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Der junge Wilhelm.

Saulus, der mit Drohen und Morden so lange wider die Jünger des Herrn geschnaubet hatte, ward auf dem Wege gen Damaskus vom Licht des Himmels umleuchtet, von Jesu Stimme gerufen und in der Stadt dann, nachdem es ihm, unter der Hand des Ananias, wie Schuppen vom Auge gefallen war, zum Christglauben bekehrt. Dieser Erleuchtung dachte er, der nun Paulus hieß, da er, am elften Sonntag nach Trinitatis, aus Philippi an die Korinther schrieb: »Unter den Aposteln bin ich der geringste und, weil ich die Gemeinde Gottes verfolget habe, des Apostelnamens im Grunde unwürdig. Aber von Gottes Gnade bin ich, was ich bin. Und seine Gnade hat sich an mir nicht vergebens bemüht; viel mehr denn alle anderen habe ich gearbeitet. Dennoch ist nicht mir das Erreichte zu danken, sondern Gottes Gnade, die mit mir ist.« In der selben Epistel sprach er: »Ihr seid Gottes Acker und Baugrund und wir sind Gottes Mitarbeiter. Als ein weiser Baumeister habe ich, der von Gottes Gnade ist, für den Grund gesorgt, auf dem ein Anderer bauen soll. Ein Jeglicher aber sehe zu, wie er daraufbaue.« In diesen Sätzen bekennt fromme Demuth: Der gnädige Wille des Höchsten hat mein Leben erleuchtet und aus dem Dunkel des Irrwahnes mir Blindem den Weg in die Klarheit gewiesen. Vierhundert Jahre nach der Zeit des ersten Sendschreibens an die Korinther, als Nestorius von Konstantinopel das menschliche vom göttlichen Wesen Christi scheiden wollte und sein Widersacher, Cyrillus von Alexandria, um die irdische Abkunft des vergotteten Menschensohnes zu heiligen, die Anbetung der Jungfrau Maria als neuen Kult heischte, wurde nach Ephesus ein Konzil einberufen: und in dieser Stadt, wo Herostratus einst (in der Stunde, die dem Makedonen Alexander das Leben gab) den Artemistempel angezündet, wo der tarsische Heidenmissionar Paulus der jungen Christenheit die stärkste Gemeinde erworben hatte, kam, in den heißen Tagen des cyrillischen Sieges über die Nestorianer, auch Pauli bescheidenes Wort zu neuer Ehre. Die versammelten Bischöfe beschlossen, die Formel dei gratia vor ihre Titel zu setzen, als ein sichtbares Zeichen der Demuth, die sich von Gottes Gnade abhängig fühlt. Seit dann dem Bischof von Rom, als dem Nachfolger des Apostels, auf dessen Felsenfestigkeit Jesus die Gemeinde gebaut hat, so viel Macht zugewachsen war, daß er sich Christi Statthalter auf Erden nennen durfte, schien ihm die Formel zu eng. Dei et Apostolicae Sedis gratia: so sollte sie fortan lauten. Sollte den Bischöfen einprägen, daß sie, um ihres Sitzes sicher zu sein, zu Gottes Gnade auch die des Papstes sich erhalten müssen. Von den Trägern geistlicher Würde übernahmen die Karlinge, die in dem Bischof Arnulph von Metz ihren Ahnherrn ehrten und von der Legende die Stammtafel mit den Namen aquitanischer und brabantischer Heiligen schmücken ließen, die ephesische Formel. Wohl erst nach Pippins Krönung und der Gründung des Kirchenstaates, die dem Patrimonium Petri die Stützen und Gefahren weltlicher Macht schuf. Mochte Karl in seiner Lernbegierde mit Alkuin und Einhard, Angilbert und Theodulf wie mit im Rang Gleichen, wie mit Freunden der Freund verkehren und oft gar als dankbarer Schüler zu ihrer Lehrweisheit aufblicken: das Bewußtsein erhöhender, über den Troß hebender Weihe blieb in ihm lebendig; und der kräftigste Vertreter kaiserlicher Theokratie, den die Reichsnothwendigkeit trieb, die Kirche in seinen Dienst zu zwingen, durfte, ohne Mißverstand fürchten zu müssen, von sich sagen, daß er durch Gottes Gnade Oberhaupt des Imperiums geworden sei. Die Zumuthung, vor dem Sterblichen auf dem römischen Apostelsitz sich zu beugen, hat mit unwiderstehlicher Wucht dann Otto der Große abgewehrt, als er Johann den Zwölften der Unzucht und Simonie, des Meineids und Tempelraubes anklagen und von Petri Stuhl stoßen ließ und obendrein die Römer durch Eidschwur verpflichtete, nie wieder ohne seine Zustimmung einen Papst zu wählen. Der Gewaltige, der Leo dem Achten, dem Mann seines Vertrauens, mit eiserner Faust wieder den Weg auf die Sella gebahnt, den Gegenpapst Benedikt aus Rom in den deutschen Norden geschleppt und den diesem Usurpator anhangenden Stadtpräfekten mit den Haaren ans Reiterdenkmal des Marcus Aurelius geknüpft, auf einem Esel nackt durch die Tiberstadt gepeitscht und dann aus deren Mauern verbannt hatte, war Herr auch über Rom; war nun jedem Papst überthan. Von Gottes Gnaden. Doch erst ein langes Halbjahrtausend nach Ottos Tod in Memleben kam die Formel überall in Gebrauch, wo ein Herrscher unumschränkt über das Leben und die Habe ihm Unterthaner gebot. Dann erst gewöhnte die Christenheit sich in den Anblick, in die Vorstellung eines Kaisers oder Königs, der laut künden läßt, er habe seine Krone, ohne Mitwirkung irdisch Gezeugter, von Gott empfangen und sei für sein (durch kein Gesetz je gebundenes, durch keine Schranke begrenztes) Handeln nur dem höchsten Herrn des Himmels und der Erde verantwortlich. Leicht konnte da geschehen, daß aus dem Wort der Demuth ein Wort des Hochmuthes wurde und in Fürstenhirne sich der stolze Wahn einnistete, mit dem Goldreif habe auch eine besondere Kraft, eine den Gekrönten vorbehaltene göttliche Weihe sich um ihre Schläfen geschmiegt und die Empfänger solcher Gnade seien über den gemeinen Haufen erhaben. Das Gefühl der Abhängigkeit von dem Walten eines im Unermessenen thronenden Geistes schrumpfte oft allzu schnell und wich dem Wonnebewußtsein, in einem großen oder kleinen Erdenwinkel, als ein von Gottes Gnade Auserwählter, des höchsten Weltwillens Vertreter, Verkünder zu sein. Die Sätze des Korintherbriefes schwanden fast spurlos aus dem Gedächtniß. Wem frommte nun noch die Erinnerung? Paulus hatte geschrieben, nur durch die Gnade Gottes sei ihm, dem geringsten, unwürdigsten aller Apostel, beschieden gewesen, Gutes und Großes sogar zu vollbringen. Mancher König und Kaiser sprach: In mir wirkt, aus mir redet Gott, dessen Gnade mich krönte, und an Rechte und Sitten, an Wollen und Wünschen des Gehudels da unten knüpft mich drum keiner Pflicht fesselndes Band; da eine Euch unhörbare Stimme mir das Nothwendige, das Nützliche ins Ohr raunt, weiß ich allein, was morgen geschehen und wie meines Reiches Ordnung, um dafür geeignet zu werden, beschaffen sein muß.

»Le premier qui fut roi fut un soldat heureux.« Als nach diesem Vers in Voltaires »Mérope«, die in Lyon, mit Talma und der Raucourt, vor italienischen Gästen aufgeführt wurde, ein Klatschgetos dem Ersten Konsul gehuldigt hatte, ließ Bonaparte den auch für die Theaterpolitik verantwortlichen Grafen Chaptal von Chanteloup kommen und fragte ihn, weshalb er gerade dieses Stück für die Festvorstellung gewählt habe. Weil, war die Antwort, die lyoner Schauspieler nur diese Tragoedie rasch herausbringen konnten. »Dann wärs besser gewesen, ein paar Tage zu warten. Ich will nicht, daß man dieses Stück spiele; weder hier noch in Paris. Ein vom Glück begünstigter Soldat wurde der erste König! Welchen Sinn hat diese populäre Redensart? Wer sich bis auf die Höhe des Thrones zu heben vermag, ist der erste Mann seines Jahrhunderts. Da soll man nicht von Glück schwatzen; nur von Verdienst auf der einen, von Dankbarkeit auf der anderen Seite kann die Rede sein.« Diese Abneigung von dem Brauch, das Königsrecht auf Kriegsglück und Gewalt zu stützen, war auch bei Denen zu spüren, die den Machtsitz auf glatter gebahntem Weg erreicht hatten als der Artillerist von Ajaccio. Sehr früh auch der Drang, das Herrschergeschlecht einer Götterreihe zu verknüpfen. Große Menschen galten der griechisch-römischen Mythologie oft als Göttersöhne (Alexander, Platon, Pythagoras); und aus der altjüdischen, in die Legende von der Jungfrauenempfangniß fortwirkenden der Ueberlieferung wissen wir, wie gern in der Welt dieser Vorstellung der Menschenantheil an der Zeugung wichtiger Männer eingeschränkt und ihr Ursprung göttlicher Mitwirkung zugesprochen wurde. Isaak und Joseph, Samuel und Simson: der lieberragende war das Kind greiser Eltern oder lange unfruchtbar gebliebener Mütter, war, wie Jesus, vielleicht gar der Sohn einer vom Manne nie berührten Jungfrau; und die Phantasie der Volkheit konnte träumen, die besondere Wesensart solcher Männer, die, nach dem Plan einer Vorsehung, ihrem Stamm Großes erwirken sollten, sei göttlicher, nicht menschlicher Zeugerkraft zu danken. Konnte sich mit dem Gedanken trösten: Weil ihn ein Gott schuf, wuchs er höher als wir armem Menschensamen Entsprossenen. Und da der König stets aller sterblichen Menschen größter scheinen mußte, war in allen Zeiten und Zonen das Mühen fühlbar, ihm im Glauben die Weihe göttlicher Abkunft zu sichern. »Wie dürfte er über uns herrschen und seiner Brust, seinem Hirn das Recht zur Vorschrift unserer Lebensordnung entnehmen, wenn er nicht aus anderem Stoff gefügt wäre als wir?« Die Könige von Hellas sahen in Zeus ihren Ahnherrn; Romulus, den ersten Römerkönig, hat, nach uralter Sage, Mars im Schoß der Vestalin Rea Silvia gezeugt; und im Germanenmythos ist Wotan der Stammvater der Heerkönige. War jungen Völkern, deren Fühlen noch dumpf, deren Denkvermögen noch winzig war, denn zuzumuthen, dem Rath kühler Vernunft zu folgen und aus freiem Willen sich dem Wink eines ihnen Gleichen zu beugen, weil er geeignet sei, ihren nationalen Wünschen die Erfüllung zu bescheren? Wo sie gehorchen sollten, mußten sie einen Hauch göttlichen Odems wittern; ihr König durfte nicht ein Mensch wie andere Menschen sein. Und diesem König, der oft als Eroberer ins Land gekommen war, konnte die Berufung auf das immer verhaßte Recht des Siegers nicht behagen; wenn er ohne hemmende Schranke herrschen, die Gesetze nach Belieben aufheben oder ändern, nach Bedürfniß oder Willkür über die Habe der Unterthanen verfügen und selbst von Gekränkten und Beraubten als in der Glorie Thronender angebetet sein wollte, brauchte er einen stärkeren Rechtsanspruch, der doch milder schien und die Gemüther nicht zum Zorn aufreizte. Deshalb war die ephesische Formel ihm willkommen. Die paßte noch in die Vorstellung der Zeit des Byzantinischen Kodex, des dantischen Traumes von der Weltmonarchie und der Ubiquität des Kaiseradlers, des bedenkenlos gläubigen Satzes: »Den König müßt Ihr als Einen denken, der in seines Herzens Schrein alle Rechte gespeichert hat.« Der Zustand genügte dem Bedürfniß; und war drum erträglich. Die Völker hatten in der vom Himmelsglanz umleuchteten Krone einen der Anbetung würdigen Gegenstand und die Könige konnten das Recht auf schrankenlose Gewalt aus dem übersinnlichen Ursprung ihres Herrscherberufes ableiten. Jahrhunderte gehen und kommen; und in willenlos frommer Demuth dulden in Ost und West die Völker den sanften oder harten Druck der Hand eines Imperator oder Basileus, Kaisers oder Königs von Gottes Gnaden. Noch im sechzehnten Jahrhundert der Christenzeit sagt William Barclay (in dem Traktat De regno et regali potestate adversus monarchomachos), die Monarchie sei das irdischem Blick sichtbare Abbild des göttlichen Regimentes: nur von Gott, der die Völker höchstens einmal als Werkzeug zum Thronbau benutze, habe der König seine Krone und sei darum, so lange er nicht wider Gottes Gebot handle, unantastbar und noch als ein Ungerechter, als der ärgste Tyrann dem Urtheil und der Rache des Volkes entrückt; denn ihm habe, als dem einzig von Gott zur Herrschaft Berufenen, das Volk sich mit all seinen Rechten und Sitten, seinem Besitz und seiner Kraft, mit Städten und Aeckern, Land und Wasser unterworfen und damit auf jede Möglichkeit verzichtet, die einmal hingegebenen Rechte und Gewalten je wieder zurückzufordern; als ein Theil oder Abglanz göttlicher Majestät sei die Gewalt des Königs weder an Recht noch Brauch, weder an Volkswünsche noch an den Rath Edler gebunden und jeder Versuch, sie zu fesseln oder ihrem Willen den Weg zu sperren, als frevle Auflehnung wider die göttliche Weltordnung anzusehen. Und der in Frankreich lebende und lehrende Schotte wurde bald von dem Italiener Albericus Gentilis noch übertrumpft, der den König gegen den unwürdigen Verdacht, der Hüter des Gemeinwohles zu sein, verwahrt und ihm das Recht zuschreibt, jeder launischen Regung die unlösliche Fesselkraft des Gesetzes zu geben. Freilich nur einem König, der auf der Erde keinen Herrn über sich anerkennt und auch in Sachen des Glaubens, ohne des Papstes oder gar eines anderen Kirchenfürsten zu achten, das entscheidende Wort spricht. »Ein König im wahrsten Sinne des Wortes ist nur, wer sich in keiner Angelegenheit, geistlichen oder weltlichen, auch nicht in der allergeringsten, dem Richterspruch eines Anderen unterordnet. Der König steht nur unter Gott und ward allein berufen, auch die älteste Gesetzestafel nach eigenem Ermessen auszulegen. Was dem König paßt, ist Gesetz. Er ist ein auf Erden wandelnder Gott und seine Macht reicht weiter als die in vorchristlicher Zeit dem Vater über das Kind, dem Herrn über den Sklaven anvertraute.« Ungefähr eben so denkt Hobbes, der in dem Buch »De cive« den Unterthanen verpflichtet, auch ungerechtem, vom Gesetz unzweideutig verbotenem Befehl der Obrigkeit blind und stumm zu gehorchen, dem König die Befugniß vorbehält, den Sinn der Heiligen Schrift zu deuten und die Glaubenssatzung vorzuschreiben, den Besitz des Bürgers von der Willkür des Herrschers begrenzen, mehren und mindern läßt und als ein Vorrecht der Königsmacht verkündet, im ganzen Umkreis ihres Waltens mit alle Unterthanen bindender Kraft die Normen der Sitte und Sittlichkeit zu bestimmen, im Bezirk der gleicher Rechtssatzung Gehorsamen Ehre und Schmach zu prägen.

Ungefähr wie die Lehre Barclays und der Stuartvertheidiger Gentilis und Salmasius klang diese Rede. Nur glomm in Thomas Hobbes kein Fünkchen mystischen Glaubens. Der Mann, der das Wort vom Krieg Aller gegen Alle sprach und die Behauptung, der Zweck könne jedes Mittel heiligen, nicht scheute, war den Römern näher als dem Galiläer und benutzte die Religion nur als Werkzeug zur Festigung der Staatsallgewalt. Mit Macchiavelli, dem beredtesten Anwalt des Absolutismus, hätte er sich verständigt; auch mit dem Doktor Luther, der rieth, wider Vernunft und Wissen, wenns die Obrigkeit befehle, zu glauben, die Addition von Fünf und Zwei ergebe Acht. Nicht so leicht mit Bossuet; der Bischof von Meaux wäre ihm allzu christlich und daneben allzu kritisch gewesen. »Der Königsthron ist der Thron Gottes, nicht eines Menschen. Als Diener Gottes, von dem alle Macht kommt, handelt der König: deshalb ist seine Person, als eines Statthalters Gottes, heilig; ist sie vom höchsten Herrn selbst gesalbt und auserwählt, hienieden den Willen der göttlichen Majestät zu vollstrecken. Der Friede jedes Gemeinwesens ist bedroht und das Staatsgefüge in Lebensgefahr, wenn das Volk sich das Recht zuspricht, aus irgendeinem Grunde sich in Empörung gegen den König zu wenden. Denn in dem König lebt der ganze Staat.« (Tout l'État est en lui: das Wort steht in der Schrift »Politique tirée des propres paroles de l'Écriture Sainte«. Daß Ludwig der Vierzehnte nie gesagt hat: »L'État, c'est moi«, scheint heute fast gewiß; daß ers nicht im April 1655, als gehorsamer Schüler Mazarins, der damals noch »der Staat« war, gesagt haben könne, hat schon Fournier erwiesen. Doch hätte der Satz nur mit der Deutlichkeit eines Entschüchterten ausgedrückt, was jeder Absolutist empfinden mußte. Und unter den Reden Napoleons fand ich eine, in der, noch 1813, der Kaiser zu den in die Gesetzgeberversammlung Abgeordneten spricht: »Wer mich angreift, greift den Leib der Nation an. Was ist ein Thron? Ein mit Sammet überzogenes Holzgestell. In der Sprache der Politik bin ich der Thron. Nur ich bin der Vertreter des Volkes. Ich bin der Staat.«) Solche Sätze Bossuets hätten dem englischen Materialisten, der den »Leviathan« schuf, nicht gefallen; doch auch das Rügerecht und den Einspruch ins Monarchenamt hätte er dem genialisch eifernden Kronprinzenerzieher nicht eingeräumt. Der sah, beinahe noch aus dem Auge eines Augustinus oder Tertullian, die unter dem Wink und unter der Hut des dreieinigen Gottes stehende Majestät des allerchristlichsten Königs; und schrieb dennoch: »Etwas vom Wesen der Gottheit lebt in dem König und flößt den Völkern Furcht ein. Aber vergeßt nicht, Ihr Götter aus Fleisch und Blut, aus Staub und Schmutz, daß Ihr eines Tages sterben werdet wie andere Menschen! Nur für eine kurze Zeitspanne trennt die Größe die Glieder des Menschheitkörpers; das Allen gewisse Ende stellt die Gleichheit wieder her. Weil den Königen alle Gewalt von oben kommt, schulden sie Gott Rechenschaft und dürfen die Gewalt, die er ihnen gab, nicht nach willkürlicher Laune anwenden. Zitternd müssen sie ihres Amtes walten und stets bedenken, wie grausig das Verbrechen wäre, wenn sie die vom Himmel stammende Macht zum Bösen gebrauchten. Ein König, der nicht nützt, nicht für das Wohl des Volkes sorgt, ist ein schlechter Diener des Herrn und wird eben so gestraft wie einer, der gewaltthätig im Lande haust. Wer von Gott die Macht hat, muß wie Gott herrschen: edel, uneigennützig, wohlthätig. Wie der König die Hand vom Blut Unschuldiger rein halten soll, so soll er auch die Zunge hüten, die nicht minder gefährliche Wunden schlägt als das Schwert. Was ist von einem König zu erwarten, der die Zunge nicht zügeln kann und dessen Rede unaufrichtig ist? Die Kunst der Rede soll dem König nicht ein versperrtes Gebiet sein. Doch darf er auch nicht zu viel reden. Ein Wäscher, heißts im Ekklesiastes, ist nicht besser denn eine Schlange, die unbeschworen sticht. Wer zu unrechter Zeit redet, wird nicht nur lästig, sondern schadet geradezu. Ein Narr, spricht der Prediger Salomo, macht viele Worte über Gewesenes und über Das, was nach ihm sein wird: und von Beidem weiß der Mensch doch nichts. Der König muß Herr seiner Zunge sein. Schweigen zu können, ist seine wichtigste Pflicht: denn ohne Wahrung des Geheimnisses frommt der nützlichste Entschluß nicht und ohne Schweigsamkeit ist keine Kraft. Wer viele Worte macht und keins davon hält, Der ist wie Wolken und Wind ohne Regen: so stehts unter den Sprüchen Salomos, des von David gezeugeten Königs; und ferner: Wer seine Zunge nicht im Zaum halten kann, ist wie eine offene, der Mauern beraubte Stadt. Durch unbedachte, verwegene Rede hat mancher König Unruhe gestiftet. Drum rief der weise Priesterkönig: Leget ein Schloß auf meine Lippen und stellet Wächter um meinen Mund, auf daß meine Zunge mich nicht verderbe!« Der Erzieher, der so zu seinem Zögling, zum Dauphin von Frankreich zu sprechen wagt, ist weit von dem Glauben an die Allmacht und Allweisheit, Allgegenwart und Allwissenheit der Könige. Ist, all in seiner Frommheit, dem Bracton, der die Möglichkeit sah, der Statthalter Gottes könne sich in einen Satanspriester wandeln, näher als dem ungläubigen Thomas aus Malmesbury. Mit hartem Wort rügt er die Willkürherrschaft; und tritt für den Absolutismus als Kämpfer nur ein, weil ihm die Völker noch gottmenschlicher Führung bedürftig, noch nicht reif für die Aufgabe scheinen, ihres Schicksals Ring mit starker, von Weisheit gelenkter Hand selbst zu schmieden.

