, die seine Ueberzeugung nicht gutheißen kann. Sein ist die Macht, sein nun die Sorge, das für Volk und Reich Beste zu erkennen. Auf eine Kundgebung des Selbstherrschers nur habe ich ihn mit Handschlag verpflichtet: auf das kaiserliche Versprechen, zur Vorbereitung und Berathung neuer Gesetze frei gewählte Vertrauensmänner des Volkes heranzuziehen; Männer aus allen Schichten, nicht nur aus dem hohen und mittleren Grundadel, der über die Semstwos verfügt; orthodoxe, lutherische, römische, armenische Christen, Mohammedaner, Raskolniken, Juden, Buddhisten und Heiden; Männer im Bauernhemd und im Arbeiterkittel. Sonst ist er frei; an dieser einzigen Wegscheide nur in meines Willens Richtung gezwungen. Denn die Trostverheißung, die breitstirnigen Gottesknechte, deren Schweiß und Blut Jahrhunderte lang die Saat Ruriks gedüngt hat, endlich vom Fluch ewiger Stummheit zu lösen, drang schon in die fernsten Hütten, wird auf der Ofenbank und vor der Kirchenthür mit verständigem Ernst beredet und zeugt in der Eiskruste selbst den ersten Keim neuer Hoffnung. Wie eine im Festschmuck verlassene Braut würde Rußland trauern, wenn dieser Botschaft nicht die Erfüllung folgte. Wer so das Volk tröge, müßte vergebens dann immer um sein Vertrauen werben. Und dieses Vertrauen braucht Michael Alexandrowitsch, fortan der Schirmer des Reiches. Er möge sichs wahren. Möge nie verschmähen, den schüchternen Stimmen zu lauschen, die ihn auf der Höhe suchen. Rußland will einen Herrn. Aber Rußland ist reif, diesem Herrn mit berathender Rede zum schweren Werke zu helfen, und müde des schändenden Joches, in dem es, als stummer Zugknecht, von feilen Kaiserknechten gehalten wird. Mit stählernem Willen möge sich Michael waffnen und den blanken Harnisch dann mit frischen Blumen vom Frühling der schwarzen Erde gürten, ein starker Vater dem Volke sein und das liebe Väterchen doch auch zugleich, das der Hirtenknabe auf der Weide, der Flößer am Wolgaufer mit traulichem Du grüßt; ein strenggläubiger Christ und ein zur That rüstiger, nach frommer Mitleidsregung rasch wieder froher Mensch. Und in Lust und Leid nie vergessen, daß nur Dem die Herrschaft gebührt, der Ordnung zu schaffen, zu sichern vermag. Sein Bruder hats nicht vermocht.

Ward es so nicht vor manchem Jahr schon verkündet? Hat Vater Johann von Kronstadt so nicht alte Weissagung gedeutet? Wieder werde ein Nikolai Alexandrowitsch Selbstherrscher sein, doch nicht lange, nicht nützlich leben und Michael, seinem stärkeren Bruder, die Krone lassen? Nur ein zartes Kindlein steht noch zwischen Prophetie und Erfüllung. Nikolai Alexandrowitsch starb nach kurzem, unruhigen, Unruhe stiftenden Wandel dem Zarenthron. In der Legende lebt er wohl wieder auf. Der Falsche Nikolai neben dem Falschen Dmitrij. Den als Jüngling in Otsu ein Japaner schlug, als Mann ein unvorhergesehener Japanerstreich aus dem Glanz stürzte. Der am Tag seiner Krönung auf dem Chodynkafeld beim Schall der Jubelchoräle dreitausend Menschen von christlichen Brüdern überrannt sah, zertreten, erdrückt, zu blutenden, im Koth dampfenden Fleischklumpen zerstampft. Der auf dem Erdrund Frieden stiften wollte, bald danach zehnmal Zehntausend auf Schlachtfeldern sterben hieß und am Tag der Hirtenverkündung gezwungen war, seinen Soldaten die Brust der eigenen Volksgenossen als Ziel zu zeigen. Und der dann, jung noch an Jahren, freiwillig aus der Herrlichkeit schied, um Rußland von der Schmach demüthigenden Friedensschlusses zu befreien. Kein Herr für uns. Doch kein schlechter Mensch. Ein Unglücklicher. Er hat gesündigt und hat gebüßt. Und um Christi willen ward ihm verziehen. Wohin er ging und wann er starb, weiß Niemand. Sollte Niemand wissen. Nach seinem Scheiden ists im Reich besser geworden und heute braucht kein Russe sich zu schämen, wenn er an den Frieden von Kioto erinnert wird. Gott schütze den Zaren! Die Heilige Mutter Gottes segne das Herz unseres Herrn!

 

So mußte Nikolai sprechen, wenn Rußlands Wohl ihm wichtiger war als Rußlands Kaisersitz. Er hats nicht gethan. Die eigene Mutter fand ihn zu schmächtig für den Monarchensitz. Er blieb. Wollte, ohne den Wuchs, die Wesenswucht eines Selbstherrschers, die Selbstherrschaft des Gossudars aller Reussen erhalten. Und hat, im Bewußtsein reinster Unschuld, nie begreifen gelernt, warum ihm das Schicksal, gerade ihm, dem Milden, Frommen, die Dornenkrone des Märtyrers winde.


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