Wie sie bald danach, auf der Angelninsel zuerst, dann im Frankenreich, reiften und, im stolzen Bewußtsein der Mündigkeit, aus schwüler Mystik in die kühle Klarheit der Vernunftatmosphäre langten, ist Völkern und Fürsten oft erzählt worden. Der asiatisch-egyptische Spuk zerflattert; und der Wirbelwind, der über den Aermelkanal ins Reich des Heiligen Louis weht, fegt des Dunstes letzte Schwaden in den Wolkenkehricht. Just in den Ländern, wo einfältiger Glaube einst der Hand des Königs die Kraft zur Heilung von jeglicher Siechthumsform zugetraut hat, richtet man nun die Könige, köpft die unter dem Auge der höchsten Himmelsmacht Gekrönten und schließt mit denen, die der erwachsene Volkswille leben läßt, Verträge, in denen die Rechte und Pflichten beider Kontrahenten genau abgegrenzt werden. Der Begriff der Monarchie bildet sich um; paßt sich neuer Nothwendigkeit an. Wer König heißen will, braucht nicht mehr, wie Saul in Israel, der an Körpermaß Längste, nicht, wie Herodots Aethiopierkönig, jedem Blick als der Kräftigste erkennbar, braucht auch nicht von der Weissagung einer Sybille als Weltmonarch, Erlöser und Friedenbringer empfohlen zu sein. Gewissenhafte Haushalter und tüchtige Geschäftsführer werden gesucht. Ein Volk, das die Stuarts oder die Lilienlouis erlebt hat, wäre nicht von dem Bilde des Normannenherzogs zu blenden, der, als Sohn Roberts, des Teufels der Normandie, und einer Kürschnerstochter, im raschesten Ritt den Bogen zu spannen vermag, dessen Sehne der Griff eines britischen Edlen, auch eines mit beiden Beinen auf festem Grund stehenden, niemals noch vom Bügel zum Schaft herabzog. Kriegerkunst, dem Eroberer unentbehrlich, scheint an dem Erhalter, Verwalter des Staates kaum noch wichtig. Die heroische Zeit des Königsgedankens ist überlebt. Auch der Machtstreit mit der Kirche längst schon entschieden. Seit der erste Papst Gelasius an Anastasios Dikoros, den Basileus von Byzanz, geschrieben hatte: »Weil am Tag des Jüngsten Gerichtes die Nachfolger Petri auch vom Wirken der Könige Rechenschaft zu geben haben, lebt in der Priestergewalt höhere Bedeutung, heiligere als in irgendeiner Königsmacht«, war der Primat unter den Trägern geistlicher und weltlicher Gewalt streitig gewesen. Durchs ganze Mittelalter hin. Nun war die Saat der Reformatoren auch im Römerland aufgegangen. In dem Entschluß des zweiten Calixtus, von der Stunde des Wormser Konkordates an dem Kaiser das Recht zur Belehnung der Bischöfe mit Reichsgut und Kirchenregalien zu gewähren, hätte der kleinste Territorialherr jetzt nicht mehr ein ausreichendes Zugeständniß der Kurie gesehen. Am hellen Tag wenigstens öffnet sich dem von Rom her in den Bereich weltlichen Regimentes vordrängenden Einfluß fortan kein Schleußenthor. Der Priester, der dem Akt der Krönung die im Volksempfinden nachhallende Weihe giebt, ist noch willkommen. Doch mancher König betont schon laut, daß er die Krone nicht von einem Papst oder anderen Fremden empfangen, sondern »aus eigenem Recht« aufs Haupt gesetzt habe. Von Gottes Gnaden? Die alte Formel hatte so gute Dienste geleistet; wozu sie ohne Zwang opfern? Sie putzte den Titel des Kaisers, den der Pfalzgraf vor seines Gerichtes Schranke lud und dem in der Wahlkapitulation, für den Fall schuldvollen Fehles, die Absetzung angekündet worden war. Wie im Patrimonialstaat, dem ins Weite gedehnten Erbgut einer Familie, so hatte sie auch in der Lehensmonarchie gegolten, die auf Eide gegründet, durch Eidbruch zu lösen war. Der Kluge bewahrt Ehrwürdiges, bis ers fahren lassen muß. Auch der hinter das Goldgitter eines Vertrages gezwängte König mag sagen: Von Gottes Gnade bin ich, was ich bin.

Doch soll er, der Solches spricht, an den demüthigen Apostel Paulus denken, nicht an Karl Stuart und den Sonnenkönig. Woher nähme eine Europa, deren Antlitz von Zweifelssorge durchfurcht, von schlimmer Erfahrung verrunzelt ist, je noch Monarchen, wenn, nach dem Wort des Aristoteles, nur Einer, der, wie ein Gott die Menschheit, alle Mitlebenden überragt, des Königstitels würdig wäre, nur, nach dem Prahlruf des Korsen, der erste Mann seines Jahrhunderts den Thron besteigen dürfte? Rückfälle in den Brauch der Wahlmonarchie findet der Europens Leib umkreisende Blick heute ja höchstens noch auf den von Asiens Sonne gewärmten Flächen der Ostflanke. Dahin holt man aus Sigmaringen, Kopenhagen, Koburg einen Prinzen, aus Potsdam einen Offizier, aus Genf einen grauen Verschwörer: und kürt ihn zum Fürsten. (Weil er Halbgott und Heros scheint? Nein: weil er nützliche Familienbeziehungen hat oder im Wahlland Anhang zu werben wußte.) Der Westen weicht, wenn er nicht zur Republik abschwenkt, nicht von der Erbmonarchie, die alt und schon dadurch den Meisten heilig ist und zwar selbst den Untüchtigsten auf den Thron hebt, aber durch tausend Gefühlserinnerungen, durch die Gemeinschaft langen Erlebens, guten und schlimmen, geschirmt wird und für alle Zeit den Wettbewerb um die höchste Staatsstelle mit seiner ruhlosen Wirrniß und eklen Massenvergiftung ausschließt. Das Ziel aller Kämpfe für Volksrecht und Verfassung war, den monarchischen Staaten einen Zustand zu sichern, der dem König jede Möglichkeit zu nützlichem Wirken läßt und ihm jede Möglichkeit nimmt, dem Lande zu schaden. Nun mag der vom Zufall der Geburt (oder des Todes) mit dem Erbrecht Beschenkte herrschen. Die Namen, oft nur die Namensziffern wechseln; der König, der zur Regirung berechtigte Sohn der Dynastie, kann niemals sterben. Und wenn die Dynastie ausstürbe: wer vermag sich vorzustellen, daß statt eines Habsburg, Hohenzollern, Wittelsbach dann ein aus landfremdem Haus gewählter Mann in Oesterreich, Preußen, Bayern die Krone trüge? Die Tage solcher Wahlmöglichkeit scheinen für immer dahin. Weil sie allzu deutlich offenbaren würde, daß der so Gewählte nicht von Gottes, sondern von Volkes Gnade ist? Diese Offenbarung könnte dem Wahn, der sich »Zeitgeist« dünkelt, nur schmeicheln. In der Frühe des neunzehnten Jahrhunderts schrieb Joseph de Maistre: »Ich bin es, der die Könige einsetzt: also stehet geschrieben. Und diese (nicht etwa als Redensart oder Rhetorenbild eines Predigers zu nehmende) einfache und leicht faßliche Wahrheit gilt auch für die Gebiete der Politik. Gott setzt die Könige ein; er pflanzt die königlichen Geschlechter, läßt sie in einem Gewölk, das ihren Ursprung verhüllt, reifen und erst hervortreten, wenn Ruhm und Ehre sie krönt. Der Mensch kann wohl da als Werkzeug nutzbar werden, wo einem souverainen Fürsten die Macht genommen, wo diese geraubte Macht einem schon vorher Gefürsteten übertragen wird, niemals aber souveraines Fürstenrecht verleihen. Noch sahen wir keine Dynastie, deren plebejischer Ursprung sich nachweisen ließ; der Tag, an dem dieser Nachweis gelingen könnte, begönne einen neuen Abschnitt der Weltgeschichte.« Als Sardiniens Vertreter am Hof des Zaren schrieb der fromme Bruder des Zimmerreisenden Xavier diese Sätze. Das Buch, das sie ans Licht bringen sollte (»Essai sur le principe générateur des constitutions politiques et des autres institutions humaines«), erschien erst 1810 in Petersburg: fast sechs Jahre nach der Krönung des korsischen Plebejers, dessen Geschwister sich bald auf den Thronen großer und kleiner Reiche räkelten. Dämmerte der Monarchie nun der letzte Morgen? Sie lebt noch; sieht gar nicht schwindsüchtig aus. Nur Laetitiens Brut wohnt nicht mehr im Kronrecht. Kühler als der späte Verkünder des theokratischen Absolutismus hat der Wirtschafthistoriker Wilhelm Roscher die Entwickelungmöglichkeiten beurtheilt, da er schrieb, nur eine in den Tagen kindhafter Volkseinfalt gegründete Erbmonarchie könne dauern: denn ohne Herzenshang, ohne ein religiöser Andacht ähnliches Massengefühl, wie es nur auf niedriger Kulturstufe keime, sei die willige, völlige Hingebung an ein Fürstenhaus und dessen schwache oder verächtliche Sprossen undenkbar. Das Haus Bonaparte zerfiel. Napoleon? Das Genie herrscht wirklich aus eigenem Recht. Und der Mann, der als Reiter, »ruhig auf einem wilden Roß«, gemalt sein wollte, vor einer Büste Alexanders des Großen auf brüllte, der Makedone sei kleiner als er gewesen, und eben so laut bestritt, daß sein Sohn ihn, das Geschöpf der Zeit, ersetzen könne, sprach in Mailand dennoch, als er die Eisenkrone Karls des Großen auf den Schädel gestülpt hatte: »Weh Dem, der danach greift! Gott gab sie mir.« Der Gott, der Carolum auserwählt hatte.

Deutschen Fürsten hatte Fritz von Preußen, ehe es noch zu Grenzregulierung und Konstitution kam, den Imperatorenwahn auszutreiben versucht. »Der König muß sich an die Stelle des armen Mannes setzen und sich fragen, was er, unter solchen Lebensbedingungen, vom Monarchen wünschen würde. Wenn der König seine Pflicht erfüllen will, darf er nie vergessen, daß er ein Mensch ist, wie der Geringste der ihm Unterthanen, und als Erster Diener des Staates so redlich, klug und uneigennützig zu handeln hat, als müsse er in der nächsten Stunde den Mitbürgern von seiner Verwaltung Rechenschaft geben. Könige sind Menschen wie andere; haben nur Wichtigeres zu thun. Wer sich für besonders merkwürdig hält, meint in seiner Eitelkeit, die Welt wolle jede Kleinigkeit erfahren, die ihn angeht. Wer immer regirt hat, ist, wie ein Gott, an den Weihrauch gewöhnt und müßte verschmachten, wenn ihm das Lob versagt bliebe. Der König nennt sich zwar ›Wir‹, ist aber nicht etwa vielfach da. Wie der Herrgott während der Messe, so dürfte auch der König sich stets nur in seiner Herrlichkeit zeigen.« Das war einmal Preußenstil. Auf den Sohn des gekrönten Korporals folgt ein dicker Lüdrian und Wundersucher, dann ein unköniglich kleinmüthiger Herr, den York und Schill, Stein, Scharnhorst, Gneisenau zur befreienden, rettenden That zwingen mußten. Friedrich Wilhelm der Vierte: »Keiner Macht der Erde soll je gelingen, mich zu bewegen, das natürliche, gerade bei uns durch seine innere Wahrheit so mächtig machende Verhältniß zwischen Fürst und Volk in ein konventionelles, konstitutionelles zu wandeln. Von Gott allein habe ich meine Krone und nur ihm bin ich von jeder Stunde meiner Regirung Rechenschaft schuldig.« Sieben Jahre später, im Zorn über die widerspenstigen Unterthanen: »Ungezogene Kinder zur rechten Zeit die Ruthe fühlen zu lassen, ist schon durch Salomon und Sirach empfohlen.« Acht Monate danach: »Hört die väterliche Stimme Eures Königs, Bewohner meines treuen und schönen Berlins, und vergesset das Geschehene! Eure liebreiche Königin und wahrhaft treue Mutter und Freundin, die sehr leidend darniederliegt, vereint ihre innigen, tränenreichen Bitten mit den meinigen.« Der König von Gottes Gnaden muß unter die Urkunde des »konstitutionellen Verhältnisses« seinen Namen setzen; vor den Leichen der Rebellen den Hut ziehen; wird zur Zielscheibe giftigen Pöbelspottes. Das Ministerium ist zu feierlicher Anerkennung der Revolution gezwungen, »als einer, deren ruhmvoller und eigenthümlicher Charakter darin besteht, daß sie, ohne Umsturz aller staatlichen Verhältnisse, die konstitutionelle Freiheit begründet und das Recht zur Geltung gebracht hat. Auf rechtlicher Grundlage steht die Versammlung, steht die Krone; diese Grundlage halten wir fest.« (Hansemann.) In der Preußischen Nationalversammlung sagt Lothar Bucher: »Das ganze Gebäude des Absolutismus, so sorgfältig gezimmert, so voll künstlicher Dunkelheit, anscheinend so unerschütterlich gegründet, es ist vor dem Frühlingshauch einer Märznacht über den Haufen gefallen.« Wird die Frage erörtert, ob man die ephesische Formel erhalten oder abschaffen solle, und auf die Aenderung des Titularrechtssatzes schließlich nur verzichtet, weil (wie ein Minister zu bedenken empfiehlt) dem Christenglauben Jeder, der Geringste selbst, von Gottes Gnaden sei. Das war die Antwort auf die Reden, die der Abgeordnete Otto von Bismarck-Schönhausen im Ersten Vereinigten Landtag gehalten hatte. »Die preußischen Monarchen waren nicht von Volkes, sondern von Gottes Gnaden im Besitz einer faktisch unbeschränkten Krone, von deren Rechten sie freiwillig einen Theil dem Volk verliehen haben: ein Beispiel, welches in der Geschichte selten ist. Für mich sind die Worte ›von Gottes Gnaden‹, welche christliche Herrscher ihrem Namen beifügen, kein leerer Schall, sondern ich sehe darin das Bekenntniß, daß die Fürsten das Szepter, das ihnen Gott verliehen hat, nach Gottes Willen auf Erden führen wollen.« Der so sprach, ließ sich durch Revolution und Konstitution nicht im Glauben wandeln. Im März 1849 ruft er: »Es ist ein weit verbreitetes Vorurtheil, daß ein konstitutioneller König kein König von Gottes Gnaden sein könne. Ich bin der Meinung: er ist es gerade recht!« Und sagt im Herbst des selben Jahres: »Die preußische Krone darf sich nicht in die machtlose Stellung der englischen drängen lassen, die mehr als ein zierlicher Kuppelschmuck des Staatsgebäudes erscheint, während ich in der unseren dessen tragenden Mittelpfeiler erkenne.« Er hats noch bereut; hat noch gesehen, daß Victoria die fette Frauenhand über das Erdenrund reckte und in ihrem Weltreich Alles in Allem war. Nicht verantwortlich und dennoch ungemein mächtig: nicht, wie in heidnischer Zeit mancher Skandinavenkönig, in Staatsnoth den zornigen Göttern als willkommenes Opfer bestimmt, sondern, wie (nach Diodors Bericht) alte Egypterherrscher, als Quell alles Guten gepriesen und von der Schuld an allen Uebeln, die sicher nur von gewissenlosen oder dummen Räthen bewirkt waren, vor dem Richtstuhl der Volksgemeinde entbürdet. Auch von der Kuppel aus, merkte er, läßt sich ein Haus leiten; und hätte weder dem Elferausschuß der Konservativen Partei, der dem König von Gottes Gnaden größere Zurückhaltung empfahl, noch Herrn von Heydebrand widersprochen, der 1908, am Tag Luthers und Schillers, im Reichshause sagte: »Man muß ganz offen aussprechen, daß es sich hier um eine Summe von Sorgen, von Bedenken, von Unmuth handelt, der sich seit Jahren angesammelt hat, angesammelt auch in Kreisen, an deren Treue zu Kaiser und Reich bisher noch Niemand gezweifelt hat.« Der in Friedrichsruh Vereinsamte, dem der Schoßrock des Deichhauptmannes nicht mehr paßte, hätte die Warnung dick unterstrichen; nicht zaudernd bedacht, ob Bossuet, dem schon ehrfurchtloses Gemurr Todsünde schien, so laute Rüge eines Herrscherwandels billigen könnte; und der Frage nach der heute noch erhoffbaren Lebensdauer der alten Formel vielleicht die Antwort gefunden: »Die hält wohl noch eine Weile, wenn sie nur an den höchsten Hoffeiertagen, wie Krone und Purpur, Szepter und Schwert, den in den Dom oder Weißen Saal Zugelassenen gezeigt wird, und bricht erst unter der Hand, die darauf pocht.«

 

Wilhelms Jugendgeschichte, des Kaisers, ist die Geschichte seines Verhältnisses zu dem Inbegriff eines Königthumes von Gottes Gnaden und seines Verhältnisses zu Otto Bismarck, dem Diener, dem Kanzler, des legitimen Herrn zum beamteten Genius. Dieses Zwillingverhältniß ist der Jugend Wilhelms des Zweiten zum Schicksal geworden.

Achtzehn Jahre lang sah es, in der Zeit, die man die Jugendepoche Wilhelms des Zweiten nennen durfte, aus, als wolle die deutsche Menschheit Dantes Traum von dem Universalmonarchen, spät und auf ihre besondere Weise, noch einmal träumen. »Der Kaiser will durchaus allein regiren«, sprach Bismarck zum Fürsten Chlodwig zu Hohenlohe. Dieses Ziel ward erreicht. Wer über deutsche Politik spricht oder schreibt, muß, wenn er nicht heucheln will, den Kaiser nennen. Nur auf ihn blickt das Ausland; das einem Minister des Zaren, einem chinesischen Provinzherrscher mehr Willensfreiheit zutraut als einem deutschen Kanzler. Von Wilhelms Lippe fällt jede Entscheidung, jede Antwort sogar auf Fragen des Glaubens und der Sittlichkeit, der Kultur und der Kunst. Ist dieser Zustand für das Reich und den Kaiser ersprießlich? Wilhelm hat ihn gewollt. Und weil er ihn wollte, mußte der Mann bald lästig werden, der in der Ubiquität monarchischer Gewalt das gefährlichste Reichsverhängniß sah. Weil der Aar ihm, der Kaiservogel die Gaffer entzog? Blendete Ehrgeiz das Auge des Greises? Wollte etwa er durchaus allein herrschen?

Am einundzwanzigsten April 1890 hat Friedrich von Baden, zwei Tage danach der Kaiser zu Chlodwig gesagt: »Es handelte sich um die Frage, ob die Dynastie Bismarck oder die Dynastie Hohenzollern regiren solle.« Und schon am zweiundzwanzigsten Juni 1888 hatte die Kaiserin Friedrich vor dem selben Vertrauensmann das Urtheil gesprochen: Bismarck hat zwanzig Jahre unumschränkt regirt und konnte nicht ertragen, bei dem Monarchen einem Willen zu begegnen.« Die Kaiserin war schlecht unterrichtet. Chlodwig konnte ihr Urteil aus eigener Erfahrung berichtigen, war aber zu pfiffig, um höchste und allerhöchste Herrschaften durch Widerspruch und Belehrung je zu ärgern. Bismarck hat niemals unumschränkt regirt, hat stets mit dem zähen Willen des Monarchen zu rechnen gehabt und unter der Hartnäckigkeit dieses Greisenwillens oft gelitten. Graf Saint-Vallier, dem er einst sein übervolles Herz ausschüttete, hat die folgenden Sätze notirt: »Ich achte den Kaiser sehr hoch, bin ihm ganz ergeben und habe Gesundheit und Kraft in seinem Dienst wirklich nicht gespart. Er aber giebt mir beständig Grund zur Mißstimmung und versetzt mir die schmerzhaftesten Stöße. Ohne die Briefchen, die er mir zu schreiben geruht, würde mirs besser gehen. Er ist von Natur nobel, aber ängstlich, eigensinnig und in Vorurtheilen befangen. Er weiß selbst nicht, welchen Einflüssen er zugänglich ist; ich fühle sie, ohne immer ihre Herkunft zu ahnen, und nutze mich im Kampf gegen ihre Wirkung ab. Wie Penelope muß ich stets wieder von vorn anfangen. Meine Geduld wird auf harte Proben gestellt und manchmal fürchte ich, daß die Nerven nicht länger aushalten.« So sprach der Groll des Ueberbürdeten. An solche Seufzer, die wie Anklagen klangen, mag er gedacht haben, als er später schrieb: »Dem Kaiser gegenüber lag mir persönliche Empfindlichkeit sehr fern; er konnte mich ziemlich ungerecht behandeln, ohne in mir Gefühle der Entrüstung hervorzurufen. Das Gefühl, beleidigt zu sein, werde ich ihm gegenüber eben so wenig gehabt haben wie im elterlichen Hause. Das hinderte nicht, daß mich sachliche, politische Interessen, für die ich bei dem Herrn entweder kein Verständniß oder eine vorgefaßte Meinung vorfand, die von Ihrer Majestät oder von konfessionellen oder freimaurerischen Hofintriganten ausging, in der Stimmung einer durch ununterbrochenen Kampf erzeugten Nervosität zu einem passiven Widerstand gegen ihn geführt haben, den ich heute, in ruhiger Stimmung, mißbillige und bereue, wie man analoge Empfindungen nach dem Tode eines Vaters hat, in Erinnerung an Momente des Dissenses«. Große und kleine Entschlüsse mußten dem Herrn abgerungen werden. Das Gerede vom »Hausmeierthum« wirkte auf ihn, der de relation sûre war, kaum; doch nie verließ ihn die Angst, des Dieners stürmende Leidenschaft könne auch ihn und mit ihm das Land in Fährniß reißen. Fast immer gab er schließlich nach, weil er sich zwingenden Gründen nicht aus Eitelkeit entziehen mochte. Er wollte nicht glänzen, brauchte es nicht: denn er war ja der König. Zur Befriedigung persönlicher Eitelkeit genügte ihm die Gewißheit, daß sein Instinkt die Lebensfragen der Armee stets richtig beantwortet hatte. Nie hätte er auf eigene Faust die Politik Preußens noch gar des Reiches festgelegt, nie hinter dem Rücken seines Ministers einem Souverain oder Botschafter ein auch nur lose bindendes Versprechen gegeben. Er wußte, was er an Bismarck hatte. War stolz darauf, daß alle gekrönten Vettern ihm diesen Berather neideten. Schämte sich nicht, ihm die höhere Intelligenz, die reifere Erfahrung, das Genierecht sogar zuzuerkennen und seiner Leitung zu folgen. Ein Entlassungsgesuch des Kanzlers lehnte er mit der Frage ab: »Soll ich mich in meinen alten Tagen blamiren?« Und blieb immer der Herrscher. Er hatte (schreibt Bismarck) »das königliche Gefühl, daß er es nicht nur vertrug, sondern sich gehoben fühlte durch den Gedanken, einen angesehenen und mächtigen Diener zu haben. Er war zu vornehm für das Gefühl eines Edelmannes, der keinen reichen und unabhängigen Bauern im Dorfe vertragen kann«. Die Enthüllung des Nationaldenkmals auf dem Niederwald nannte er »den Schlußstein Ihrer Politik, eine Feier, die hauptsächlich Ihnen galt.« Und als Bismarck fünfundzwanzig Jahre preußischer Staatsminister war, bekam er von dem »ewig dankbaren König und Freund« einen Brief (den vorletzten), dessen zweiter Absatz lautete: »Ein leuchtendes Bild von wahrer Vaterlandliebe, unermüdlicher Thätigkeit, oft mit Hintenansetzung Ihrer Gesundheit, waren Sie unermüdlich, die oft sich aufthürmenden Schwierigkeiten im Frieden und Kriege fest ins Auge zu fassen und zu guten Zielen zu führen, die Preußen an Ehre und Ruhm zu einer Stellung führten in der Weltgeschichte, wie man sie nie geahnet hatte; solche Leistungen sind wohl gemacht, um den fünfundzwanzigsten Jahrestag mit Dank gegen Gott zu begehen, daß Er Sie mir zur Seite stellte, um Seinen Willen auf Erden auszuführen. Und diesen Dank lege ich nun erneut an Ihr Herz, wie ich Dieses so oft aussprechen und bethätigen konnte.« So dachte, in so kindlichen Lauten sprach der treue Mann, der auf des Enkels Befehl jetzt von willenlos, taub und blind Gehorsamen Wilhelm der Große genannt wird.

Er hätte gelächelt, wenn ein Höfling ihm mit einer Warnung vor der Dynastie Bismarck gekommen wäre. Für ihn gab es keine Rivalität. Daß er König geblieben und Kaiser geworden war, dankte er dem Diener. Der trug die doppelte Last der Arbeit und der Verantwortung vor Volk und Geschichte. Hoch über ihm aber thronte der König; und kein Zornruf, kein Pfeil drang bis auf diese Höhe. Daß über den Kanzler mehr als über den Kaiser geredet wurde, war nur in der Ordnung, nur nützlich; und die Hauptsache, daß Preußen und Deutschland vorwärts kamen. Dynastie! Wollte der Kanzler die erworbene Macht denn vererben? Niemals war er töricht genug, solchen Wunsch zu hegen. Weil er unter dem Nachwuchs keinen anderen zuverlässigen Gehilfen fand, nahm er den Sohn ins Amt; gab ihm eine Stellung, für die seitdem die Richthofen und Tschirschky gut genug befunden wurden, und einen Sold, für den der bedachtsame Chlodwig nicht arbeiten wollte. Nie hoffte, nie wünschte er, Herbert solle sein Nachfolger werden. Hielts gar nicht für möglich. Dynastie! Der Vater setzte bei seinem Geschäft Jahr vor Jahr mindestens hundertundzwanzigtausend, bei dem des Sohnes noch ungefähr dreißigtausend Mark zu und Beide quälten sich redlich im Dienst. Als der Fürst die Zuweisung eines militärischen Adjutanten erbat (der seit 1890 zum Stab jedes Kanzlers gehört), wurde die Bewilligung im Militärkabinet abgelehnt; dreimal. In der winzigsten Personalfrage stieß er auf Schwierigkeiten, die oft erst nach Wochen zu überwinden waren. Augusta, Victoria, Luise, die Herrinnen der drei für die berliner Stimmung wichtigsten Höfe, waren gegen ihn. Im Großen Generalstab saß ihm kein Freund. Ihm wurde nicht, wie dem vierten Kanzler, in einem Hohenzollernschloß Krankenquartier bereitet; er fuhr nicht, wie dieser Durchlauchtige, im Sonderzug. Freilich: die Welt sprach von Bismarcks, nicht von Wilhelms Politik. Und darf deshalb von einer Dynastie Bismarck sprechen? Wurde der Glanz der Krone dadurch gemindert, daß die Nation für den Kulturkampf, den Schutzzoll, das Sozialistengesetz nicht den König, den Kaiser verantwortlich machte? Der Retter der Hohenzollern wurde nicht wie ein Lakai behandelt; doch auch nicht wie das Haupt einer Dynastie. Er hatte, da Alle zag zurückwichen, für den König den Kopf und die Ehre aufs Spiel gesetzt und in Sturm und Sonne, in Noth und Glück tausendfach seine Treue, seine persönliche Hingebung bewährt. Daß deutsche Fürsten den Schöpfer ihres Reiches dynastischer Anmaßung zeihen, ihm vorwerfen würden, er habe schlecht für das Haus Hohenzollern gesorgt, konnte er nicht erwarten. Wilhelm der Zweite und sein Großohm habens gethan. Seine Antwort hätten sie vielleicht wieder »grob« gefunden. Aber er brauchte nicht selbst zu sprechen; konnte ihnen den Brief vorlegen, aus dem sein König ihm zurief: »Zur Erinnerung an Ihre Silberne Hochzeit wird ihnen eine Vase übergeben werden, die eine dankbare Borussia darstellt und die, so gebrechlich ihr Material auch sein mag, doch selbst in jeder Scherbe dereinst aussprechen soll, was Preußen Ihnen durch die Erhebung auf die Höhe, auf welcher es jetzt steht, verdankt.« Das schrieb der Ahn, der Sieger in drei blutigen Kriegen. Der war stolz auf den großen Diener und gönnte ihm Raum. Der Enkel wollte allein regiren.

Als Mazarin gestorben war, fragten Beamte und Hofleute Ludwig den Vierzehnten; »Wer weist uns jetzt den Weg?« Und hörten die Antwort: »Ich!« Dankbarkeit hatte den König bestimmt, geduldig sich dem herrischen Willen des Kardinals zu fügen. Ludwig zählte freilich erst dreiundzwanzig Lenze, als der Tod ihn von dem übermächtigen Minister erlöste. Und er hat später gesagt: »Je ne sais ce que j'aurais fait, s'il avait vécu plus longtemps.« Was? Er hätte das Joch wohl noch länger getragen. Wenn nicht Einer mit dem Stachelwort gekommen wäre: Da sitzt der Todfeind Deiner Größe, Deines Ruhmes; Du bist nicht König, so lange dieser Schatten auf Deinen Thron fällt. Zu Wilhelm kam der Eine früh; der schlauste Winkelstratege: Graf Alfred Waldersee. Alle Stimmen klingen im Urtheil über diesen Krieger zusammen. Bismarck: »Waldersee ist ein konfuser Politiker, auf den nichts zu geben ist; was er sagt, ist werthlos. Er will den Krieg, weil er fühlt, daß er zu alt wird, wenn der Friede noch lange dauert. Es ist töricht, zu glauben, daß Waldersee Reichskanzler werden könne. Auch als Generalstabschef ist er ungenügend.« Der Kaiser: »Bismarck und Waldersee können einander eigentlich nicht leiden, haben sich aber im gemeinsamen Haß gegen Caprivi, den Bismarck stürzen will, verbündet. Was nachher kommt, ist ihnen gleichgiltig.« (Dieser freundliche Glaube trog. Bismarck hat sich niemals Waldersee verbündet, niemals ein intimes Wort mit ihm gesprochen und zu mir gesagt: »Ich würde den Mann nicht über die Schwelle lassen, wenn er nicht im Auftrag des Kaisers käme. Ich habe bei seinen Besuchen immer das Gefühl, er wolle – oder solle – nachsehen, ob es schon Zeit sei, einen schicklichen Kranz zu bestellen.«) Des Kaisers Mutter: »Waldersee ist ein falscher, gewissenloser Mensch, dems nicht darauf ankommen wird, sein Vaterland ins Verderben zu stürzen, wenn sein persönlicher Ehrgeiz befriedigt wird. Auch Kaiser Friedrich hat ihm nicht getraut und ihn für falsch angesehen.« Und damals war der böseste Theil seiner Thaten noch nicht ans Licht gebracht. Eine Gestalt, wie sie in der Geschichte des preußischen Heeres vornan nicht zum zweiten Male zu finden ist; ein frommer Degen aus der Sphäre des Kriminalromanes. Sein hohes Ziel hat er nicht erreicht. Er konnte nicht warten; versuchte immer wieder, seine knospenden Wünsche am Lampenlicht zu wärmen, um sie schneller so zu reifer Erfüllung zu bringen. Doch für die ihm und den ihm 1888 Verbündeten wichtigste Aufgabe war er der rechte Mann: er hat den künftigen Kaiser von dem ersten Kanzler getrennt; und im frühesten Stadium dieses Feldzuges sich als so guten Strategen bewährt wie niemals auf einem Schlachtgefild.

Verlasse Dich auf Fürsten nicht!
Sie sind wie eine Wiege.
Wer heute Hosianna spricht,
Ruft morgen: Crucifige!

Mit diesen Versen pflegte Bismarck die Erzählung der Vorgänge einzuleiten oder zu schließen, die zu seiner Entlassung geführt hatten. Die Verse sollen aus einem alten Kirchenlied stammen und nach Tagen, an denen Friedrich Wilhelm der Vierte ungerecht und ungnädig gewesen war, bei der Abendandacht im Hause des frommen Generals Leopold von Gerlach gesungen worden sein. »Von ihrer Wahrheit«, sagte der Fürst, »konnte ich mich eigentlich nur am Anfang und am Ende meines politischen Lebens überzeugen. Denn der alte Herr war zuverlässig. Gentleman: Sie können sich nicht vorstellen, wie selten Das in dieser Sphäre ist. Er wars. Kavalier alter Schule und preußischer Offizier. Wirklich Edelmann, im besten Sinn des Wortes, und nicht der Meinung, durch ein besonderes Geheimrathsverhältniß zum Lieben Herrgott von dem Satz Noblesse oblige dispensirt zu sein. Vorher habe ich Mancherlei gesehen (persönlich hatte ich über den armen König, der um meine politische Erziehung bemüht war, ja kaum zu klagen: er nahm sogar meine Schroffheiten gnädig auf); und was ich nachher am eigenen Leibe erlebt habe …« Wer die Tagebücher Hohenlohes liest, muß glauben, der Konflikt zwischen Kaiser und Kanzler habe knapp drei Monate vor Bismarcks Entlassung begonnen. Dieser Glaube würde trügen; wie fast jeder, der sich auf Angaben des im tiefsten Sinn treulosen, nur auf seinen Vortheil bedachten Mannes stützt.

»Cave: adsum!« Das steht auf einer Photographie, die der fünfundzwanzigjährige Prinz Wilhelm von Preußen dem neunundsechzigjährigen Fürsten Bismarck zum Geburtstag schenkte. »Nimm Dich in Acht: ich bin Dir nah!« Lächelnd zeigte der Kanzler das Bild. »Du weißt wohl nicht, mein Freund, wie grob Du bist? Diese Jugend glaubt sich fürchterlicher, als sie ist. Aber ich denke, wie Mephisto: Es gibt zuletzt doch noch 'e Wein.« Im Dezember 1887 empfahl er dem neunzigjährigen Kaiser, dessen Sohn von den deutschen Aerzten aufgegeben war, den Prinzen Wilhelm allmählich in die Staatsgeschäfte einführen zu lassen. Das war nicht leicht zu erreichen. Der Kaiser schwieg eine Weile; und sagte dann (in dem letzten Brief, den er seinem Kanzler schrieb) am Tag vor der Weihnacht: »Im Prinzip bin ich ganz einverstanden, daß Dies geschehe; aber die Ausführung ist eine sehr schwierige. Sie werden ja wissen, daß die an sich sehr natürliche Bestimmung, die ich auf ihren Rath traf, daß mein Enkel W. in meiner Behinderung die laufenden Erlasse des Civil- und Militärkabinets unterschreiben werde unter der Ueberschrift ›Auf Allerhöchsten Befehl‹, daß diese Bestimmung den Kronprinzen sehr irritirt hat, als denke man in Berlin bereits an seinen Ersatz! Bei ruhigerer Ueberlegung wird sich mein Sohn wohl beruhigt haben. Schwieriger würde diese Ueberlegung sein, wenn er erfährt, daß seinem Sohn nun noch größere Einsicht in die Staatsgeschäfte gestattet wird und selbst ein Civil-Adjutant gegeben wird, wie ich seiner Zeit meine vortragenden Räthe bezeichnete … Ich schlage Ihnen daher vor, daß die bisherige Art der Beschäftigung-Erlernung der Behandlung der Staats-Orientirung beibehalten wird, Das heißt: einzelnen Staatsministerien zugetheilt werde und vielleicht auf zwei ausgedehnt werde, wie in diesem Winter, wo mein Enkel freiwillig den Besuch des Auswärtigen Amts ferner zu gestatten neben dem Finanzministerium, welche Freiwilligkeit dann von Neujahr ganz fortfallen könnte, und vielleicht das Ministerium des Inneren, wobei meinem Enkel zu gestatten wäre, in (unleserlich) Fällen sich im Auswärtigen Amt zu orientiren. Diese Fortsetzung des jetzigen Verfahrens kann meinen Sohn weniger irritiren, obgleich Sie Sich erinnern werden, daß er auch gegen dieses Verfahren scharf opponirt. Ich bitte Sie also um Ihre Ansicht in dieser Materie.« Hand und Hirn sind müde Auch hier, wo es sich um einen Akt der Familienpolitik handelte und der Chef des Hauses frei verfügen konnte, begnügte der alte Herr sich mit einem Vorschlag und bat um eine Ansicht. Bismarck konnte nicht widersprechen. Der Brief des Kaisers war noch nicht sechs Monate alt: da war sein Enkel Deutscher Kaiser und König von Preußen. Wer würde ihn nun in die Staatsgeschäfte einführen? Der Kanzler natürlich. Den hat der Prinz ja stets höher geschätzt als irgend einen Ungekrönten. Prinz Wilhelm, schreibt Chlodwig, »ist ein etwas jugendlich rücksichtloser junger Mann, vor dem seine Mutter sich fürchtet und der auch mit seinem Vater Konflikte hat.« So ists geblieben; und die Eltern klagten dem Kanzler ihr Leid. Wenns in den neunundneunzig Tagen Differenzen gab, stand Kronprinz Wilhelm immer auf Bismarcks Seite. Der allein war ihm Autorität. Dem schien er ergeben, wie je ein dankbarer Schüler dem Meister. Schien? In einem Winkel keimte schon andere Hoffnung. Der alte Kaiser lebte noch, als General von Heuduck, ein Anhänger Waldersees, zu Chlodwig sagte: »es seien Anzeichen dafür vorhanden, daß der Prinz, wenn er Kaiser werde, sich doch nicht auf die Dauer mit Bismarck werde vertragen können.« Doch dieses Grüppchen irrt gewiß. Am ersten April 1888 ist Kronprinz Wilhelm des Kanzlers Tischgast und spricht also: »Um mich eines militärischen Bildes zu bedienen, so sehe ich unsere jetzige Lage an wie ein Regiment, das zum Sturm schreitet. Der Regimentskommandeur ist gefallen, der Nächste im Kommando liegt schwer verwundet darnieder. In diesem kritischen Augenblick wenden sechsundvierzig Millionen treue deutsche Herzen sich in Beängstigung und Hoffnung der Fahne und ihrem Träger zu, von dem Alles erwartet wird. Der Träger dieser Fahne ist unser erlauchter Fürst, unser großer Kanzler. Möge er uns führen I Wir wollen ihm folgen. Möge er lange leben!« Auf Bismarcks Wunsch wurde der Wortlaut der Rede für die offiziöse Veröffentlichung geändert (»weil es mir doch nicht passend schien, mich auf Kosten des leidenden Kaisers, der gerade damals, in der battenbergischen Sache, die Tapferkeit eines Märtyrers zeigte, feiern zu lassen«); aber sie war gehalten worden. Der Kronprinz hatte gesagt: Der große Kanzler führt und wir folgen ihm. Der Erbe des totkranken Kaisers.

Am vierten April überreicht Bismarck im Charlottenburger Stadtschloß die Denkschrift, in der er sagt, er müsse seine Entlassung erbitten, wenn die Prinzessin Victoria von Preußen dem Fürsten Alexander von Battenberg verlobt werde. Der Kronprinz konferirt fast täglich mit dem Kanzler (dem, nach der Geburtstagsrede, Kaiser Friedrich in einem heftigen Brief den Sohn unfreundlich geschildert hat). Am zehnten April kommts in Charlottenburg zum Waffenstillstand; die Kaiserin verständigt sich mit dem Kanzler über Kontresorfragen und andere Besitzrechtsansprüche und ist »enchantirt« von ihm. Inzwischen hat, unter dem Eindruck des antibritischen Preßfeldzuges, der Botschafter Malet an die Königin Victoria von England geschrieben, der deutsche Groll gegen britische Ingerenz werde wachsen, wenn Ihre Majestät sich merkbar für das Heirathprojekt der Tochter einsetze. Am vierundzwanzigsten April kommt sie; und empfängt am nächsten Tag den Kanzler. Erklärt sich für ihn und gegen die Kaiserin. Die Heirath ist politisch gefährlich; und die Tochter dürfe sich, als Frau des Deutschen Kaisers, nicht nur vom Heimathgefühl der Britin stimmen lassen. Sehr vernünftig und energisch. Sie versöhnt (unter Mitwirkung Friedrichs von Baden) den Kronprinzen endlich auch wieder seiner Mutter. Ende Mai wird die Puttkamer-Krisis akut. Sieben Tage nach Puttkamers Entlassung stirbt Friedrich. Und der Mann, der dem großen Kanzler als dem Führer folgen will, ist Kaiser. (Die Absicht, Puttkamer zurückzurufen, giebt er auf Bismarcks Rath auf; verleiht dem Entlassenen bald aber den Schwarzen Adler.)

Am letzten Julitag besucht der aus Rußland, Schweden, Dänemark fröhlich heimkehrende Kaiser den Kanzler und bleibt über Nacht in Friedrichsruh. »Damals«, sagte der Fürst später, »war der Herr von fast genanter Rücksicht. Daß ich ihn abends bis Elf erwartet hatte, fand er viel zu viel. Und morgens war ich noch beim Waschen, halb nackt, als er vor mir stand, mich bat, nicht etwa seinetwegen mich in Uniform zu werfen, und mir in den Hausrock half. Auch politisch mindestens noch die Stimmung des Bakkalaureus, der eigentlich von den Leuten über Dreißig nichts wissen mag, vor dem einen Exemplar aber gesteht: Der erste Greis, den ich vernünftig fand! Nur hats nicht lange vorgehalten«. Wie lange? Dreizehn Tage nach dem Schlafzimmergespräch schrieb der Hofprediger Stoecker an den Freiherrn Wilhelm von Hammerstein: »Man muß rings um das politische Centrum, das Kartell, Scheiterhaufen anzünden und sie hell auflodern lassen, den herrschenden Optimismus in die Flammen werfen und dadurch die Lage beleuchten. Merkt der Kaiser, daß man zwischen ihm und Bismarck Zwietracht säen will, so stößt man ihn zurück. Nährt man in Dingen, wo er instinktiv auf unserer Seite steht, seine Unzufriedenheit, so stärkt man ihn prinzipiell, ohne persönlich zu reizen. Er hat kürzlich gesagt: ›Sechs Monate will ich den Alten (Bismarck) verschnaufen lassen; dann regire ich selbst‹. Bismarck selbst hat gemeint, daß er den Kaiser nicht in der Hand behält. Wir müssen also, ohne uns Etwas zu vergeben, doch behutsam sein.« Wir: nicht die hochkonservative Partei oder Fraktion, sondern das Häuflein, dessen Glieder aus sehr verschiedenen Gründen für Alfred Waldersee fechten. Der hatte schon damals das schlau sich ins Ohr schmeichelnde Wort gesprochen: »Eurer Majestät glorreicher Ahnherr wäre seinem Volk nie Friedrich der Große geworden, wenn er neben sich die Allmacht eines Ministers geduldet hätte.« Der war seit dem zehnten August 1888 Chef des Großen Generalstabes und hielt (nach Hammersteins Wort) »mit Moltke und Albedyll wie ein Rattenkönig zusammen.« Kochte aber auf allen erreichbaren Feuern. Gatte der Witwe eines Prinzen von Holstein, eines Augustenburgers, also mit dem Vorrecht begnadet, die Kaiserin als Nichte seiner Frau ansprechen zu dürfen. Der Kaiser sieht ihn täglich, spazirt mit ihm durch den Thiergarten, will ihn, nicht einen Vertreter des Auswärtigen Amtes, auf die Reise nach dem Nordkap mitnehmen. Die Triasformation Waldersee-Stoecker-Hammerstein braucht nur noch ein Bischen nachzuhelfen; »behutsam, ohne persönlich zu reizen.« Bismarck ist ein schwächlicher Ritschlianer, ein lauer Laodicäer und äugelt mit den liberalen Feinden des rechten Glaubens. In der inneren Politik ist sein Allheilmittel das Kartell, dessen Fortbestand das Christenthum, die monarchischen und die konservativen Interessen gefährdet. Als Diplomat überschätzt er den Werth unserer Bündnisse, scheut, weil er sich für sich einen Krieg zu alt fühlt, die offene Auseinandersetzung mit Rußland und vergißt, daß Deutschland allein stark genug ist, um es mit jeder Koalition aufzunehmen. Ungefähr so las mans alle paar Tage. Wirkts auf den Kaiser? Gewiß. Er preist die sittliche und geistige Kraft des Hofpredigers. Der Generalstabschef hat sein Ohr. Und der »Alte« soll ja nur noch vier Monate »verschnaufen«. Der kluge (von Bismarck wohl nicht immer mit der nöthigen Vorsicht gebrauchte) Bleichröder stöhnt: »Wer steht dafür, daß die Herren nicht wieder das alte Spiel anfangen und dem Kaiser sagen: Eigentlich bist Du doch nur eine Puppe; Bismarck regirt. Das hat auf den alten Herrn keinen tiefen Eindruck gemacht; der junge wird empfindlicher sein«. Noch aber ist die Wirkung nicht sichtbar. Der Kaiser wünscht die Veröffentlichung des Immediatberichtes über das Tagebuch des Kronprinzen Friedrich. Nimmt den Grafen Herbert mit auf die Reise nach Süddeutschland, Wien und Rom. Uebernachtet am neunundzwanzigsten Oktober wieder in Friedrichsruh. (»Er ließ mich fast drei Stunden lang reden, so daß ich nachher furchtbar müde war, und zeigte sich von der liebenswürdigsten Seite. Meine Frau konnte sein heiteres, natürliches, bescheidenes Wesen gar nicht genug rühmen«.) Und schreibt am letzten Dezembertag: »Lieber Fürst! Das Jahr, welches uns so schwere Heimsuchungen und unersetzliche Verluste gebracht hat, geht zu Ende. Mit Freude und Trost zugleich erfüllt mich der Gedanke, daß Sie mir treu zur Seite stehen und mit frischer Kraft in das neue Jahr eintreten. Von ganzem Herzen erflehe ich für Sie Glück, Segen und vor Allem andauernde Gesundheit und hoffe zu Gott, daß es mir noch recht lange vergönnt sein möge, mit Ihnen zusammen für die Wohlfahrt und Größe unseres Vaterlandes zu wirken«. Als dieser Brief ankam, war eben ein Jahr seit den Tagen vergangen, in denen Kaiser und Kanzler berathen hatten, wie man den Prinzen Wilhelm in die Staatsgeschäfte einführen könne. Bismarck wußte zwar schon, daß mit dem neuen Herrn nicht leicht zu arbeiten sein werde; hatte aber versprochen, sich auch schwerem Dienst nicht zu versagen. Dem Großvater und der Großmutter Wilhelms versprochen. (Noch Weihnachten 1888 schrieb Augusta an ihn: »Sie haben unserem unvergeßlichen Kaiser treu beigestanden und meine Bitte der Fürsorge für seinen Enkel erfüllt«.) Er würde seine Pflicht thun und der Jugend ihr Recht lassen. Und glaubte, wie ein Ackerpferd einst in den Sielen, den Halftern des Dienstes sterben zu sollen.

Noch siehts so aus. Chlodwig (der immer gern Kamarilla spielte und sich mit seinen Anliegen sogar an Herrn von Lucanus wandte, trotzdem dessen verbindliche Glätte ihm kein rechtes Vertrauen einflößt) will am einundzwanzigsten Januar 1889 den Kaiser »in vorsichtiger Weise« gegen die von den verantwortlichen Militärbehörden für das Reichsland geforderten und von Bismarck gebilligten Maßregeln stimmen; muß aber notiren: »Der Kaiser hüllte sich in Schweigen und war nicht dazu zu bringen, eine Meinung zu äußern. Ich sah, daß er ganz unter dem Einfluß des Reichskanzlers steht und sich nicht traut, eine dessen Meinung abweichende Ansicht zu äußern.« Da haben wir ein Beispiel der Tonart. Weil der Kaiser, der, ohne Vorbereitung auf den Regentenberuf, vor sieben Monaten auf den Thron gelangt ist, gelten läßt, was die höchste militärische und civile Behörde für nothwendig hält, wird ihm Mangel an Muth und an Selbständigkeit nachgetuschelt. »So mußte ich den Versuch aufgeben, an dieser Stelle eine Stimmungsänderung anzubahnen«. Im Bunde mit Chlodwig ist die Kaiserin Augusta und die Großherzogin Luise (er »vertröstet die hohen Damen auf die Zukunft«). Schon am fünfundzwanzigsten Januar aber sagt der Großherzog von Baden, »es sei nicht unmöglich, daß der Kaiser mit Bismarck hintereinander kommen werde, wenn er merke, daß man ihn nicht Alles mittheile; vorläufig wolle er Alles vermeiden, weil er den Fürsten Bismarck für die Militärvorlage brauche.« Chlodwig findet, der Kanzler »mache den Eindruck eines geistig nicht ganz gesunden Mannes.« Die letzten Monate hatten den samoanischen Aerger, die Eröffnung des Strafverfahrens gegen Geffcken, die Konflikte mit der Royal Niger Company und dem Engländer Levis gebracht, der in Südwestafrika der deutschen Verwaltung unbequem wurde; lästige Sachen, die anständig erledigt werden, aber keinen Putzerfolg eintragen konnten. Am sechzehnten Februar wird Waldersee als neues Mitglied des Herrenhauses vereidet. Am ersten April holt der Kaiser ihn ab, ehe er in die Wilhelmstraße fährt, um dem Kanzler zum Geburtstag zu gratuliren. (Das Geschenk, eine Ulmer Dogge, hatte Boetticher ausgesucht.) Im März war Bismarck sehr oft zum Vortrag befohlen worden. Der Großherzog von Baden hatte ihn zweimal besucht und mit dem Kaiser die Frage erörtert, wie lange der Kürassier wohl noch dienstfähig sein werde. Das sickert durch. Als er im Reichstag für die Alters- und Invaliditätversicherung eintritt, sagt der Kanzler: »Ich glaube, daß die öffentlichen Blätter meiner politischen Feinde übertreiben, wenn sie von mir sagen, daß ich, schnell alternd, der Arbeitunfähigkeit entgegenginge. Einiges kann ich noch leisten, aber nicht Alles, was ich früher gethan habe. Wenn ich die Aufgaben eines Ministers der Auswärtigen Angelegenheiten eines großen Landes und auch nur die noch zur Zufriedenheit leiste auf meine alten Tage, dann werde ich immer noch das Werk eines Mannes thun, das in anderen Ländern als ein volles Manneswerk und als ein dankenswerthes Werk gilt. Wenn es mir gelingt, dabei in Einigkeit mit allen Verbündeten Regirungen und mit Seiner Majestät dem Kaiser, im Genuß des Vertrauens der fremden Regirungen, unsere auswärtige Politik weiter zu führen, so sehe ich Das für meine erste, für meine primo loco-Pflicht an. In allen anderen Beziehungen bin ich leichter ersetzbar. Die Summe von Vertrauen und Erfahrungen, die ich aber in etwa dreißig Jahren auswärtiger Politik mir habe erwerben können, die kann ich nicht vererben und die kann ich nicht übertragen«. Auch nicht vererben. Ein Vater, der seinem Sohn die Nachfolge sichern wollte, hätte nicht so gesprochen.

Ists nur eine Antwort auf das Gerede über den »rasch alternden Kanzler« oder der Versuch, sich das Ressort des Auswärtigen als Altentheil zu retten? Jedenfalls läßt sich aus der Rede bei Hof Etwas machen. Die Verbündeten Regirungen sind darin vor dem Kaiser genannt; mit dem der Kanzler nur »einig« zu sein braucht. Kein Wort von der Gehorsamspflicht. Der Ausdruck des stolzen Bewußtseins, in der internationalen Politik unersetzlich zu sein. »Wer ihn hört, muß wahrhaftig glauben, wir säßen im tiefsten Sand fest, wenn er vom Bock steigen muß. Welche Rolle er dabei den Kaiser spielen läßt, ist ihm gleichgiltig. Und wer genau hinsieht, merkt, daß er auch den alten Herrn noch im Grabe zu verkleinern sucht.« Der Beweis? »Ich darf mir die erste Urheberschaft der ganzen sozialen Politik vindiziren; es ist mir gelungen, die Liebe des hochseligen Kaisers Wilhelm für die Sache zu gewinnen.« Richtig. »Allein Ihr Werk großer Voraussicht«: so hatte, in einem Brief an den Kanzler, der erste Kaiser seine Botschaften von 1881 und 1882 genannt. Darf mans aber öffentlich sagen? Der richtige Hausmeier. Hohe Zeit, daß die Leute wieder an kaiserliches Regiment gewöhnt werden. Alle paar Tage ist jetzt Vortrag, Audienz oder Kronrath. Im April wird General Verdy du Vernois zum preußischen Kriegsminister ernannt; wider den Wunsch des Ministerpräsidenten; auf Empfehlung Waldersees, der einen Vertrauensmann im Ministerium haben und einen möglichen Nachfolger mit Ehren abschieben will. Noch aber kommts nicht zum sichtbaren Konflikt. Im Mai beginnt der Ausstand der westfälischen Bergarbeiter. Am Achtzehnten spricht der Kanzler im Reichstag. (Ahnt er, daß es das letzte Mal ist? Er läßt sich im Foyer photographiren.) Er verhehlt nicht, daß er mit fast allen Parteien schlecht steht; auch der Konservativen nicht mehr sicher ist (denen der schwartower Hammerstein den nahen Sturz des Kartellpatrons verkündet hat.) Vom Einundzwanzigsten bis zum Sechsundzwanzigsten ist König Umberto mit seinem Sohn und Crispi in Berlin. Der Kaiser schenkt dem italienischen Ministerpräsidenten eine Photographie mit der Aufschrift: »A gentilhomme gentilhomme, à corsaire corsaire et demi.« Crispi glaubt sich als Korsaren erkannt und rennt aufgeregt in die Wilhelmstraße, wo er, nicht ganz leicht, überzeugt wird, der Satz solle nur ausdrücken, daß der Kaiser ihn für einen gentilhomme halte. Am Tag nach der Abreise der Italiener ist Kronrath. Der Strike, der beendet schien, hatte wieder begonnen. Der Kaiser hat vierzehn Tage vorher die Delegirten Bunte, Siegel und Schröder im Schloß empfangen und gesagt, wenn sich »sozialdemokratische Tendenzen in die Bewegung mischen«, werde er mit unnachsichtlicher Strenge einschreiten. Im Kronrath spricht er sehr schroff gegen die Grubenbesitzer. »Wenn diese reichen Leute keine Vernunft annehmen, ziehe ich mein Militär zurück; wird ihnen dann der Rothe Hahn aufs Dach ihrer Villen gesetzt, ists nicht meine Schuld.« Bismarck antwortet, auch diesen reichen Leuten sei der Schutz der Staatsgewalt nach preußischer Tradition und Verfassung nicht zu versagen; ihr Recht, über die Arbeitbedingungen nach freier Ueberzeugung zu verhandeln, sei in einer nicht sozialistischen Gesellschaft unbestreitbar. Der Kaiser habe geirrt, als er den »vaterländischen Sinn« der von ihm empfangenen Delegirten rühmte und ihnen, die »decidirte Sozialdemokraten« seien, lobend nachsagte, sie hätten »sich der Fühlung mit der Sozialdemokratie enthalten«; der Kanzler fürchte eine neue Täuschung des Allerhöchsten Vertrauens und müsse, wenn er auch den beantragten Belagerungzustand noch nicht für nöthig halte, doch für energische Schutzmaßregeln eintreten. Schon während er sprach, fühlte er, daß er nicht mehr alle Kollegen hinter sich habe; konnte es aber nicht beweisen. Der Kaiser schied verstimmt. Eine ängstliche Excellenz ringt die Hände. »Hätten Euer Durchlaucht es ihm wenigstens unter vier Augen gesagt!« Antwort: »Soll ich im Kronrath vielleicht den Obersten der Eunuchen spielen? Dann hätte die Geschichte doch wirklich keinen Zweck, und es wäre nur schade um die verlorene Zeit. Ehre und Reputation kann ich dem Allerhöchsten Dienst nicht opfern.« Vier Tage danach wurde Hagemeister aus Westfalen abberufen und im Oberpräsidium durch Studt ersetzt.

Im Juni ist der Konflikt mit der Schweiz (Fall Wohlgemuth-Lutz) Hauptstoff aller politischen Gespräche. Auch Konservative erzählen, der Kaiser tadle das brüske Vorgehen des Kanzlers. Der Großherzog von Baden ist »erbittert über Bismarck; selbst Herbert sage, er verstehe seinen Vater nicht mehr, und viele Leute fingen an, zu glauben, daß er nicht mehr richtig im Kopfe sei. Der Kaiser werde Vertrauen gewinnen, wenn er jetzt ein Machtwort einlege und den Streit beendige. Bismarck lasse sich jetzt nur von egoistischen Motiven leiten. Er wolle keinen Krieg mehr; deshalb mache er den Russen allerlei Avancen, lancire mitunter Artikel gegen Oesterreich und verwirre die Geister.« Nach diesen Mitteilungen des Großherzogs notirt Chlodwig: »Es ist möglich, daß es demnächst zu einem Zusammenstoß zwischen Kaiser und Kanzler kommt. Das wäre schlimm trotz Alledem.« Bismarck geht nach Varzin, der Kaiser (mit Herbert) nach England. Am elften August sind Beide wieder in Berlin und konferiren ziemlich lange. Am nächsten Tag kommt Franz Joseph mit dem Thronfolger, dem Grafen Kalnoky und dessen Sektionchef Szögyenyi. Der Kaiser von Oesterreich besucht, mit Franz Ferdinand, den Fürsten und schenkt ihm seine Marmorbüste. Am vierzehnten August fragt Herr von Szögyenyi, ob Bismarck nicht wenigstens prinzipiell zum Abschluß eines Handelsvertrages mit Oesterreich-Ungarn bereit sei; höfliche, aber entschiedene Ablehnung. Beide Kaiser hatten den Handelsvertrag gewünscht. Am Zwanzigsten reist der Kanzler nach Friedrichsruh. Am Dreiundzwanzigsten sieht Chlodwig in Metz (wo ein Wilhelmsdenkmal enthüllt wird) den Kaiser und Friedrich von Baden. Der Großherzog erzählt; »Die Schwankungen des Kanzlers (zwischen Rußland und Oesterreich) haben den Kaiser stutzig gemacht, dagegen sein eigenes Selbstgefühl gehoben; er merke, daß man ihm hier und da Etwas verschweige, und werde mißtrauisch. Es hat schon einen Zusammenstoß zwischen Kaiser und Kanzler gegeben (im Kronrath) und man muß die Eventualität ins Auge fassen, daß der Kanzler einmal gehe. Was aber dann? Der Kaiser denke sich wahrscheinlich, daß er selbst die auswärtige Politik führen könne. Das sei aber sehr gefährlich.« Waldersee, dem Chlodwig (wie jedem Mächtigen, dem er nah kommt) seinen Werki-Schmerz klagt, räth, den Verkauf der russischen Güter nicht zu übereilen; in zwei Jahren könne viel passiren. »Mir scheint, als wolle er auf einen bevorstehenden Krieg mit Rußland hindeuten.« Beginn der Preßfehde zwischen Kanzler und Generalstabschef (der sich aus Petersburg und Paris diplomatische Spezialberichte schicken und, nach einem Gewohnheitrecht, im Auswärtigen Amt von Holstein alles ihn Interessirende vorlegen läßt). Bismarcks Blätter schelten über »politisch-militärische Unterströmungen,« die den Frieden bedrohen, munkeln von einer dem Kaiser überreichten Denkschrift, die einen Präventivkrieg gegen Rußland empfehle, und vertreten, unter Berufung auf Clausewitzens »Theorie des Krieges«, die Ansicht, der Generalstabschef dürfe nur der militärtechnisch geschulte Helfer des dem Volk und dem König verantwortlichen Staatsmannes sein, dem die letzte Entscheidung über Lebensfragen der Nation stets vorbehalten bleiben muß. Dem Kanzler? Die letzte Entscheidung, wisperts, gebührt doch wohl dem Kaiser. Gegner Bismarcks verbreiten eine dumme Brochure, die Herbert als künftigen Kanzler empfiehlt und, trotzdem sie den Fürsten verdrießt, weder offiziell noch offiziös getadelt wird. Also ists wirklich auf eine Dynastie Bismarck abgesehen! Hammerstein geht in der Kreuzzeitung heftig für Waldersee (der ihm hunderttausend Mark geborgt hat) und gegen Bismarcks Kartellpolitik ins Zeug; wird aber am zweiten Oktober im Reichsanzeiger mit der kaiserlichen Acht bedroht. Herr von Rauchhaupt schreibt ihm: »Sie dürfen nicht, wie Sie es unzweideutig gethan, den Kaiser mit Zuckerbrot und Peitsche traktiren wollen. Sie haben seinen absolutistischen Neigungen gefröhnt, weil Sie glaubten, ihn in Dissensus mit den Nationalliberalen zu bringen.« Das sei falsch gewesen. »Es galt, ihn in seinen konservativen Auffassungen zu stärken. Das Uebrige folgt dann ganz von selbst daraus.« Vom elften bis zum dreizehnten Oktober ist Alexander der Dritte in Berlin. Lange Aussprache mit Bismarck, der die Frage, ob er sicher sei, im Amt zu bleiben, zuversichtlich bejaht. Nach der anderthalbstündigen Audienz geht der Kanzler zur Galatafel und (zum letzten Mal) zur Galavorstellung (Rheingold, Koppelia) ins Opernhaus. Als der Zar abgereist ist, begleitet der Kaiser den Kanzler in die Wilhelmstraße (daß er den Wagen vorher halten und den Fürsten auf der Straße aussteigen ließ, hat Bismarck mir nie erzählt) und berichtet unterwegs strahlend, er habe sich für die Manöverzeit in Spala zum Gegenbesuch angesagt. Bismarck hat Einwände; die Pause zwischen den Besuchen sei zu kurz, in Spala für einen so hohen Gast kaum bequem Platz zu schaffen, Alexander mit Vorsicht zu behandeln und durch trop de zèle leicht mißtrauisch zu machen. (Mit ähnlichen Gründen hatte Herbert die Absicht bekämpft, den König von Italien wieder in der Hauptstadt zu besuchen.) Dem Kaiser ist die Freude verdorben; er fährt verstimmt ins Schloß. Zwei Tage danach kommt Waldersee ins Kanzlerhaus, um zu beweisen, wie nützlich die Reise nach Rußland sein werde. (In diese Zeit fällt eine Aktion mit petersburger Berichten. Sind sie der Besuchsabsicht günstig oder ungünstig? Herbert scheint hier, wohl unwissentlich, eine andere Politik getrieben zu haben als der Vater, dem die Vorlegung der ungünstigen Berichte gerade in diesen Tagen nothwendig schien. Sie werden, trotz Holsteins Warnung, nicht vorgelegt.)

Der Kaiser (der in einer Manöverrede gesagt hat, an dem Wachsthum der Sozialdemokratie sei die falsche Methode des Geschichtunterrichtes schuld) reist mit Herbert nach Monza, Athen (zur Hochzeit seiner Schwester Sophie), Konstantinopel. Am sechsundzwanzigsten Oktober ist Chlodwig in Baden-Baden bei der Kaiserin Augusta. »Sie mißbilligt das gar zu viele Herumreisen des Kaisers und hält die Reise nach Athen (die, wie ich von Fürstin Betsy hörte, den griechischen Hof ruinirt) für überflüssig.« Der Großherzog von Baden beklagt sich über Bismarck und sagt: »›Der Kaiser hat den Fürsten auch bis hierher‹. Dabei zog er die Linie nicht am Hals, wie Dies gewöhnlich bei dieser Redensart geschieht, sondern an den Augen. Der Kaiser wolle sich jetzt, so lange er ihn noch für die Bewilligung der Militärvorlage brauche, nicht mit ihm überwerfen. Später werde er ihn nicht mehr halten.« Am selben Tag empfängt Bismarck vom Kaiser aus Athen ein Telegramm, das mit dem Satz schließt: »Mein erstes Wort ins Vaterland ist ein Gruß an Sie von der Stadt des Perikles und von den Säulen des Parthenon, dessen erhabener Anblick auf mich den tiefsten Eindruck gemacht hat.« Andere huldvolle Depeschen folgen; aus Konstantinopel und Korfu. Am siebenten November: »Nach einem Aufenthalt, der einem Traum gleicht und der durch die freigiebigste Gastfreundschaft des Großherrn zu einem paradiesischen gemacht worden ist, passirte ich soeben bei schönem Wetter die Dardanellen.« Die Generalstabspartei, der Herr von Tausch die Spione stellt, Herr Normann-Schumann auch im Ausland Luft macht, tadelt die Veröffentlichung dieser »privaten« Telegramme, die nur zeigen solle, wie jugendlich der Monarch noch empfinde und wie fest er an dem Fürsten hänge. Zwei Tage nach Herberts Rückkehr interpellirt Eugen Richter im Reichstag, ob der Generalstabschef, wie man nach offiziösen Artikeln vermuthen müsse, die Politik des Kanzlers durchkreuze. Herr von Verdy tritt mit klugem Eifer für Waldersee ein und Herbert stimmt »aus vollem Herzen« der Erklärung des Kriegsministers zu. Das klingt wie Chamade. Geben sie den Kampf auf? Bill Bismarck fährt nach Berlin und warnt den Bruder: »Wenn Ihr den Kerl nicht totschlagen könnt, wärs besser gewesen, ihn ungeschoren zu lassen; was jetzt gemacht wird, ist Blech.« Herbert muß im Reichstag viel reden und findet nur selten einen wirksamen Ton. Auch die Nationalliberalen entschleiern nun sacht ihre Ansprüche an die Masse. Miquel hält der alten Zeit eine Grabrede, sieht (in der after-dinner-Ekstase, die sein Diskontokollege Hansemann so unausstehlich und »nur für Attachés berechnet« fand) ein Neues, Gewaltiges werden; und charmirt den Kaiser. Der rühmt ihn (in Potsdam, am elften Dezember) vor Chlodwigs Ohr; und schilt die berliner Kommunalverwaltung. »In Berlin werde man es noch so weit bringen, daß die Sozialdemokraten die Mehrheit haben. Diese würden dann die Bürger plündern. Das sei ihm gleichgiltig; er werde Schießscharten ins Schloß machen lassen und zusehen, wie geplündert werde. Dann würden die Bürger ihn schon um Hilfe anflehen«. Am vierzehnten Dezember ist Chlodwig in Friedrichsruh, um Bismarck für Werki anzuspannen. Artige Ablehnung. Wir können uns nicht in die innere russische Verwaltung einmischen. Naher Krieg sei unwahrscheinlich. Waldersee ein konfuser Politiker; mit Verdy auf Gegenseitigkeit versichert. Rußland sei frühstens in fünf Jahren fertig (neues Gewehr, Eisenbahnen) und wir brauchten nur loszuschlagen, wenn der Bestand der österreichischen Monarchie gefährdet wäre. Chlodwig, der ihn doch für einen »geistig nicht ganz gesunden Mann« hält, ist für die Erlaubniß zum Besuch und für den Rath, die russischen Güter lieber zu verkaufen, ungemein dankbar. Bismarck wird vor berliner Intriguen gewarnt, sagt aber lächelnd: »Diese Sachen kommen an mich nicht heran.« Graf Bill erzählt, er habe in Hannover auf dem Bahnhof den General von Caprivi getroffen, der unbemerkt nach Berlin fahren wollte und verlegen wurde, als er sich vom Sohn des Kanzlers erkannt sah; denkt sich dabei aber nichts Schlimmes. Die Arbeit mit dem neuen Herrn, der »am Liebsten zugleich Kaiser und Kanzler sein möchte«, bringt zwar harte Zumuthungen, muß im Reichsinteresse aber geleistet werden. Schließlich hat der Kaiser sich offiziell ja gegen die Hyperkonservativen und für die Kartellpolitik erklärt. Und der Brief, den er dem Kanzler zu Neujahr schreibt, rühmt Bismarcks Antheil an der »Fürsorge für die arbeitende Bevölkerung« und schließt mit dem Satz: »Ich bitte Gott, er möge mir in meinem schweren und verantwortungvollen Herrscherberufe Ihren treuen und erprobten Rath noch viele Jahre erhalten.«

Gerade um die Arbeiterfrage entbrennt nun aber der Streit. Am zwölften Januar 1890 eilt Stumm nach Friedrichsruh. Der Kaiser habe (von der hinzpeterischen Seite her) Ideen, deren Ausführung die deutsche Industrie im Wettkampf mit dem Ausland lähmen und der Sozialdemokratie zu neuem Wachsthum helfen müsse. Kommt dieser Plan jetzt ans Licht, dann erleben wir rothe Wahlen. Nur der Fürst könne das Reich aus dieser Noth retten. »Wir stehen geschlossen hinter Ihnen«. Auch Herbert seufzt, es sehe schlecht aus; der Kaiser wolle jedes Detail bestimmen, fordere von dem Staatssekretär, der die halbe Nacht am Schreibtisch verbracht hat, in aller Herrgottsfrühe die Vorlegung der neusten Depeschen und Berichte, ordne dann sofort an, wie Alles gemacht werden müsse; und die ruhige Erwägung, die dem Entschluß vorangehen sollte, sei bei diesem System fast unmöglich geworden. Schlimm sei auch, daß der hohe Herr so oft mit den Botschaftern unter vier Augen verhandle. Der abgehetzte Sohn war mit der Kritik kaiserlichen Wesens nicht immer vorsichtig gewesen und die Kleinen der Wilhelmstraße (Nr. 74, 76, 77) hatten den hoffenden Blick längst auf die »maßgebende Zukunft« gerichtet. Das wußte Herbert nicht; fand aber nöthig, »daß mit dem Kaiser ein ernstes Wort gesprochen werde«. Wieder wird er (von Holstein) gewarnt: »Sorgen Sie nur dafür, daß unangenehme Dinge dem Kaiser nicht vor Zeugen gesagt werden! Das verzeiht er nicht; und ist, als König von Preußen, stärker als jeder Minister«. Zu spät. Am vierundzwanzigsten Januar kehrt, nach dreimonatiger Abwesenheit, der Fürst nach Berlin zurück. Da weht nun andere Luft als noch im Oktober. Die Kreaturen haben das Zittern verlernt. Herr von Boetticher sogar, sonst unermüdlich im Dienst des Herrn, sagt jetzt zu Allem Ja und bleibt gelassen stehen; führt die Aufträge nicht mehr aus. Bismarck kommt mittags an; von Drei bis Acht: Sitzung des Staatsministeriums, Audienz beim Kaiser, Kronrath. Im Staatsministerium scheint ihm die Herrschaft noch sicher; wenigstens eine Mehrheit für die Verlängerung des Sozialistengesetzes. (Der Kaiser, der mit der Sozialdemokratie »schon allein fertig zu werden« hofft, will die Verlängerung nicht.) In der Kronrathssitzung liest Boetticher die sozialpolitischen Erlasse vor, die der Kaiser veröffentlichen will. Bismarck kann nicht zustimmen; er ist in individualistischer Wirthschaftauffassung zu alt geworden, um für Verbote der Frauen-, Kinder- und Sonntagsarbeit eintreten zu können. Spricht von der üblen Wirkung auf die Wahlen und wagt, als der Kaiser gesagt hat, diese Wirkung könne und werde höchst günstig sein, die Bemerkung, solchen Optimismus könne nur Jugend hegen, die noch nicht Erfahrungen gesammelt und Enttäuschungen erlebt hat. Anderthalbstündige Debatte; deren Unterton manchmal schon recht schrill klingt. In puncto Sozialistengesetz dringt Wilhelm nicht durch. »Ja, wenn hier mit Majoritätbeschlüssen gegen meine Intentionen gearbeitet wird …« Der Kriegsminister, der sich, als General, für den Kaiser erklärt hat, berichtet ihm nach der Sitzung, Bismarck habe die Ressortchefs festzulegen, von vorn herein gegen die Absicht des Monarchen zu stimmen versucht. Am letzten Januartag wird der Fürst (auf seinen mit der Unvereinbarkeit der Ueberzeugungen motivirten Wunsch) vom Amte des Handelsministers entbürdet; als seinen Nachfolger hat er »angebrachtermaßen« den Freiherrn von Berlepsch vorgeschlagen (den die Herren von Boetticher und von Rottenburg längst in die Sonne zu bringen trachteten). Am dritten Februar trägt er die Erlasse, die er umgearbeitet, in die er die Staatsrathsinstanz und die internationale Konferenz hineingebracht hat, ins Schloß. Noch einmal warnt er; bittet inständig um die Erlaubniß, die Papierbogen ins Kaminfeuer zu werfen. Der Kaiser schüttelt heftig den Kopf. »Ich verspreche mir sehr viel davon.« Die Erlasse werden ohne Gegenzeichnung des Kanzlers veröffentlicht. (Der Kaiser hat zu Chlodwig gesagt: »Bismarck versuchte, die Schweiz zu bestimmen, an ihrer Konferenz festzuhalten, was durch Roths, des schweizer Gesandten in Berlin, loyale Haltung vereitelt worden ist.« Bismarck erzählte mir, der Kaiser habe Roth nachts ins Schloß holen lassen, drängend den schweizerischen Verzicht auf das Prioritätrecht durchgesetzt, dem Kanzler aber nichts davon gesagt. So habe ichs, nach Roths Bericht, auch von Ludwig Bamberger gehört.)

An dem Abend, wo der Reichsanzeiger die nicht gegengezeichneten Erlasse veröffentlicht, ist Wilhelm zum Parlamentarierdiner beim Kanzler. Der sagt: »Ich imponire dem Kaiser nicht; versuchen Sie mal Ihr Glück!« Am nächsten Tage kommt Stumm und bringt das Gelöbniß »unverbrüchlicher Treue«; das Sozialistengesetz müsse verlängert, die Industrie vor der unheilvollen Wirkung der Erlasse geschützt werden. Am achten Februar geht an die deutschen Missionen ein Rundschreiben, in dem gesagt wird, nur internationale Vereinbarung könne den Arbeiterschutz sichern. »Les classes ouvrières des différents pays, se rendant compte de cet état des choses, ont établi des rapports internationaux qui visent à l'amélioration de leur situation.« Die internationale Arbeiterorganisation wird den Regirungen als Muster empfohlen. Und in der Rede, die den Staatsrath eröffnet, spricht, am elften Februar, der Kaiser von »willkürlicher und schrankenloser Ausbeutung der Arbeitkraft.« Stumm und Genossen fallen im Staatsrath um; und beschließen, als sie sich nothdürftig wieder aufgerichtet haben, durch Dick und Dünn mit dem Monarchen zu gehen. Der Fürst ist degoutirt und sagt, er wolle aus seinen Aemtern scheiden. Wilhelm redet ihm diese Absicht nicht aus. Am Zehnten ist Bismarck bei Schuwalow; er möchte vor seinem Rücktritt noch den deutsch-russischen Assekuranzvertrag verlängert sehen, um wenigstens die internationale Politik vor plötzlichen Ueberraschungen zu sichern. Am Zwanzigsten ist Reichstagswahl; große Verluste der Konservativen, der Reichspartei und der Nationalliberalen; die sozialdemokratischen Stimmen fast verdoppelt. Vorher saßen elf Sozialdemokraten im Reichstag; nun kommen fünfunddreißig hinein. Jetzt vom Platze zu weichen, wäre Feigheit; nach dieser Wahl wäre ein Kanzlerwechsel das offene Geständniß irreparabler Niederlage. Bismarck (den Graf Limburg-Stirum in diesen Tagen »in hochelegischer Stimmung« findet) weist ohne Scheu auf die von ihm vorausgesagte Wirkung der Erlasse hin und erklärt, er fühle sich verpflichtet, einstweilen im Amt zu bleiben. »Das war dem Kaiser unangenehm, aber er remonstrirte nicht dagegen«, schreibt Chlodwig. Inzwischen war mit Caprivi schon mehrfach über die Nachfolge Bismarcks verhandelt worden, die General von Albedyll abgelehnt hatte. Am fünften März hält der Kaiser beim Festessen des brandenburgischen Provinziallandtages eine Rede, die mit der Drohung schließt: »Diejenigen, welche sich mir bei meiner Arbeit entgegenstellen, zerschmettere ich.« Und überall wird geraunt, hier und da auch deutlich gesagt: »Das geht auf Bismarck!«

Der Fürst war nicht immer »in hochelegischer Stimmung«, auch in diesen schweren Tagen noch zu niederdeutschem Spaß aufgelegt. Er ließ sich Reuters »Stromtid« holen und las aus dem Kapitel vor, das von der Entamtung des alten Inspektors Hawermann handelt. »Ik heww nicks mehr tau seggen; ik bün bi Sid schaben; ik ward den jungen Herrn all tau olt.« »Der Herr von Rambow hat Alles so befohlen; und er hält zu Pferd auf dem Haidberg und übersieht und kommandirt das Ganze.« »Hat woll in der einen Hand en Sperfektiv und in der andern en Kommandostab as der olle Blüchert auf dem Hoppenmark in Rostock?« Ohne Harm. Ohne sich zu den Gerüchten zu erniedern, die ihm zugetragen werden. Daß Friedrich und Chlodwig ihn für geistig nicht mehr normal hielten, wissen wir schon. Hinzu kam jetzt (wie Bucher behauptete: von Boetticher) die Verdächtigung, er sei Morphinist. Der Kaiser fragt Schweninger; und erhält die Antwort: »Das ist eine elende Verleumdung und ich kenne die Quelle, aus der sie stammt.« (Schweninger hat seinem Fürsten bis in die letzten Lebenstage nur in ganz seltenen Nothfällen Narkotika gegeben; meist, unter der Firma Morphium, reines Wasser; und ihm durch die Suggestion des Namens zu Schlaf verholfen.) Bismarck ahnt kaum, was die Maulwürfe erwühlen; noch am Tag der Entlassung hielt er Boetticher für seinen Nachfolger. Doch zur Ruhe kommt er nun nicht mehr. Er will den Rest seiner Einflußsphäre gegen kollegiale Treibereien schützen, den Verkehr der Minister und Staatssekretäre mit dem Kaiser kontroliren; und stößt auf ungeduldigen Widerstand. Der Monarch fordert die Aufhebung der Kabinetsordre vom achten September 1852, die dem Ministerpräsidenten die straffe Leitung der Geschäfte sichern sollte. »Wenn der König diesen Zustand ändern will, muß er selbst sein Ministerpräsident werden; die Befugnisse des Amtes übt er ja thatsächlich schon aus.« Mit solchen Redensarten, heißts, sei nichts bewiesen; der Fürst solle über den Gegenstand eine ausführliche und objektive Denkschrift liefern. Am fünfzehnten März wird die internationale Konferenz eröffnet. Der Kanzler nennt sie im Privatgespräch »eine große Phraseologie«; und der Kaiser erfährts.

Am Siebenzehnten wird Bismarck zweimal offiziell aufgefordert, schleunig sein Entlassungsgesuch einzureichen. Am Achtzehnten schreibt ers; weil er nach den Mittheilungen der Herren von Hahnke und von Lucanus annehmen müsse, daß er damit den Wünschen des Kaisers entgegenkomme. Sechsunddreißig Stunden danach liest er in einem Handschreiben Seiner Majestät die Worte: »Die von Ihnen für Ihren Entschluß angeführten Gründe überzeugen mich, daß weitere Versuche, Sie zur Zurücknahme Ihres Antrages zu bestimmen, keine Aussicht auf Erfolg haben.« Solcher Versuch war nicht gemacht worden.

Generaloberst, Herzog von Lauenburg, »unauslöschlicher Dank« und, am neunundzwanzigsten März, »Begräbniß Erster Klasse.« Bismarcks einziger Vorgänger, Freiherr vom Stein, war unter sichtbareren Zeichen der Ungnade entlassen worden. Dem hatte, weil er, im Interesse des Staates und der Krone, königlichen Willensmeinungen zu widersprechen wagte, Friedrich Wilhelm der Dritte geschrieben: »Ich habe mit großem Leidwesen ersehen müssen, daß ich mich leider nicht anfänglich in Ihnen geirrt habe, sondern daß Sie vielmehr als ein widerspenstiger, trotziger, hartnäckiger und ungehorsamer Staatsdiener anzusehen sind, der, auf sein Genie und seine Talente pochend, weit entfernt, das Beste des Staates vor Augen zu haben, nur durch Capricen geleitet, aus Leidenschaft und aus persönlichem Haß und Erbitterung handelt. Dergleichen Staatsbeamte sind aber gerade diejenigen, deren Verfahrensart am Allernachtheiligsten und Gefährlichsten für die Zusammenhaltung des Ganzen wirkt. Es thut mir wahrlich weh, daß Sie mich in den Fall gesetzt haben, so klar und deutlich zu Ihnen reden zu müssen. Da Sie indessen vorgeben, ein wahrheitliebender Mann zu sein, habe ich Ihnen auf gut Deutsch meine Meinung gesagt, indem ich noch hinzufügen muß, daß, wenn Sie nicht Ihr respektwidriges Benehmen zu ändern Willens sind, der Staat keine große Rechnung auf Ihre ferneren Dienste machen kann.« Treitschke selbst, der diesen König mit so hitzigem Eifer vertheidigt, muß doch schreiben: »Von Jugend auf an den Umgang mit mittelmäßigen Köpfen gewöhnt, hat er den Widerwillen gegen das Geniale, Kühne, Außerordentliche selten überwunden. Ihn erschreckte jener laute, rücksichtlose Freimuth, der den großen Germanen eignet.« Und auch an Steins Schicksal dachte er, als er, nach dem Jahr 1890, von der »Undankbarkeit der Hohenzollern« sprach, dem »umschönen Erbfehler des Herrscherhauses, von dem unter allen preußischen Königen allein Friedrich der Große und Kaiser Wilhelm der Erste ganz freigeblieben sind.«

Wer in der Tatsache, daß der junge Kaiser den alten Kanzler wegschickte, einen Fehler sieht, kann Wilhelms Großohm von der Mitschuld nicht freisprechen. Großherzog Friedrich von Baden war ein guter Regent. Gewissenhaft, bescheiden, schlicht im Wandel; er blieb lange auch ruhig. Erst in den letzten drei Lustren suchte er oft die Gelegenheit zu rednerischer Wirkung; und sprach dann ungefähr wie ein gekrönter, etwas verstimmter Bennigsen. Bismarck hielt ihn längst für seinen Feind. Glaubte, der Großherzog trage ihm nach, daß der Elsaß 1871 nicht an Baden kam. Das hätte ein hübsches Königreich gegeben. Dieses Motiv ist aber nicht erwiesen; und Alles, was aus Friedrichs Briefen seitdem bekannt geworden ist, zeugt gegen Bismarcks Verdacht. Die Feindschaft kann auch andere Ursachen gehabt haben. Unterschiede der Weltanschauung. Schwiegersohn der Kaiserin Augusta, liberal, immer geneigt, auf Oeffentliche Meinungen zu hören, Optimist mit zuversichtlichem Glauben an das Gute, Wahre, Schöne, das in der Menschenbrust lebt, dabei, namentlich als Alternder, sehr auf die Würde des Fürsten bedacht, dem von Gottes Gnaden besondere Rechte eingeräumt, besondere Aufgaben zugewiesen seien und in dessen Nähe ein nicht im Purpur Geborener sich nie freventlich vermessen dürfe. Einem Mann, der so empfand und dachte (und doch nie hochmüthig ward), konnte Bismarcks unbequeme Art manches Aergerniß geben. Der erste Kanzler fürchtete den Gegner nicht; zürnte ihm nicht einmal. Lächelte, wenn ihm ein unfreundliches Wort des Großherzogs hinterbracht wurde, und meinte: »Er hat nun die Antipathie«. Noch 1891 hat er zu mir gesagt: »Wenn Sie sich ein Bild von dem Herrn machen wollen, müssen Sie an Auerbachs Romane denken. ›Auf der Höhe‹: Das ists so ungefähr«. Die Bücher von Ottokar Lorenz und Chlodwig Hohenlohe hätten ihn den Machtbereich des Großherzogs richtiger einschätzen gelehrt. So lange der alte Kaiser lebte, konnte selbst Augusta, der »Feuerkopf«, im Großen nichts verrichten. Als Bismarck sie aus Wilhelms Zimmer komplimentirt und am Abend des selben Tages höchst unhöfisch ermahnt hatte, »die schon bedenkliche Gesundheit ihres Gemahls zu schonen und ihn nicht zwiespältigen politischen Einwirkungen auszusetzen«, ließ sie ihn zwar stehen, entlud ihren Groll aber nur in den Satz: »Unser allergnädigster Reichskanzler ist heute sehr ungnädig«. Da vermochte auch Friedrich von Baden nicht viel. Dessen Zeit aber kam im achtundachtziger Sommer. Im Mai war er noch Vermittler in der battenbergischen Sache. (Die Kaiserin Friedrich hatte ihren totkranken Mann überredet, den Prinzen Alexander von Battenberg telegraphisch nach Potsdam einzuladen. Da sollte schnell dann die Verlobung mit der Prinzessin Viktoria proklamirt werden. Der Plan, dessen Ausführung in Petersburg wie ein schriller Fehderuf gewirkt hätte, wurde durch den Generaladjutanten von Winterfeldt vereitelt, der sich in seinem Gewissen verpflichtet fühlte, die Depesche vor der Absendung dem Kanzler zu zeigen. Sie ging nicht ab; und nach einer Aussprache, die in Dur begann und in Moll endete, war die Kaiserin von Bismarck »enchantirt«.) Bald danach aber deutet der Großherzog die nahe Möglichkeit eines Konfliktes zwischen Kaiser und Kanzler an. Schon im Januar 1889. Spricht mit rasch wachsender Erbitterung über Bismarck. Und thut, was er kann, um den Lästigen aus dem Amt zu bringen. Daraus ist ihm kein Vorwurf zu machen. Nach seiner Ansicht (die er dem Kaiser suggerirt haben mag; denn Beide gebrauchen im Gespräch mit Chlodwig die selben Worte) handelte es sich um die Frage, »ob die Dynastie Bismarck oder die Dynastie Hohenzollern regiren solle.« Da konnte die Antwort nicht zweifelhaft sein. Friedrich glaubte, ohne Bismarck werde das Reichsgeschäft besser gehen; und das Recht zu solchem Irrthum ist nicht ihm zu bestreiten. Warum aber suchte er den grimmen Leun dann in seiner Höhle auf? Warum machte er dem Manne, den er als eine Reichsgefahr bekämpft hatte und nicht einmal für einen zuverlässigen Royalisten und treuen Diener des Kaisers, des Königs von Preußen hielt, einen Abschiedsbesuch?

Hohenlohe notirt: »Er erzählte, er sei eingetreten und habe dem Fürsten gesagt, er komme, um Abschied zu nehmen und ihm zu sagen, daß er sich stets der Zeit, in welcher sie gemeinschaftlich für das Wohl Deutschlands gearbeitet hätten, mit Dankbarkeit erinnern werde. Der Fürst sagte dann, daß es die Schuld auch des Großherzogs sei, wenn er jetzt abgehe; denn die Befürwortung der Arbeiterschutzgesetzgebung durch den Großherzog bei dem Kaiser habe zum Bruch zwischen dem Kaiser und Bismarck beitragen. Dies bestritt der Großherzog, indem er darauf hinwies, daß es preußische Angelegenheiten gewesen seien, die die Meinungverschiedenheiten zum Bruch geführt hätten, und in preußische Angelegenheiten habe er sich nie eingemischt. Hierauf wurde Bismarck grob (was er gesagt hat, theilte der Großherzog nicht mit); und da stand denn der Großherzog auf und sagte, er könne sich Das nicht gefallen lassen, wolle in Frieden von ihm scheiden und gehe mit dem Ruf, in den auch Bismarck einstimmen werde: ›Es lebe der Kaiser und das Reich!‹ Damit war die Besprechung zu Ende.« Ob Chlodwig richtig notirt hat? Er läßt den Großherzog eine seltsame Rolle spielen. Der war ja wirklich mitschuldig an Bismarcks Abgang. Hatte diesen Abgang vorausgesagt und gewünscht. Und nur preußische Angelegenheiten sollen zum Bruch geführt haben? Am sechsundzwanzigsten März schreibt Chlodwig: »Der Großherzog von Baden behauptete gestern, daß die Ursache des Bruches zwischen dem Kaiser und Bismarck eine Machtfrage gewesen sei und daß alle anderen Meinungverschiedenheiten, über soziale Gesetzgebung und Anderes, nebensächlich gewesen seien.« Und diese Machtfrage war nur durch die Kabinetsordre vom Jahre 1852 entstanden, die noch heute in Kraft ist? Kaum glaublich. Kaum auch, daß der Großherzog, nachdem Bismarck grob geworden war, noch versöhnlich gesprochen und einen Toast auf Kaiser und Reich ausgebracht haben soll. Zwei alte Männer in einem stillen Zimmer allein. Der Kanzler wird grob. Der Großherzog antwortet: »Stimmen Sie mit mir in den Ruf ein: Es lebe der Kaiser und das Reich!« Die wunderlichste Szene, die sich erträumen läßt. Si tacuisses, Chlodwig! Soeben erst hat ja Deine Chronik gemeldet: »Der Großherzog gab seine besondere Befriedigung über den Rücktritt des Reichskanzlers zu erkennen. Hätte der Kaiser diesmal nachgegeben, so hätte er jede Autorität verloren und Alles würde lediglich nach Bismarck geblickt und ihm gehorcht haben. Das sei nicht mehr zum Aushalten gewesen. Ueber den Artikel in den Hamburger Nachrichten war er ganz empört und nannte ihn eine Infamie.« Einen Artikel, für dessen Verfasser er Bismarck hielt. Also: er freute sich als deutscher Patriot über die Entlassung des Fürsten, hatte sie ersehnt, fand sie im Interesse der Monarchie dringend nöthig und traute dem Entlassenen Infamien zu. Und dennoch im Zimmer dieses Entlassenen eine Melodramenszene?

Bismarck hat (nicht mir allein) den Abschiedsbesuch anders dargestellt. »Daß ich in diesen Tagen nicht besonders gut aufgelegt war, ist am Ende begreiflich. Ich hatte ja nicht erwartet, nach dreißig ministeriellen Dienstjahren an die Luft gesetzt zu werden. Und ich wußte, daß der Großherzog dem jungen Herrn mehr als einmal gerathen hatte, sich von mir zu trennen. Wenn er mirs offen gesagt hätte, wäre man, unter alten Leuten, vielleicht zu einer Verständigung gekommen. Er hielt sich aber für verpflichtet, mir eine huldvolle Miene zu zeigen; noch, als hinter meinem Rücken längst Alles abgemacht war. Auch die Visite hatte ich wohl als einen letzten Gnadenbeweis anzusehen. Mir wäre, rebus sic stantibus, die Begegnung mit einem deklarirten Feind weniger peinlich gewesen. Daß ich auf die gemeinsame Arbeit hin angesprochen wurde, nahmen die Nerven auch einigermaßen krumm. Die patriotischen Verdienste des hohen Herrn in Ehren: aber zu gleichen Theilen hatten wir die Geschäftssachen doch wohl nicht erledigt. Und als ich dann den Ausdruck des Bedauerns über die vorzeitige Trennung zu hören glaubte, kam der Gesichtsschmerz, mein ältester Feind, und, bei so kumulirtem Unbehagen, die aller Hoftradition widersprechende Andeutung, Seine Königliche Hoheit habe, wenn ich recht unterrichtet sei, doch selbst im Sinn dieser Trennung auf den Kaiser eingewirkt und ich könne deshalb mein Erstaunen über das Beileid nicht verhehlen. Der Großherzog stand auf, nahm seinen Helm und ging stumm aus dem Zimmer«. Das klingt glaublicher, menschlicher als Clodwigs Bericht, hinter dem man den Vorhang fallen sieht.

Leute, die es wissen konnten, erzählten bald danach, der Großherzog bedaure seine Haltung und wünsche dem Reich den ersten Kanzler zurück. Das war vielleicht von frommer Loyalität erfunden. Betrübend bleibts, daß der redliche Mann und tüchtige Fürst, der auf Badens Thron die deutsche Sache betreute, für die Stunde, die seine größte werden konnte, nicht groß genug war. Und wenn er hundertfachen Grund zum Groll hatte, durfte er auf dieses Berathers unwirsche Stimme nicht lauschen. Mußte zu dem Enkelsohn seiner Frau sprechen: »Vor Dir liegt ein langes Leben und Dieser ist alt. Lerne ihn ertragen. Deine Vorgänger habens gelernt. Gewöhne Dich in die Erkenntniß, für die ersten drei, vier Jahre wenigstens, daß er jede Sache, die winzigste wie die beträchtlichste, besser verstehst als Du, dem alle Vergleichsmöglichkeiten fehlen, und daß er Konsequenzen stets sicherer ermißt. Dann wird er fast Achtzig sein; und selbst nach Entbürdung verlangen. Nütze ihn, so lange Du ihn hast; nie wieder findest du solchen Lehrer. Der ist kein Minister wie andere. Ohne Den wärest Du heute nicht Kaiser. Wenn er 1862 nicht Kopf und Kragen aufs Spiel setzte, stieg Dein Großvater vom Thron, Keiner hätte an die deutsche Frage zu rühren gewagt und Du herrschtest jetzt höchstens über einen anglisirten Preußenstaat Fritzens. Du darfst ihm nicht mehr zumuten als der alte König. Nicht fordern, daß er sich in Reihe und Glied stelle und einer unter Deinen Berathern sei. Dich nicht wundern, wenn er Dir nicht Alles sagt, was er plant. Du bist jung, hitzig und behältst nicht leicht bei Dir, was Dich erfüllt. Du trägst in die Politik Sentimentalitäten hinein, mit denen da nichts anzufangen ist, und hegst romantische Treugefühle, die nicht erwidert werden. Du hast nur helle Tage erlebt und weißt, als reicher Erbe, nicht, wie unbequem sichs im Sturm auf einem Thron sitzt. Er hat achtundzwanzig Jahre lang richtig geführt und kennt jeden Schleichpfad, von dem uns Gefahr droht. Laß ihn, bis er morsch wird, gewähren und trachte einstweilen nur, ihm seine feinsten Künste abzugucken. Du hast Zeit, wirst an seinem Grab stehen und wohnst dann ruhig im Recht des Ueberlebenden. Wird das Warten Dir schwer, dann lies die Briefe, die Dein Großvater ihm geschrieben hat, und tröste Deinen Stolz mit dem Bewußtsein, daß es für einen jungen Regenten immerhin schon ein Ruhmestitel ist, einen Minister zu haben, um den die Nachbarschaft ihn beneidet.« Friedrich von Baden konnte so sprechen. Er war eingeweiht, hatte noch böse Tage gesehen; und Wilhelm verschloß sein Ohr damals nicht dem Rathe des Großohms. Friedrich von Baden aber sprach: »Es handelte sich zuletzt nur darum, ob die Dynastie Bismarck oder die Dynastie Hohenzollern regiren solle«. Sprach wie von einem romanischen Gassendiktator von dem deutschen Manne, der für das Haus seiner Könige, für Monarchie und Dynastie mehr gethan hatte als je Einer, der im Gedächtniß lebt.

»Daß die Oeffentliche Meinung der Demokratie zufrieden ist, mich endlich los zu sein, wundert mich nicht sehr; trotz allgemeinem Wahlrecht und gehobener Lebenshaltung. Daß auch die Fürsten mich wie ein unbrauchbares Möbel weggeschoben haben, ist eine Erfahrung, auf die ich innerlich nicht eingerichtet war.« Allmählich hat er sich mit ihr abgefunden, mit ruhiger Stimme die Geschichte seiner letzten Dienstjahre diktirt und die hohen Herren, die, etwas scheu, zu ihm in den Sachsenwald kamen, artig, als sei er gestern huldvoll von ihnen verabschiedet worden, begrüßt. Und doch hatte Keiner für ihn den Finger gerührt. Keiner auch nur gefragt, ob vor dem Entschluß zur Trennung des Reiches Wohl weislich bedacht worden sei. Nicht Einer von Allen. Die Legitimen fühlten sich freier, als der Genius ihnen nicht mehr im Licht stand.

Ueber das Motiv, das den jungen Wilhelm zur Trennung trieb, hat fast jeder Zeuge anders ausgesagt. Großherzog von Baden: »Die Ursache des Bruches ist eine Machtfrage. Alle anderen Meinungverschiedenheiten, über soziale Gesetzgebung und Anderes, waren nebensächlich. Der Hauptgrund war die Kabinetsordre vom Jahre 1852. Auch die Unterredung mit Windthorst hätte nicht zum Bruch geführt. Dazu kam das Mißtrauen des Kaisers in die auswärtige Politik des Fürsten. Der Kaiser hatte den Verdacht, daß Bismarck die Politik nach seinen, dem Kaiser unbekannten Plänen leiten und es dahin führen wolle, Oesterreich und den Dreibund aufzugeben und sich mit Rußland zu verständigen, während der Kaiser Dies nicht will und an der Alliance festhält«. General von Heuduck: »Der Kaiser hat den Kommandirenden Generalen mitgetheilt, warum Bismarck weggegangen sei. Die Frage der Kabinetsordre und die maßlose Weise, in der er gegen den Kaiser aufgetreten sei, hätten es ihm unmöglich gemacht, länger mit dem Fürsten zusammenzugehen. Rußland wolle Bulgarien militärisch besetzen und dabei die Neutralität Deutschlands haben. Bismarck wolle Oesterreich im Stich lassen. Der Kaiser will mit Oesterreich gehen, selbst auf die Gefahr hin, mit Rußland und Frankreich Krieg zu bekommen«. Caprivi: »Bismarck hatte mit Rußland einen Vertrag gemacht, durch den wir Rußland freie Hand in Bulgarien und Konstantinopel garantirten und Rußland sich verpflichtete, im Krieg mit Frankreich neutral zu bleiben. Diesen Vertrag habe ich nicht erneuert, weil das Bekanntwerden den Dreibund gesprengt haben würde.« Herr von Holstein: »Bismarcks Plan, Oesterreich im Stich zu lassen, hätte uns so verächtlich gemacht, daß wir isolirt und von Rußland abhängig geworden wären.« Der Kaiser: »Bismarck wollte das Sozialistengesetz mit der Ausweisung dem Reichstag wieder vorlegen, diesen, wenn ers nicht annehme, auflösen und dann, wenn es zu Aufständen komme, energisch einschreiten. Dem widersetze ich mich. Wenn mein Großvater nach einer langen, ruhmreichen Regirung genöthigt worden wäre, gegen Aufständische vorzugehen, so hätte ihm Das Niemand übel genommen. Mir wird man vorwerfen, daß ich meine Regirung damit anfange, meine Unterthanen totzuschießen. Die Verbitterung wurde durch die Kabinetsordre von 1852 verschärft. Auch der Besuch Windthorsts beim Fürsten gab zu unliebsamen Erörterungen Anlaß, gab aber nicht den Ausschlag. Es war eine hanebüchene Zeit und es handelte sich darum, ob die Dynastie Bismarck oder die Dynastie Hohenzollern regiren solle. In der auswärtigen Politik ging Bismarck seinen eigenen Weg und hat mir Vieles vorenthalten, was er that. Ich habe neulich Herrfurth, der allen Ministerialsitzungen beigewohnt hat, gefragt, ob ich in der ganzen Zeit Etwas gethan habe, was Bismarck verletzen konnte und ihm Anlaß gab, gegen mich aufzutreten. Darauf hat Herrfurth gesagt, alle Minister seien im Gegentheil erstaunt gewesen, mit welcher Langmuth und Geduld ich die Grobheiten Bismarcks ertragen habe.«

 

Die Art, wie der alte, von den Sozialdemokraten Tag vor Tag beschimpfte Bismarck die soziale Bewegung auffaßte und eindämmen wollte, habe ich immer bekämpft; und trotzdem ichs mit dem Hut in der Hand that, hat dieser Kampf doch für ein ganzes Jahr den mir liebsten Verkehr unterbrochen (dessen Wiederaufnahme dann ein gütiger Wunsch des Fürsten ermöglichte). Wer Bismarcks Reden, namentlich die aus den achtziger Jahren, gelesen hat, kann nicht glauben, daß diesem Mann sozialpolitisches Verständniß fehlte; oft genug ist ihm von den Manchesterleuten Neigung zu Sozialismus und Kommunismus vorgeworfen worden. Daß auch der Aermste ein Wahlrecht hat und daß Deutschland auf dem Weg zum Arbeiterschutz »in der Welt vornan« war, ist sein Verdienst; nur seins. Aber er war 1815 geboren, hat moderne Großindustrie nie gesehen und ohne die Helferkraft der Intuition nirgends Großes vermocht. Die Raschheit seiner Auffassung und Assoziation blieb schwächeren Hirnen stets unbegreiflich; was er aber nicht nah gesehen hatte, blieb ihm innerlich immer fremd. (Beispiele: England, die Kolonien, die asiatischen Völker, Großindustrie.) Er wollte eine starke Staatsgewalt, brauchte sie und war mit der Sorge für die Sicherheit und die Zukunft seines Reiches zu schwer belastet, um sich an Theorien, Utopien, ungewisse Experimente verlieren zu können. Mit Lassalle konnte er sich vielleicht verständigen; nicht mit Marx noch mit dessen Epigonen. Nie hätte er geglaubt (er hat das Thema auf manchem Spazirgang mit mir erörtert), daß die Sozialdemokratie nicht auf den Tag laure, wo sie Revolution machen, den Staat entwaffnen und dem Ausland so zum Spott und zur Beute hinwerfen könne. Wozu sonst der ganze Apparat? Ein Millionenheer und ein Kriegsschatz, für den vom Dürftigsten Tribut geheischt wird? Auch sagens die Leute ja selbst. Sollen wir etwa warten, bis sie sich stark genug fühlen? Je länger wirs mitmachen, desto mehr Blut kostet es nachher. Wir sind als Großmacht neu in Europa, haben die schwierigste Stellung und dürfen uns nicht der Gefahr einer Revolution und folgenden Anarchie aussetzen. Auch unsere junge Industrie nicht so mit kostspieligen Pflichten bepacken, daß sie unfähig zu erfolgreichem Wettbewerb wird. Das waren seine Leitsätze. Und seine Berather: Stumm und andere tüchtige Industriekapitäne, die für ihre Arbeiter väterlich sorgten, ihr Vaterrecht aber nicht opfern wollten; und deren Sachkunde und Leistungen ihm imponirten. Mehr jedenfalls als die der Bebel und Genossen, deren politische Ziele er indiskutabel und kindisch fand. Sozialistische Republik (wenn sie an sich möglich wäre) zwischen Rußland und Frankreich? Und die Mädchenschulhoffnung, die Menschen würden friedlich fortan, wie die Lämmlein, neben einander grasen?.. Mußte nicht auch die Behandlung, die er von dieser Seite erfuhr, auf ihn wirken? Unwissender Tropf, Abenteurer, Fälscher, Schurke, Verbrecher: Anderes hörte er nach Lassalles Zeit kaum je noch von Sozialdemokraten. Und daß er ein Mensch war, mit Menschenschwachheit und Menschenempfindlichkeit, brauchte uns wirklich nicht erst ein Hohenlohe zu sagen.

Ein tragisches Verhängniß wars, daß der Schöpfer des Reiches, der Staatsmann, dem am Ende doch auch der deutsche Arbeiter wohl mehr verdankt als allen Kirchenvätern des Marxismus, allen Organisatoren und Agitatoren, gegen ein Phantom focht, ein großes Gestirn nicht in reinem Glanz schauen lernte. Doch soll man die Tragik nicht ins Kriminalromanhafte verzerren. Nicht thun, als habe in Berlin, Friedrichsruh, Varzin ein blutgieriges Scheusal nach der Möglichkeit gelechzt, »auf das Volk schießen zu lassen«. (Ich glaube, daß solche Scheusale sehr selten sind; daß jeder Mächtige mit bangem Herzen den Befehl zu blutiger Repression giebt; daß oft Unverstand den Befehl diktirt; daß aber das Recht, im Interesse des Staates Aufstände niederzuzwingen, mindestens so unbestreitbar ist wie das, gegen den Mißbrauch staatlicher Gewalt die Massen zu waffnen. Nur in Kinderköpfen ist jeder Revolutionär ein lichter Held, jeder General, der die Truppen wider rebellirende Haufen führt, ein Nero oder Alba.) Bismarck wollte »schießen lassen«, wenn nur die ultima regis ratio noch die Ordnung sichern konnte. Was der Kaiser dagegen sagt, ist unhaltbar. Ob in solcher Schicksalsstunde der Regent jung oder alt, an Ruhm reich oder arm ist, ob seinem Handeln Beifall oder Zischen folgt, ist gleichgiltig: er hat, ohne an sein Applausbedürfniß zu denken, dem Befehl staatlicher Pflicht und des königlichen Gewissens zu gehorchen. Auch Wilhelms Beispiel ist falsch gewählt. Sein Großvater war nur als junger Mann »genöthigt, gegen Aufständische vorzugehen«; war, ehe er auf den Thron stieg, der »Kartätschenprinz« und in Baden, von der preußischen Demokratie sogar lauter verflucht als Murawiew und Trepow in Rußland. Für die Beurtheilung des Zwistes vom Jahre 1890 sind psychologische Erwägungen überhaupt wichtiger als theoretisch-politische; warens auch für Bismarck. Hatte der Kaiser denn etwa die Wetterzeichen der Zeit klarer erkannt als der Kanzler? Er sagt: Nächstens werden die Sozialdemokraten die Bürger plündern; mir ists gleichgiltig; ich lasse Schießscharten ins Schloß machen, sehe zu, wie geplündert wird, und warte, bis die Bürger mich um Hilfe anflehen. Wollte also auch »schießen lassen«, nur etwas später; und hielt die Sozialdemokraten für Straßenräuber. Warum widersprach er dem Kanzler? Dem wars freilich nicht »gleichgiltig«, ob geplündert werde. Der wollte so lange nicht warten. Glaubte, allen Ständen und Klassen staatlichen Schutz zu schulden. Und hat später gesagt: »Ueber Sozialistengesetz und Erlasse ließ sich reden. Aber ich kannte diese Jugend doch genug, um zu wissen, daß die Lokomotive des Sonderzuges nicht lange auf diesem Strang bleiben werde. Und dann? Sobald die unvermeidliche Enttäuschung kam, gings dann in anderer Richtung vorwärts, mußte plötzlich in allen Kesseln Feuer gemacht werden, um das Versäumte nachzuholen. Auf diese Art Politik zu treiben, habe ich aber nicht gelernt. Um Massenbewunderung habe ich nie gebuhlt. Wie bedenklich es ist, die Bourgeoisie vor den Kopf zu stoßen, haben wir in den Konfliktsjahren erlebt. Der junge Herr war ohne alle Erfahrung und bekam von byzantinischen Dilettanten täglich tonics, die sein Selbstbewußtsein stärken sollten und auch wirklich stärkten. Da einfach meine Ueberzeugung abzustreifen wie ein vertragenes Hemd: Das konnte mir nicht einfallen; auch nicht um den Preis von Gnade und Amt. Was da, unmittelbar vor den Wahlen, unternommen werden sollte, war caesarische Politik, meinetwegen auch louisnapoleonische; dafür war ich nicht zu haben.« Nicht dafür, wie Caprivi, nachdem man sich eben mit dem »Muth der Kaltblütigkeit« gebrüstet hat, die Umsturzvorlage auszuarbeiten, noch, wie der Jammerchlodwig, ein galantes Leben mit der Vorlegung der Lex Heinze zu krönen. Bismarck könnte heute sagen: Als Wilhelm der Zweite auf den Thron kam, waren 763128 sozialdemokratische Stimmen abgegeben worden; als er fünfzehn Jahre regirt hatte, warens 3025000. Könnte auf all die Reden weisen, in denen der Kaiser seitdem die Sozialdemokratie gescholten, der ärgsten Verbrechen angeschuldigt hat. Recht oder Unrecht: er ließ sich nicht von Popularitätsucht leiten, nicht von der Gier, sein Amt zu behalten, noch von der Berechnung persönlichen Vortheils. Litt er, litten seine Einkünfte, wenn den Arbeitern der Großindustrie mehr Lohn und mehr Muße bewilligt wurde? Er that, was Pflicht und Ueberzeugung gebot. Setzte seinen Namen nur unter Urkunden, deren Inhalt er billigen konnte. Trotzte der Ungnade, um sich nicht als einen feigen Wicht verachten zu müssen. Das sollte selbst der erbitterte Gegner anerkennen. Wo ist heute der Mann, der, wenn Gewissensnoth dazu drängt, dem Kaiser so aufrecht entgegentritt? Seit Bismarck ging, sahen wir keinen.

Die Kabinetsordre vom achten September 1852. Was Bismarck in dem erzwungenen Entlassungsgesuch darüber gesagt hat, zeigt den Rechtszustand und die Konsequenzen der damals gewünschten Aenderung in einleuchtender Klarheit. Der Ministerpräsident ist für die Gesammtpolitik des Kabinets verantwortlich. Das kann er nur, wenn er im Staatsministerium und in dessen Verkehr mit dem König die Einheit des Wollens und des Handelns zu sichern vermag. Kanns aber nicht, wenn jeder einzelne Ressortschef die Möglichkeit hat, in günstiger Stunde, ohne Premier und Kollegen vorher nach ihrer Meinung gefragt zu haben, Anordnungen des Königs zu extrahiren. Im Jahr 1889 hatten einzelne Minister sich an das Ohr des Monarchen gedrängt und waren dann mit den von ihm gebilligten Projekten (eigenen oder geheimräthlichen) ins Staatsministerium gekommen; triumphirend, denn sie hatten die Unterschrift des Königs, vor der jeder Widerspruch verstummen mußte. Um diesen Brauch wieder auszuroden, rief Bismarck den Kollegen die Ordre Friedrich Wilhelms des Vierten ins Gedächtniß zurück. Sie ist von Manteuffel gegengezeichnet und bestimmt: Der Ressortchef hat sich über alle wichtigen Verwaltungmaßregeln mit dem Ministerpräsidenten zu verständigen; bedürfen solche Maßregeln der königlichen Genehmigung, so geht der Bericht des Ressortchefs zunächst an den Ministerpräsidenten, der ihn glossiren kann und dem König vorzulegen hat; will ein Ressortchef dem König Vortrag halten, dann muß er diese Absicht so früh mittheilen, daß der Ministerpräsident, wenn ers nöthig findet, dem Vortrag beiwohnen kann. Diese Bestimmungen fand Wilhelm obsolet. Das Entlassungsgesuch, das, in den Kurialien der Unterthänigkeit, dem König bitterste, heilsame Wahrheit sagt, giebt die Antwort: »In der absoluten Monarchie war eine Bestimmung, wie sie die Ordre von 1852 enthält, entbehrlich und würde es noch heute sein, wenn wir zum Absolutismus, ohne ministerielle Verantwortlichkeit, zurückkehrten. Nach den zu Recht bestehenden verfassungmäßigen Einrichtungen aber ist eine präsidiale Leitung des Ministerkollegiums auf der Basis der Ordre von 1852 unentbehrlich«. Jetzt sind die Briefe veröffentlicht worden, die Friedrich Wilhelm der Vierte an seinen Ministerpräsidenten Ludolf Camphausen geschrieben hat. Die lehren, wie es vor dem September 1852 aussah; lehren, welchen Zustand der König ersehnte. Er schreibt: »Für den König soll und muß ein konstitutionelles Ministerium eine deliberirende Versammlung sein. Es soll und muß mit dem König berathen. Das heißt: ein jeder Minister soll und muß seine Meinung, seine Ansicht im Conseil vortragen. Dann ist der einzige Unterschied unter dem Regime einer Verfassung also der, daß nicht mehr des Königs Wort definitiv entscheidet, sondern daß des Königs Meinung diskutirt wird, vor ihm und mit ihm. Niemals und unter keiner Bedingung darf der König in die Lage gerathen, Abgemachtes und fest Beschlossenes vorgelegt zu bekommen, über welches also nicht die Minister mehr diskutiren können, sondern über welches er allein mit dem Ministerium als solidarischer Person zu diskutiren genöthigt ist. Wie unwürdig und unköniglich bin ich vorgestern und gestern vor Ihnen Allen dagesessen! So regirt man mit dem geistesschwachen Kaiser Ferdinand, aber nicht mit Friedrich Wilhelm von Hohenzollern, König von Preußen! .. Ihr reiner Wille muß sich an meinem spiegeln, abschleifen, sich mit ihm verständigen, ihn verstehen, ihn hören können.« Also nicht Beschlüsse des Staatsministeriums, die der König annimmt oder, wenn er die Berather wechseln will, verwirft; sondern Diskussion der einzelnen, durch keinen Beschluß gebundenen Minister mit dem König, der schwache Gemüther dann natürlich leicht auf seine Seite zieht. Das war im Mai 1848 das Ziel. Um im Januar 1890 sagt ein König von Preußen: »Ja, wenn hier mit Majoritätbeschlüssen gegen meine Intentionen gearbeitet wird …« Und bald danach zu einem Führer der Konservativen Partei: »Merken Sie sichs: Suprema lex est regis voluntas!« Die Ordre, die Bismarck beseitigen sollte, ist noch heute in Geltung; und kein preußischer König war den Ressortchefs so schwer so selten erreichbar wie Wilhelm der Zweite.

Windthorsts Besuch. Am vierzehnten März 1890 hatte der Führer der Centrumspartei durch den Mund Gersons von Bleichröder eine Unterredung erbeten, die Bismarck noch für den selben Tag zusagte. Daß ein Vermittler (und just dieser) gesucht worden war, fiel ihm auf; er empfing ja jeden Abgeordneten, der die Geschäfte mit ihm besprechen wollte. Zu solchem Zweck brauchte Boettichers blinder Freund sich nicht erst auf die Beine zu machen. Das Gespräch brachte kein politisch brauchbares Resultat; was der Katholik wünschte (status quo ante 1870), konnte der Protestant nicht gewähren. Bismarck sprach von der Möglichkeit seines Rücktrittes. Windthorst rieth ihm drängend, im Amt zu bleiben; müsse oder wolle er aber durchaus gehen, so sei als für die Nachfolge geeignetster Mann der General von Caprivi zu empfehlen. Dem Kaiser muß dieser Besuch sofort gemeldet worden sein. Von wem? Von einem intimen Feind jedenfalls, der noch in letzter Stunde Caprivis Kandidatur als eine von Bismarck unterstützte diskreditiren wollte. Daß Windthorst sich wissentlich zu der Intrigue hergegeben habe, hat der Fürst nie geglaubt. Seit Hatzfeldt (Sardanapaul) fort war, standen Boetticher und Holstein dem alten Bankier am Nächsten. Dem Staatssekretär hatte er in der stralsunder Familiensache genützt; der Geheimrath schätzte den Scharfsinn des Greises, die assoziirende Kraft seines Hirnes. Erweislich wahr ist, daß Herr von Boetticher gehofft hat, in Gemeinschaft mit Herbert die Reichsgeschäfte führen zu können. Nicht erweislich, daß er den Besuch Bleichröders bei Hof rapportirt hat; Indizien zeugen dafür.

Am Fünfzehnten kommt der Kaiser sehr früh in Herberts Wohnung und läßt den Kanzler rufen. Der hat abends ziemlich lange gearbeitet, hat den anstrengenden Tag der Konferenzeröffnung (mit Fremdenbesuchen, Zuhörerpflicht und ähnlichem onus) vor sich und liegt noch im Bett. Sein lever war in den letzten Jahren stets langwierig; sollte nach ärztlicher Anordnung so sein. Da wurde gewogen und gemessen, Gewicht und Umfang festgestellt; da gab es Leibesübungen und umständliche Waschungen; Schweninger wurde hereingebeten, kontrolirte die Organe und ihre Funktionen und übte gern die Pflicht des Nachtstuhlinspektors. Nervöse Menschen sind morgens meist geneigt, mit allen Igelstacheln ihre Vision gegen die lästige, allzu helle Außenwelt zu schützen. Und Dieser war fünfundsiebenzig Jahre alt und hatte harten Dienst hinter sich. Hastig nun also aus dem Bett an den Waschtisch, in die Kleider, zum Kaiser; ohne die kleinen Hilfen, mit denen der Arzt ihm sonst den Uebergang in die Alltagsgleise erleichtert. »Disappointed, no reckoning made, but sent to my account whit all my imperfections on my head«: so, mit den Worten des Dänenkönigs, hat er, der seinen Shakespeare immer präsent hatte, lächelnd mir diese Morgenstimmung geschildert. Wilhelm ersucht ihn in gereiztem Ton, künftig nicht ohne sein Vorwissen mit Parteiführern zu verhandeln. »Ich kann mir in meinen alten Tagen nicht das Recht nehmen lassen, in meinen Räumen einflußreiche Parlamentarier zu informatorischer Besprechung zu empfangen, und werde mich an eine Kontrole meines Verkehrs schwerlich noch gewöhnen.« »Auch nicht, wenn Ihr Herr es Ihnen befiehlt?« »Die Macht meines Herrn endet am Salon meiner Frau.« Ueber spitze Worte springt das Gespräch auf die Ordre von 1852; Befehl, sie sofort außer Kraft zu setzen. Der Ministerpräsident soll also nicht mehr die Rechte haben, die Manteuffel 1852 für unentbehrlich hielt; der Kanzler nicht die Befugniß, den Verkehr mit Reichstagsmitgliedern nach seinem Ermessen zu regeln. Das war das Ergebniß des Zwiegespräches, das Bismarck in seinem Entlassungsgesuch als den »ehrfurchtvollen Vortrag vom Fünfzehnten dieses Monats« erwähnt. Daß der Kaiser hier im Unrecht war, würde er heute wohl selbst zugeben. Er konnte den Fürsten so ungnädig entlassen wie sein Ahn einst den Reichsfreiherrn; aber er durfte ihn nicht einer Lappalie wegen (Das war Windthorsts Besuch) wie einen Lohndiener behandeln, der die Bratensauce aufs Tischtuch verschüttet hat. Keinen Staatsminister und Kanzler; und erst recht nicht diesen, über den schon 1852, vier Monate vor der Geburt der nun historischen Ordre, Friedrich Wilhelm an Franz Joseph schrieb: »Herr von Bismarck-Schönhausen gehört einem Rittergeschlecht an, welches, länger als mein Haus in unseren Marken seßhaft, von je her und besonders in ihm seine alten Tugenden bewährt hat. Die Erhaltung und Stärkung der erfreulichen Zustände unseres platten Landes verdanken wir mit seinem furchtlosen und energischen Mühen in den bösen Tagen der jüngst verflossenen Jahre. Er ist mein Freund und treuer Diener.« War der treue Diener und Freund des Regenten, des Königs und Kaisers Wilhelm; und hat in dieser Zeit für das Haus Hohenzollern Einiges geleistet; die Krone Karls ihm erstritten. Was müßte geschehen sein, ehe der alte Herr sich entschlossen hätte, den Kanzler aus dem Bett holen zu lassen und zornig zu verhören! Der Enkel hats gethan.

Sich dann bitter beklagt, daß Bismarck an diesem Morgen so heftig geworden sei, und erzählt: »Daß er mir nicht das Tintenfaß an den Kopf geworfen hat, war Alles.« Nicht scherzend, wie ich noch 1903 vermuthen mußte, erzählt; ernsthaft, vor den versammelten Kommandirenden Generalen, denen er das Benehmen des Kanzlers so erregt schilderte, daß Moltke, als Erster, das Urtheil in die Worte faßte: »Wenn der Mann sich so vergessen kann, muß er fort.« Bismarck, der sein Handeln doch nicht feig zu verleugnen pflegte, hat bestritten, daß er je von der Pflicht der Ehrerbietung gewichen sei. Als die Tintenfaßlegende, deren Herkunft damals noch unsicher war, immer wieder auftauchte, hat er eine Erklärung gesucht. Die war nicht schwer zu finden. Der Fürst hatte, wenn er lebhaft sprach, die Gewohnheit, mit der Faust kurze, leise, aber starke Stöße gegen die Tischplatte zu führen, von oben her, als wolle er seine Worte in das Holz eindrücken; dabei konnte ein Tropfen Tinte aus dem Fäßchen springen. Herbert behauptete, in dem Zimmer, das der Schauplatz des Gespräches war, habe gar kein Tintenfaß gestanden. Einerlei. Wilhelm heischte mehr Devotion. Wer dem Fürsten aber Flegelei zutraut, zutraut, er habe mit Realinjurien gedroht, hat ihn nie gekannt. Der Riese, der so viel auf »Wohlerzogenheit« hielt, war nicht grob; nur rückhaltlos wahrhaftig. Stand vor jedem König wie ein Edelmann vor dem anderen. Als er, beim ersten Empfang in Sanssouci, Friedrich Wilhelm die Räumung der Hauptstadt vorgeworfen und die über solchen Ton empörte Königin gerufen hatte, daran sei der König, dem seit drei Tagen der Schlaf gefehlt habe, ganz unschuldig, antwortete er ruhig: »Ein König muß schlafen können«. Auch harte Wahrheit ertragen. Zur Schranzenservilität und Hundedemuth hatte der Mann keinen Blutstropfen in sich. Hätte niemals, wie Caprivi, den Vortrag einer wichtigen Sache vertagt, weil »der Kaiser heute übler Laune ist«. Wer vom Genie bedient sein will, muß auf Lakaienkünste verzichten.

Das Verhältniß zu Rußland und zu Oesterreich. Der Vertrag, den Bismarck 1890 mit Rußland schließen wollte, ist nicht veröffentlicht worden; wer die einzelnen Bestimmungen aufzählte, könnte der Gefährdung von Reichsinteressen verdächtigt werden. (Bismarck selbst hat die Frage erwogen, ob er ihn, in extenso und sachgemäß kommentirt, in den dritten Band seiner Erinnerungen aufnehmen solle.) Handelte sichs um die Verlängerung des Assekuranzvertrages oder waren neue Abmachungen vorgesehen? Offiziell wissen wir nichts darüber. Bis zum zwanzigsten März 1890 kannten im Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes nur vier Personen den Entwurf: der Fürst und Herbert, der Unterstaatssekretär Graf Berchem und der Botschafter von Schweinitz. Selbst Herr von Holstein (Herbert hats oft betont) war, weil er in russischen Angelegenheiten als voreingenommen galt, den Verhandlungen nicht zugezogen worden; wußte, als fleißigster Arbeiter und klügster Kopf der Politischen Abtheilung, aber wohl, was vereinbart war, und durfte auch das Geheimste lesen. Die Angaben Chlodwigs, der sich auf Erzählungen Wilhelms und Friedrichs, Caprivis und Holsteins beruft, zeigen ein völliges Mißverständniß bismärckischer Politik, ihrer tiefsten Motive und letzten Ziele; zeigen die Absicht auf solches Mißverständniß, den Wunsch, Klares zu verdunkeln.

Rußland, sagte der Kaiser den Generalen, will Bulgarien militärisch besetzen und verlangt dazu unsere Neutralität. Hats ihm Waldersee berichtet? Wars Gewißheit oder Vermuthung? Wilhelm war fest überzeugt, Boulanger werde Kaiser werden, prophezeite Alexander dem Dritten, den er träg fand, das Ende Ludwigs des Sechzehnten und nannte den Thronfolger Nikolai Alexandrowitsch »einen gescheiten Menschen, der ein ganz anderes System befolgen werde«; hat also recht menschlich geirrt. Daß Deutschland das russische Recht auf den »vorwiegenden Einfluß in Bulgarien« anerkenne und keine Macht, die dieses Recht bestreite, unterstützen werde, brauchte den Russen kein Vertrag vom Jahr 1890 zu verbürgen. Das wußten sie mindestens seit dem elften Januar 1887; seit Bismarck im Reichstage gesagt hatte: »Es ist uns vollständig gleichgiltig, wer in Bulgarien regirt und was aus Bulgarien überhaupt wird. Wir werden uns wegen dieser Frage von Niemand das Leitseil um den Hals werfen lassen, um uns mit Rußland zu brouilliren.« Und schon elf Jahre vorher hatte er gesagt, die ganzen Orienthändel seien uns nicht die gesunden Knochen eines einzigen pommerschen Musketiers werth. Hier hat das lange Sündenregister also das erste Loch. Die Russen brauchten 1890 nicht zu erhandeln, was ihnen seit Jahren gesichert, was von einem Lebensinteresse des Deutschen Reiches geboten war. Weiter. Wer wollte damals Bulgarien besetzen? Vielleicht Ignatiews Slavische Wohlthätigkeitgesellschaft; sicherlich weder Alexander noch Giers. Möglich, daß sie sich an den Dardanellen festsetzen wollten; dann könnte Oesterreich warten, bis England dagegen Front macht. Aus Schweinitzens Bericht vom vierzehnten Dezember 1889 wußte Bismarck, daß Rußland, wegen der Mängel des Transportwesens und der Bewaffnung, vor 1895 keinen irgendwie beträchtlichen Krieg wagen konnte. Er zweifelte nicht, daß Ferdinand sich halten und mit Petersburg verständigen werde; denn »ein Koburger frißt sich überall durch«. Wußte aber auch, daß Rußland, gerade weil es mit dem Gewehr und mit den strategisch wichtigsten Bahnen rückständig war, fürchtete, in dieser Zeit halber Ohnmacht von Oesterreich angegriffen zu werden: und machte sich zum Bürgen gegen die Ausführung solcher Angriffsabsicht. Die Russen sollten sicher sein, daß Oesterreich bei einem Angriff (den, ohne die unklügste Provokation, kein englisches Kabinet mitmachen würde) isolirt wäre; aber auch nie vergessen, daß sie als Angreifer Deutschland an Oesterreichs Seite finden müßten. Diese Friedensassekuranz war Bismarcks Ziel.

Nicht das einzige, das die Mühe des Weges belohnen konnte. Seine Gegner (unter ihnen sein Kaiser) warfen ihm »Schwankungen« vor. Aus dem Grab hat er geantwortet: »Die internationale Politik ist ein flüssiges Element, das unter Umständen zeitweilig fest wird, aber bei Veränderungen der Atmosphäre in seinen ursprünglichen Aggregatzustand zurückfällt.« Seit 70 bestand die Gefahr eines (schon vom ersten Nikolaus für den Fall deutscher Einigung vorausgesagten) franko-russischen Bündnisses. Die mußte vermieden werden. Mit Frankreich allein würden wir fertig; mit Beiden? Deshalb mag Frankreich in Afrika nehmen, was es erlangen kann: Tunis, Marokko, noch mehr; dann ists für etliche Menschenalter beschäftigt und starrt nicht immer auf das Vogesenloch. Deshalb mag Rußland sich durch Stillung seines Balkanappetits schwächen (der Bissen Konstantinopel ist noch Keinem je gut bekommen); darf nur das österreichische Lebenscentrum nicht antasten: sonst müssen wir eingreifen. Weil Oesterreich, wenn es sich isolirt russischem Angriff ausgesetzt sähe, im Westen Bündnisse suchen müßte (und auf Kaunitzens Weg finden könnte), schließt er, innerhalb des Dreikaiserverhältnisses 1879, gegen Wilhelms Herzenswunsch, den deutsch-österreichischen Vertrag. Benutzt die Divergenz der österreichischen und der russischen Balkaninteressen als einen unserer Rechnung nützlichen Posten. Bleibt aber nicht noch die Gefahr, uns in Orienthändel verwickelt zu sehen? 1886 schlägt der ehrliche Makler eine Balkanentente der Ostmächte vor; ungefähr auf der Linie, die viel später von Lobanow und Aehrenthal, Lamsdorff und Goluchowski markirt und im mürzsteger Programm sichtbar wurde. Er erlebts nicht. Erlebt im Amt aber die schnelle Slavisirung Oesterreichs und ihre Folge: die wachsende Unzufriedenheit der Deutschen, besonders in Böhmen und den Alpenländern. Und sagt sich: Dieses verslavte Oesterreich kann gegen Rußland kaum noch Krieg anfangen; das Haus Habsburg-Lothringen kann, weil es seine deutschen Länder nicht verlieren will, aber auch nicht wünschen, unser Prestige und unsere Anziehungskraft noch gesteigert zu sehen. Was liegt da näher als eine russo-österreichische Verständigung auf unsere Kosten? Kommt sie, dann ist Frankreich sofort der Dritte im Bund, Italien wahrscheinlich der Vierte; und England weiß sich mit jeder starken Koalition bald abzufinden. Der alte Entenjäger sucht eine neue Bülte; und findet sie. Wenn die Russen so dumme Kerle sind, daß sie heute noch einen Angriff dieses Slavenstaates mit bröckelnder deutscher Fassade fürchten: diese Furcht kann uns Profit bringen. Im Rahmen des Dreikaiserbundes war der deutsch-österreichische Vertrag möglich; im Rahmen des neuen Dreibundes ists der deutsch-russische Vertrag. Der erste wurde den Russen mitgeteilt, der zweite den Oesterreichern verborgen? Ein Unterschied für fromme Knaben. Zu Bismarcks Lieblingworten gehörte auch dieses: »Geheimnisse giebt es nicht.« Wißt Ihr denn übrigens, was er Kalnoky gesagt hat und wie lange der neue Vertrag den Wienern unbekannt geblieben wäre? Mußte er sie schrecken? Er schützte sie vor russischem Angriff und nahm ihnen keine Balkanhoffnung.

»Wilhelm wollte Oesterreich die Treue halten, Bismarck sie brechen«. Soll man wüthend aufbrüllen oder lachen, wenn mans liest? Was hat der Kaiser für Oesterreich gethan? Nichts; konnte auch nichts thun. Die Verherrlichung der »ritterlichen Söhne Arpads« und die Mensurdepesche stehen auf der Debetseite seiner Bilanz; auf der anderen die eifrigsten Regungen guten Willens und der (im Interesse des Deutschen Reiches unvermeidliche) Entschluß, in dem bosnischen Hader Habsburg gegen den Trust der Einkreiser zu helfen. Und Bismarck? In Nikolsburg hat er mit letzter Nervenkraft, ein von schmerzhafter Krankheit Gepeinigter, gegen den König, Moltke, die ganze Generalität als einziger Civilist gekämpft; sich in Weinkrämpfen auf seinem Feldbett gewälzt; den Selbstmord erwogen; seine Entlassung gefordert; und schließlich durchgesetzt, daß auf die Fortsetzung des Krieges (»da mein Ministerpräsident mich vor dem Feind im Stich läßt«) und auf Westsachsen verzichtet, Oesterreich nicht schwer verwundet und die Bündnißmöglichkeit offen gehalten wurde. Um aus dieser Möglichkeit eine Thatsache zu machen, mußte er 1879 wieder harte Kämpfe mit dem König bestehen (nachdem Alexander der Zweite in unhöflichen Briefen dem Oheim mit Krieg gedroht hatte). Wenns nach dem Hohenzollern gegangen wäre, hätte Habsburg aus schlimmeren Wunden geblutet; und wäre danach der Freund jedes unserer Feinde geworden. Bismarck brauchte diesen Stein auf dem europäischen Schachbrett; konnte ihn in kleinerem Format nicht brauchen. Er wollte es auch 1890 nicht »im Stich lassen«. Wollte ihm nur nicht (wie an der Donau manche Leute wünschten) mehr gewähren, als im Bündnißvertrag vorgesehen war. Weder für österreichische noch für russische Interessen in Anspruch genommen sein. Als Oesterreich sich zur Neutralität im Türkenkrieg verpflichtete, ließ es sich, in der Konvention von Reichstadt, mit Bosnien und der Herzogewina bezahlen. Bismarck hat den Russen weder einen Gebietszuwachs verheißen noch ein Neutralitätversprechen gegeben, das nicht längst durch das deutsche Interesse geboten und publici juris geworden war; und dennoch erreicht, daß von Petersburg die schriftliche Versicherung kam: Für den Fall eines französischen Angriffes seid Ihr unserer wohlwollenden Neutralität gewiß. Von wo konnte der Sturm nun noch kommen? Russischer Angriff: wir haben Oesterreich; das gegen Schwächung von der russischen Seite her wiederum bei uns assekurirt ist. Frankreich ist allein und kann sich in neuen Kolonien an Englands Mittelmeerflanke reiben. Als dem Genie des Vaters, dem Fleiß des Sohnes diese Frucht endlich gereift war, wurden sie weggeschickt und treulose Diener gescholten.

Was der Kaiser damals wollte, lehrte, außer Privatbriefen, die Waterloorede vom einundzwanzigsten März 1890 (die Moltke sekretirt wünschte); lehrt Alles, was zwischen dem Besuch in Spala und dem Abschluß des Sansibarvertrages geschah; lehrt in Bismarcks Entlassungsgesuch der Satz, er könne nicht ausführen, was der Kaiser auf dem Gebiet internationaler Politik angeordnet habe; »ich würde damit alle für das Deutsche Reich wichtigen Erfolge in Frage stellen, welche unsere auswärtige Politik seit Jahrzehnten in unseren Beziehungen zu Rußland unter ungünstigen Verhältnissen erlangt hat.« Wirkung: Rußland wird mißtrauisch und sucht neue Freundschaft. Franko-russisches Bündniß (Caprivi jauchzt). Verständigung mit Italien (Rudini) und Oesterreich-Ungarn (Goluchowski). Frankreich ist endlich also wieder bündnißfähig; lockt mit moskowitischer Hilfe Italien aus dem Dreibundreigen (Bülow lächelt: Extratour!); wird als mohammedanische Macht geärgert und verlobt sich in heißer Altersliebe den Briten (Bülow jauchzt). Italien brüstet sich im Concern der Westmächte, dem Oesterreich-Ungarn von Mond zu Mond näher rückt (Tschirschky jauchzt). Und England denkt an die Jamesondepesche, die Weltmarktkonkurrenz und die Bagdadbahn. Dann, nach argen Enttäuschungen, wurde der Rückweg zu einer Verständigung der drei Kaiserreiche gesucht, zu dem Ziel, das Bismarck per varios casus, per tot discrimina rerum erreicht hatte.

Caprivi ließ sich am ersten Tag seiner Kanzlerschaft den Entwurf des Geheimvertrages, dem die russische Unterschrift gesichert war, vorlegen, trug ihn ins Schloß und kam mit der Entscheidung zurück: Wird abgelehnt! Schuwalow nannte ihn drum un trop honnête homme; in der plumpen deutschen Sprache wärs so höflich nicht auszudrücken. Mit Bismarck, der ihn artig an seinen Familientisch gezogen und sich zu jeder politischen Auskunft bereit erklärt hatte, hat er keine Silbe über den Vertrag gesprochen; nur mit ihm Untergebenen, die einem neuen Herrn nicht gern unerwünschte Antworten geben. Vielleicht hätte erst der Autor den Sinn seines Werkes richtig erklärt. Hugo Grotius liest anders als Schulknaben. Vielleicht hätte der bewährte Mann, dem mit dem Amt ja nicht auch aller Verstand genommen war, sich erboten, ein etwa aufkommendes österreichisches Ressentiment zu beschwichtigen; nach Wien zu fahren (der Vertrag war ihm größere Strapazen werth); an Franz Joseph zu schreiben. That Das der Kaiser? Am dritten April 1890 überbrachte der Flügeladjutant Graf Wedel (er ist jetzt Statthalter im Reichsland) dem Kaiser von Oesterreich ein ungewöhnlich langes Allerhöchstes Handschreiben; darin waren, wie nach Friedrichsruh berichtet wurde, die Gründe aufgezählt, die »zur Entlassung Bismarcks zwangen «. Auch die Untreue? Im Juni 1892 ging der Fürst, zu Herberts Hochzeit, nach Wien. Er hatte gebeten, von Franz Joseph empfangen zu werden, und die Audienz war gern gewährt worden, sogar mit dem beneficium, im Ueberrock erscheinen zu dürfen. Er wollte die »doppelte Assekuranz« zur Sprache bringen; die Legende vom treulosen Kanzler endgiltig beseitigen. Doch der Uriasbrief Caprivis war ihm vorausgeeilt. Zwar kam Kalnoky zu ihm und der Hof zeigte zunächst wenig Lust, »d'épouser les haines d'autrui«; konnte aber wiederholten »dringenden Vorstellungen« aus der Hauptstadt einer befreundeten und verbündeten Großmacht nicht widerstehen. Der Hochzeitvater wird ersucht, auf die Audienz zu verzichten, und muß abreisen, ohne den Kaiser gesehen zu haben, mit dem er, vor genau vierzig Jahren, als Gesandter Friedrich Wilhelms des Vierten, in dienstlichen Verkehr getreten war. Als Chlodwig ein paar Tage später nach Wien kommt, kann er mit Behagen feststellen, daß die hohe Aristokratie der Hochzeit Herberts fern geblieben ist. Und aus dem Munde des alten Kaisers hört er über Bismarck das Wort: »Es ist traurig, daß ein solcher Mann so tief sinken konnte«.

Der Vertrag, den Caprivi so komplizirt fand, war im Grunde ziemlich einfach. Er sagte den Russen laut: Wir müssen den Oesterreichern helfen, wenn Ihr über sie herfallt, helfen ihnen aber nicht, wenn sie Euch angreifen; dafür haben wir bei französischem Angriff Eure Neutralität sicher. Er konnte den Oesterreichern sagen: Daß wir aggressivem Balkanehrgeiz nicht deutsches Blut opfern wollen, wißt Ihr längst; greift also die Russen gefälligst nur an, wenn Ihr Euch allein dazu stark genug fühlt oder auf andere Hilfe rechnen könnt; wollen sie Euch ans Leben, dann sind wir zur Stelle; auch für Euch tritt der casus foederis nach unserem Vertrage ja nur ein, wenn wir angegriffen werden, nicht, wenn wir angreifen; unsere Konten stimmen also. Beide Verträge sollten und konnten jedes der drei Kaiserreiche vor der ihm nächsten und drum gefährlichsten Koalition schützen: Rußland vor der deutsch-österreichischen, Oesterreich vor der russisch-deutschen, Deutschland vor der russisch-österreichischen und (namentlich) vor der franko-russischen. Und der Ersinner dieser Rückversicherungen konnte sich, bei seiner Erfahrung, seiner Monarchen- und Personalkenntniß, obendrein sagen: Rußland greift Oesterreich, Oesterreich Rußland nicht an, Beider Furcht sieht nur Gespenster spuken und die uns widrigsten Fälle bleiben auf dem Papier (so ists ja auch geworden); wir heimsen ohne nennenswerthen Aufwand also großen Ertrag ein. Dem Mann, der Solches ersonnen und dem Mißtrauen Alexanders abgerungen hatte, hätten manche Völker Altäre gebaut, manche einen Thron gezimmert. In Deutschland wurde er weggejagt und geächtet. Warum? Weil dem Deutschen Kaiser ins Ohr geraunt worden war: »Dieser Vertrag hat nur den Zweck, dem Kanzler für Lebenszeit, auch wider Deinen erhabenen Willen, die Herrschaft zu sichern. Denn mit diesem unsauberen Instrument kann nur er arbeiten; nur er kann, mit dem unvererbbaren Vertrauen, dessen er sich laut gerühmt hat, in Nothfällen, je nach Bedarf, in Petersburg oder in Wien die letzte Karte aufdecken. Wird er Dir aber lästig oder zu alt, hast Du ihn am Ende, nach Deinem Königsrecht, gar doch weggeschickt, dann läßt er irgendwo das Vertragsgeheimniß entschleiern und wir kommen, zwischen der österreichischen Wuth und der russischen Mitschuldblamage, in eine so schlimme Lage, daß der einstimmige Wunsch der Nation mit unwiderstehliger Tonwucht ihn als Retter zurückruft. Das ist sein wohlerwogener Plan. Hilfst Du ihm zur Verwirklichung oder bleibst Du Kaiser, König und Herr?« Hintertreppe? Nein. Das ist dem Deutschen Kaiser gesagt worden. Und Das hat Wilhelm, Wilhelms Enkel, geglaubt. Solchen Trachtens schien ihm 1890 der Mann fähig, dem er 1888 als dem Fahnenträger folgen wollte. So weit hatte man ihn gebracht. Und nicht Einer stand auf und sprach: Sieh auf das Leben dieses Mannes, das Arbeit für Dein Haus war. Nicht Einer. Chlodwig, der dreimal, zuletzt am fünfzehnten Dezember 1889, von Bismarcks Lippe die Worte abgeschrieben hat: »Wenn der Bestand der österreichischen Monarchie gefährdet wird, sind wir gezwungen, loszuschlagen«, Chlodwig hat den guten schwarzen Rock an, hält den Mund und notirt emsig: »Er wollte Oesterreich im Stich lassen« … Nur der alte General Pape hat seinem ehrlichen Soldatenherzen einmal Luft gemacht und gepfaucht: »Die Leute, die sich an Eure Majestät herandrängen, sind lauter Hochverräther!«

Wilhelm wollte gegen Rußland die Grenze waffnen, Oesterreich warnen, den Besuch, den er, wider des Kanzlers Wunsch, am dreizehnten Oktober 1889 dem Zaren angeboten hatte, absagen. Warum? Weil veraltete und einseitige Konsularberichte meldeten, was einer persönlichen Verstimmung entsprach (und was Waldersees Ehrgeiz gern hörte). Der Protest gegen dieses Vorhaben war Bismarcks letzte Kanzlerthat. »Ich würde damit alle für das Deutsche Reich wichtigen Erfolge in Frage stellen, welche unsere auswärtige Politik seit Jahrzehnten im Sinne der beiden hochseligen Vorgänger Eurer Majestät in unseren Beziehungen zu Rußland unter ungünstigen Verhältnissen erlangt hat.« Alexander hat weder gegen Oesterreich noch gegen Deutschland Krieg geführt. Wilhelm hat den Besuch in Spala nicht abgesagt. Hat er Oesterreich gewarnt? Vielleicht in dem Brief, den Graf Wedel in die Hofburg brachte. Doch in Wien wußte man, daß eine kriegerische Balkanaktion damals nicht im Plan des Gossudars lag, und wurde deshalb nicht nervös. Auch nicht, als man (ziemlich früh) erfuhr, was Wilhelm im Schloß über des Kanzlers Treulosigkeit den Kommandirenden Generalen gesagt habe. Daß in dem Schicksalsmärz die internationale Politik des Deutschen Reiches einen neuen Pivot wählte, spüren wir heute noch. Und haben in frostiger Einsamkeit Grund, dem Wort Bismarcks (aus dem Kapitel über die russische Politik) nachzudenken: »Meine Befürchtung ist, daß auf dem eingeschlagenen Wege unsere Zukunft kleinen und vorübergehenden Stimmungen der Gegenwart geopfert wird. Frühere Herrscher sahen mehr auf Befähigung als auf Gehorsam ihrer Ratgeber; wenn Gehorsam allein das Kriterium ist, so wird ein Anspruch an die universelle Begabung des Monarchen gestellt, dem selbst Friedrich der Große nicht genügen würde, obschon die Politik in Krieg und Frieden zu seiner Zeit weniger schwierig war als heute.« Hätten Alle, die es anging, im Jahre 1898 diese Worte mit wachem Sinn gelesen, dann stünden wir jetzt nicht, wo wir stehen; brauchten hochkonversative Herren nicht laut vor »Entgleisungen in den Bereich des Absolutismus« zu warnen. Doch damals lebte noch die Legende, das Verhältniß des dritten Kaisers zum ersten Kanzler sei nach kurzer Trübung ungemein herzlich geworden und Bismarck habe sterbend das Werk Wilhelms gesegnet. Hatte er nicht den Kaiser, ihn nicht der Kaiser besucht? Den Reckenleib mit einem grauen Mantel gewärmt, mit Küraß und Palasch geschmückt, alle Ehren auf das greise Haupt gehäuft und den Reichstag, der dem Achtzigjährigen den Glückwunsch weigerte, mit rauhen Zornruf getadelt? Nur Brunnenvergifter konnten noch leugnen, daß der holdeste Friede, die zärtlichste Eintracht hergestellt sei; »professionelle Hetzer«.

Bismarck war als ein wohlerzogener Mann aus dem Amt gegangen. Er hatte den Nachfolger, der ihm, auf Befehl, so hastig ins Haus gerückt war, als Junggesellen an seinen Familientisch geladen. Der blieb meist ein schweigsamer Gast; sagte aber zu Frau Johanna: »Mir ist zu Muth wie einem Kinde, das man mit verbundenen Augen in ein dunkles Zimmer gestoßen hat.« (Graf Brandenburg, der Troupier Friedrich Wilhelms des Vierten, sagte im November 1848 zu dem Junker aus Schönhausen: »Ich gehe in die Sache wie ein Kind ins Dunkel. Ich bin mit staatsrechtlichen Fragen unbekannt und kann nichts weiter thun, als meinen Kopf zu Markte tragen. Ich brauche einen Kornak, einen Mann, dem ich traue und der mir sagt, was ich thun kann.« Alles wiederholt sich nur im Leben). Am vierundzwanzigsten März saß der Kürassier mit dem Infanteristen allein beim Frühstück. Caprivi: »Wenn der Kaiser mich mit meinem Armeecorps an eine Stelle geschickt hätte, wo uns der Untergang drohte, hätte ich zuerst remonstrirt, wiederholtem Befehl aber stumm, ohne nach dem Ausgang zu fragen, gehorcht. So mache ichs auch auf diesem Posten.« Ehrenwerth; aber gefährlich. Vor der Abreise kam der Fürst in das Arbeitzimmer des Generals. »Haben Eure Excellenz mir noch Etwas zu sagen, mich Etwas zu fragen?« »Ich habe Eurer Durchlaucht nichts zu sagen und habe Eure Durchlaucht nichts zu fragen«. Am neunundzwanzigsten März gings in den Sachsenwald. Im April erzählte Bucher, die Herren von Holstein und Rudolf Lindau seien vom Fürsten abgefallen, und erfuhr von Busch, Paul Kayser, das Gunstkind bismärckischer Laune, habe anonym einen unfreundlichen Artikel über des Kanzlers Rücktritt veröffentlicht. Herbert gibt den Herren des Auswärtigen Amtes ein Abschiedsessen; vier Herren, »die meinem Vater Alles verdanken«, schicken Absagen. Der Fürst hört, daß Caprivi den Geheimvertrag mit Rußland nicht erneuert hat; und liest in der ersten Rede des preußischen Ministerpräsidenten den Satz: »Ich halte es für eine überaus gnädige Fügung der Vorsehung, daß die Person unseres jungen erhabenen Monarchen geeignet ist, die Lücke zu schließen und vor den Riß zu treten.« Ein Gehorcher. Das also war die Absicht. Dennoch geht an die Redaktion der Hamburger Nachrichten die Weisung, Herrn von Caprivi, den der Fürst wegen seiner persönlichen Eigenschaften hochschätze, mit Rücksieht zu behandeln. (In den Tagen, wo Friedrich von Baden sagte, Bismarck lasse in Hamburg empörende, infame Artikel schreiben; über die auch der Kaiser sich zu Chlodwig »sehr entrüstet aussprach«.) Vier Wochen danach geht die Cirkularnote gegen Bismarck ins Land. Von den Grafen Lehndorff und Stirum, den Herren Krupp, von Kardorff und Stumm, die sich noch nach Friedrichsruh wagen, heißts in einem Brief Buchers schon, sie hätten »der Allerhöchsten Ungnade getrotzt«. Am Tag von Hochkirch und Jena schreibt der bittere Lothar: »Ich will auch einen anständigen Mann erwähnen. Graf Arco, Gesandter in Washington, ist auf einige Tage hier zum Besuch. Rara avis.« Und warnt in jeden Brief vor dem Schwarzen Kabinet. (Zu Zeiten wurden alle im Sachsenwaldhaus geschriebenen Briefe in einem Körbchen nach Bergedorf gebracht und dort erst in den Postkasten geworfen; der Sicherheit wegen.) Münster und Hatzfeldt petzen jedes rasche Wort, das Herbert in London gesprochen hat, flink nach Berlin; und Radolin »erzählt manche unerfreulichen Züge vom alten Fürsten«. Der Kaiser, der im März seinen Kanzler zu russophil fand, tadelt nach der Weihnacht den Fehler, den Bismarck gemacht habe, als »er gegen die russischen Finanzen Krieg führte«; ist aber zuversichtlich: »Mit den Hamburger Nachrichten dauerts noch ein Jahr oder zwei; dann hört die Opposition auf.« Bald danach: »Man drängt mich von vielen Seiten zur Versöhnung mit Bismarck. Ich bin dazu bereit, aber es ist nicht an mir, den ersten Schritt zu thun. Die Russen brauchen eine Anleihe von sechshundert Millionen Rubel, die sie nicht bekommen. Mit dem Kaiser Alexander stehe ich jetzt gar nicht. Er ist hier durchgereist, ohne mich zu besuchen, und ich schreibe ihm nur ceremonielle Briefe.« Im Juni 1892 klopft Chlodwig, das goldene Gemüth, an; die Elsässer fürchteten, daß Bismarck wiederkomme. Der Kaiser lacht: »Da können sie ruhig sein. Der kommt nicht wieder.« Nach der wiener Reise des Fürsten: »Wenn die Leute glauben, daß ich Bismarck maßregeln, etwa nach Spandau schicken werde, so irren sie sich; ich denke nicht daran, aus ihm einen Märtyrer zu machen, zu dem die Leute wallfahren würden.« (Hatte er denn ein strafbares Verbrechen begangen? Gabs einen deutschen Gerichtshof, der ihn verurtheilt hätte? Und wars nur kaiserliche Gnade, die ihn dem Schuldspruch entzog?) Im November: »Wenn man Das, was Bismarck tut, mit Dem vergleicht, wofür der arme Arnim leiden mußte!« (Arnim war zuerst zu neun Monaten Gefängniß, dann zu fünf Jahren Zuchthaus verurtheilt worden.) Den Bismarck und Waldersee sei ganz gleichgiltig, was dem Reich geschehe; das Ziel ihres gemeinsamen Hasses sei nur, Caprivi zu stürzen. Chlodwig hält die Versöhnung, die ihn ängstet und von der bei Hof noch immer geredet wird, für unmöglich; und schreibts ins Tagebuch.

Im August 1893 war Bismarck in Kissingen erkrankt. Von dieser Krankheit sprach, am vierzehnten September, der Kaiser zu Hohenlohe; aber auch »von Bismarcks bisheriger feindlicher Thätigkeit«. Triumphirend fügt Onkel Chlodwig hinzu: »Von einer versöhnlichen Stimmung fand ich keine Spur.« Wilhelm ging nach Ungarn und schickte aus Güns eine Depesche, die seine Freude über die Genesung des Fürsten in herzliche Worte faßte und ihm ein süd- oder mitteldeutsches Schloß als Rekonvaleszentenheim anbot. Bismarck dankte ehrerbietig; sein Arzt wünsche aber, ihn in vertrauten Verhältnissen der völligen Gesundung entgegenzuführen. In der Vossischen Zeitung stand: »Wenn Fürst Bismarck fortan den Kampf, wie bisher, gegen den Grafen Caprivi, gegen die Regirung, gegen die Politik des Neuen Kurses führen sollte, dann wäre er durch die Depesche von Güns ins Unrecht gesetzt.« In der »Zukunft«: »Wenn Fürst Bismarck, weil er durch kaiserliche Huld ausgezeichnet worden ist, auch nur um Haaresbreite seine politische Haltung änderte, dann würde er dem Wahn Recht geben, daß nicht große sachliche Bedenken ihn in die Opposition gedrängt haben, sondern kleine persönliche Verstimmungen, die ein Gnadenbeweis rasch beseitigen kann.« Natürlich blieb Alles, wie es vorher gewesen war. Nach dem Ordensfest kann, im Januar 1894, Chlodwig aber notiren: »Das Ereigniß des Tages, das auch abends bei Holstein mit Pourtalès und Marschall besprochen wurde, war das Erscheinen Herberts. Ich sah ihn in der Kapelle, wo er sich sehr unbefangen bewegte. Im Kasino wird dem Kaiser vorgeworfen, er habe Herbert sagen lassen, er wolle ihn sprechen, und habe ihn dann geschnitten. Die Wahrheit ist, daß Eulenburg durch Kanitz und Blumenthal Herbert in die Nähe des Kaisers hat bringen lassen. Man hatte gehofft, eine Annäherung herbeizuführen und damit Caprivis Stellung zu erschüttern. Das ist nun mißlungen.« Welche Absicht der Oberhofmarschall in seines Busens Tiefe barg, weiß ich nicht. Wohl aber, daß Herbert glauben mußte, der Kaiser wünsche, ihn beim Ordensfest zu sehen. Einer Ansprache wurde er nicht gewürdigt. Wenige Schritte vor seinem Standort drehte Wilhelm, nachdem er mit dem Abgeordneten Alexander Meyer gesprochen hatte, sich um und schritt rückwärts. (Hofleute erzählten, er habe gesagt: »Da wende ich mich doch lieber direkt an den Alten!« Und noch in der selben Stunde den Brief geschrieben, den der Flügeladjutant Graf Kuno Moltke dann in den Sachsenwald trug.)

Wer Chlodwig, den zuverlässigen Historiker und redlichen Freund, richtig einschätzen will, muß ihn jetzt stöhnen hören. Am zweiundzwanzigsten Januar: »Der Kaiser war heute bei Marschall und schimpfte über Herbert. Trotzdem hat er gleichzeitig einen Adjutanten mit Wein nach Friedrichsruh geschickt und dem Fürsten seine Freude aussprechen lassen über seine Genesung. Bismarck hat in einem verbindlichen Schreiben geantwortet und gesagt, er werde nach dem Geburtstag hierher kommen, um dem Kaiser persönlich zu danken.« Dreister kann man, was vor Aller Augen geschehen ist, kaum noch entstellen. Der Kaiser, der seit fünfundzwanzig Jahren die preußische Uniform trug, hatte, in freundlich drängenden Ausdrücken, zu diesem militärischen Fest auch den Generalobersten Fürsten Bismarck geladen; zweimal im Verlauf zweier Tage. Der Fürst, der dem hohen Herrn nicht einen Theil des Jubels ablenken wollte, hatte um die Erlaubniß gebeten, Glückwunsch und Dank am Tag vor der Feier abstatten zu dürfen. Chlodwig aber spricht keck von einer »Annäherung« Bismarcks. »Meine Freunde im Auswärtigen Amt sind etwas beunruhigt, weil sie fürchten, daß Bismarck dem Kaiser rathen könne, einen anderen Reichskanzler zu wählen, und Holstein meinte sogar, ich sollte dem Kaiser rathen, mich zuzuziehen, wenn er Bismarck empfinge.« So unklug war Herr von Holstein selbst in einer Schreckensstunde gewiß nicht. »Jedenfalls ist Vorsicht nöthig. Käme ein bismärckisches Regime, so würde ich natürlich nicht mehr lange in Straßburg bleiben, sondern müßte einem Freunde Bismarcks Platz machen.« Der erste, der letzte Gedanke des selbstlosen Patrioten. Inde illae irae. Und aus Angst und Wuth entbindet sich das Geständniß: Einen Freund Bismarcks darf ich mich nicht nennen. »Die Konservativen und Caprivi-Gegner triumphiren heute. Ich glaube aber immer noch, daß die Sache nicht so schlimm verlaufen wird, wie sie aussieht. Jedenfalls ist es gut, daß ich jetzt hier bin.« Sehr gut. Drei Tage danach: »Die Sache hat ihre Gefahren. Caprivi gesteht zu, daß er von der Absicht des Kaisers nicht informirt war. Er erträgt Das mit Resignation. Ich möchte unter solchen Umständen nicht Reichskanzler sein. (Warte nur: balde!) Doch ist es gut, daß er diese Resignation besitzt und wir ihn behalten, wenn nicht Bismarck bei seinem Besuch Mittel und Wege findet, ihn beim Kaiser zu verdächtigen.« (Der edle Reichsfürst glaubt offenbar, jede Durchlaucht müsse ihm an Takt und Anstandsgefühl gleichen; sonst könnte er dem Gast des Kaisers nicht so plumpe Niedertracht zutrauen.) »Gott gebe, daß dieser Sturm an Caprivi vorübergehe!« Von der Russischen Botschaft aus sieht er Bismarck ins Schloß fahren. »Von einem großen Enthusiasmus war nichts zu spüren.« Wirklich? Vielleicht nicht hinter Schuwalows Doppelfenstern. Trotzdem man zwischen der Reiterhecke in der Galakutsche nur einen weißen Handschuh, einen gelben Streifen, das Funkein eines Stahlhelmes sah, gings wie ein Rausch durch die Massen. Nie erlebte ich mehr Enthusiasmus. Gehörssache. »Es ist sicher, daß diese Aussöhnung dem Kaiser viele Popularität in ganz Deutschland erworben hat.« Und doch meinte der gute Onkel, sie sei gefährlich, meinte, sie sehe schlimm aus? Weil er an Straßburg und Werki, Werki und Straßburg dachte und zu anderer Erwägung erst später Zeit fand.

(Neun Monate danach war der Brave Kanzler des Deutsehen Reiches. Kein Wörtchen des Bedauerns darüber, daß dieser Sturm nicht an Caprivi vorübergegangen sei. An Bismarck, den sein heißes, ungestilltes Prestigebedürfniß braucht, ein huldigender Brief; plötzlich der Wunsch, »mich von dem Befinden Eurer Durchlaucht und der Frau Fürstin durch einen persönlichen Besuch zu überzeugen.« Im Januar der Besuch; der Wirth wünscht ihm beim Abschied »Tapferkeit«; und das Männlein fühlt den Hohn gar nicht. Als er schon arg wackelt, eine Kommersrede. »Der Größte jener Helden steht noch unter uns wie eine der Eichen des Sachsenwaldes. Unentwegt treue Verehrung dem Manne, der sein Leben eingesetzt hat …« Wer speit da? Und Bismarck, der oft schlauster Tücken Geziehene, war zu nobel, um diesem hymnischen Lied zu mißtrauen. Dankte für die »wohlwollende und ritterliche Kundgebung«. Dankte dem Mann, der in sein Tagebuch geschrieben hatte, der Kanzler habe ihm »die Anerkennung der Welt oder des Kaisers« niemals gegönnt und sich bemüht, ihm die Statthalterstellung zu verderben, weil »die Familie Bismarck Neid darüber empfunden hat, daß ich diese erbliche Stelle erhalten sollte, während Bismarck nicht erblicher Herzog von Lauenburg geworden ist«. Zwar hat Bismarck ihn mit Mühe als Statthalter durchgesetzt. Aber Maxime Ducamp erzählt, die Statthalterschaft solle erblich werden. »Das giebt mir zu denken. Deshalb hat Bismarck mir Prügel zwischen die Füße geworfen«. Nehmt Alles in Allem: Er war ein Mann.)

Am Tag nach Bismarcks Besuch sagt der Kaiser zu Chlodwig: »Jetzt können sie ihm Ehrenpforten in Wien und München bauen; ich bin ihm immer eine Pferdelänge voraus. Wenn jetzt die Presse wieder schimpft, setzt sie sich und Bismarck ins Unrecht.« Eine Woche danach war in der »Zukunft« zu lesen: »Mit ganz anderer Ruhe, ganz anderer Offenheit und mit unvergleichlich größerem Nachdruck kann Bismarck jetzt seine Stimme erheben, wenn es ihm wieder nöthig scheint, vor falschen, gefährlichen Wegen zu warnen; denn auch der Kurzsichtige muß nun erkennen, daß ein persönlich nach jeder Richtung reichlich saturirter Mann Erfahrung und Einsicht dem Reich und dem Kaiser nutzbar zu machen versucht.« Und noch im selben Monat (»Otto der Zahme«): »Für einen Mann, der in seiner politischen Haltung von persönlichen Momenten, von Gnade oder Ungnade des Monarchen, sich bestimmen läßt, werden nur Lohndiener noch eintreten; die Anderen werden dem großen Diplomaten, den sie als kleinen Menschen erkannt haben, in erkühlter Bewunderung den Rücken kehren. Wer so gesprochen hat wie Bismarck während der letzten zwei Jahre, Der muß von unserer Lage eine tief pessimistische Auffassung haben und würde sich selbst vor dem Urtheil der Geschichte verkleinern, wenn er durch äußerliche Erscheinungen sich aus seiner Bahn drängen ließe.« Er hats nicht gethan; ist avant et après la bouteille der Selbe geblieben. Und der Kaiser? Das letzte Wort, das Chlodwig aus seinem Mund über Bismarck hört, klingt noch genau so hart, so heftig wie das nach der Entlassung im bittersten Märzgroll gesprochene.

Daß es so kommen werde, hatte Bismarck nie bezweifelt. Nicht eine Minute im Ernst an eine »Versöhnung« gedacht. Er mußte viel gelitten, sehr viel überwunden haben, ehe er sprechen konnte, wie er seit dem glorreichen Sommer des Uriasbriefes sprach. Die Ueberwindung war endgiltig, der Riß aus der Wurzel des Gemüthes unheilbar. Der Einladung ist er sehr ungern gefolgt; und hat doch keinen Augenblick vor der Entscheidung gezaudert. Le bouchon est tiré, il faut boire, hörte ich ihn zu Herbert sagen, den die Reise schreckte; dabei wies er mit freudlosem Lächeln auf die Steinbergerflasche. »Weiche ich wieder aus, wie nach der günser Artigkeit, dann bin ich der alte Sünder, der die hingestreckte Hand seines gnädigen Herrn nicht ergreift, und Alles, was offiziös ist oder sein möchte, empfängt die Parole: Der Kaiser hat seinen Rath verlangt und der rachsüchtige Greis ist nicht gekommen! Dann denken meine Landsleute, ich hätte helfen können; und ich werde von morgen an für die Firma mithaftbar gemacht Ich bin fest überzeugt, daß mein Rath nicht verlangt, nach meiner Meinung nicht gefragt und kein Wort über die Geschäfte gesprochen wird. Um auch Andere davon zu überzeugen, muß ich hin. Politesse n'est pas politique.« In dem eskortirten Prunkwagen kam er sich »wie ein wichtiger Staatsgefangener« vor. Bat, da er hörte, welche Hoffnung das Volk an den Besuch knüpfe, noch im Schloß den Grafen Henckel, »draußen abwiegeln zu lassen«. Und sagte lächelnd nach der Heimkehr, er habe nie so viele Ballgeschichten erzählt wie in den berliner Stunden, in die aus der Welt politischen Getriebes, wie er erwartet und gehofft habe, kein Sterbenswörtchen gedrungen sei. Er wußte, warum er bemüht worden war; und hätte nie pedantisch, wie Caprivi, dem Kaiser vorgeworfen, seine privaten Aeußerungen stünden oft in Wiederspruch zu seinen »offiziellen Kundgebungen«. Solches kann der Wahrer der Staatsraison an Sturmtagen nicht immer vermeiden. Die Frau citirte schmunzelnd aus dem Brief einer Freundin den Ausdruck der Freude darüber, daß »Ottochen« noch einmal im Triumph durchs Brandenburger Thor eingeholt worden sei. Der Mann, dem sie bald danach wegstarb, hat sich noch ein paar Jahre lang leise gehärmt. Die Behauptung, er habe je wieder hoffen, hellen Auges in die nahe Zukunft des Reiches blicken gelernt, ohne Konvenienzzwang die neue Regirungmode gelobt, ist wohlmeinender Trug. Den wollte er nicht. Weder an Feiertagen sich lebend als Nationalgötzen umtanzen lassen noch gar eine schöne Leiche werden. »Nur den Leuten nicht Sand in die Augen streuen«: war seine stete Warnung. Jedem, ders hören mochte, sagte er, daß er zwar stiller (»Das Alter setzt mir mehr zu als alle meine Feinde«), doch der Sorge nicht ledig geworden sei. Er sicherte sich die letzte Ruhe; geräuschloses, prunklos privates Begräbniß. Und starb unversöhnt.

 

Sein Schatten ist zu versöhnen. Nicht durch Harnisch und Goldpalasch; durch alle Ehrenqualitäten unseres kreisenden Balles niemals. Wann wird das Bismarckdrama historisch, weitet sichs aus täglich mit neuem Weh empfundener Wirklichkeit zum germanischen Mythos? Wenn der Irrthum, der es zu jäher Katastrophe trieb, getilgt ist. Wenn der alternde Kaiser der Deutschen, wie einst den treusten Mann, nun den trügerischsten Glauben verbannt; den: er könne allein regiren. Kein Gekrönter kanns heute noch. Jeder muß, auch einer von brillanter Naturanlage, glücklich sein, wenn er sich, ohne säumig der Pflicht zu fehlen, von der Verantwortlichkeit für die Riesenmaschine entbürden kann. Bismarck wollte unter Friedrich Wilhelm dem Vierten nicht Minister sein. »Mir war die Schwierigkeit klar, welche ein verantwortlicher Minister dieses Herrn zu überwinden hatte bei dessen selbstherrlichen Anwandlungen mit oft jähem Wechsel der Ansichten, bei der Unregelmäßigkeit in Geschäften und bei der Zugänglichkeit für unberufene Hintertreppeneinflüsse von politischen Intriganten, wie sie von den Adepten unserer Kurfürsten bis auf neuere Zeiten in dem regirenden Hause Zutritt gefunden haben, – pharmacopolae, balatrones, hoc genus omne. Die Schwierigkeit, gleichzeitig gehorsamer und verantwortlicher Minister zu sein, war damals größer als unter Wilhelm dem Ersten.« Wollen wir lügen? Feig leugnen, daß sie in den ersten Regirungjahrzehnten Wilhelms des Zweiten nicht geringer war und nur, wenn sie endlich ganz schwindet, das Reich zu gedeihen vermag? Allein zu regiren, hat oft schon ein junger Herr versucht; keinem gab in unseren Tagen Fortuna den Preis. Wallenstein spottet über die blutigen Treffen, die um nichts gefochten wurden, »weil einen Sieg der junge Feldherr braucht«. Wie viele sah unser sehnender, unser enttäuschter Blick! Nicht auf rothem Schlachtgefild. Wurden sie uns drum minder verhängnisvoll? Als der Friedländer das Kommando übernahm, stellte er die Bedingung: »Daß mir zum Nachtheil kein Menschenkind, auch selbst der Kaiser nicht, bei der Armee zu sagen haben sollte; wenn für den Ausgang ich mit meiner Ehre und meinem Kopf soll haften, muß ich Herr darüber sein.« Was hier der Feldherr heischt, muß auch der Staatsmann als sein Recht fordern. Wer sich ohne solche Zusicherung ins Führeramt drängt, ist, mit der glattesten Zunge und der Grimasse des überlegenen Weltmannes, ein armer Wicht. Gieb uns, Kaiser, den Mann, der auch vor Dir, vor dem Glanz der Gottesgnade, der Kleinodien den Nacken nicht beugt; und laß ihn regiren, den Mann! Dann löst sich der Schatten in Morgenluft. Dann darfst Du, darf das Reich, dessen Heil Du wollen mußt, in frommer Zuversicht auf Gottes Gnade rechnen. Doch schon ists spät geworden. Und Deutschland wird ungeduldig.


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