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XVII

Der Selbstmörder sah verstört aus, als hätte er eine Zeitlang kein Dach über dem Kopfe gehabt, trug neue Kleider, aber unordentlich, verknüllt und voll von Kiefernadeln. Aber seine Wunde an der Hand war jedenfalls endlich zugeheilt.

Wo kommen Sie her? fragte das Fräulein.

Wo ich herkomme? Ja, was soll ich sagen! antwortet der Selbstmörder und sieht sich um. Kann uns jemand hier hören?

Nein, niemand.

Ich komme von Hause. Ich reiste ja hin, um etwas zu ordnen, ich hatte eine Auseinandersetzung. Entschuldigen Sie, wenn ich Sie quäle! sagt er plötzlich.

Sie quälen mich nicht. Was fehlt Ihnen, fürchten Sie sich vor etwas?

Ja.

Wollen Sie eintreten?

Ja, ich danke Ihnen.

Marta stellte ihnen ihre Kammer zur Verfügung, und sie setzten sich dort; das schien ihn ruhiger zu machen, aber er hielt Ausguck durchs Fenster. Anfangs war keine Ordnung in seinem Gerede. Ich habe irgendwo im Walde gelegen heute nacht, sagte er und lachte verlegen. Kurz darauf erklärte er dem Fräulein eindringlich, daß die Doktoren, »wir Ärzte«, nie etwas anderes als Humbug seien, das habe er jetzt wieder erfahren. Ach, es ist ja wahr, Fräulein d'Espard, Sie haben ja so viel durchgemacht in der letzten Zeit, ich las darüber in der Zeitung. Wieviel ist nun unsere eigene Schuld und wieviel die anderer? Wir haben jeder das unsere zu schleppen, und wir fehlen alle und sind Menschen.

Sie fürchtete vielleicht, daß er mit einer seiner gewöhnlichen langen Auseinandersetzungen beginne, und fragte: Sie sind wieder einen Monat fort gewesen, ist es nicht so?

Einen Monat, zwei Monate, ich weiß nicht. Ich sollte ja das neue Mittel versuchen, aber glauben Sie, ich sei der Mann gewesen, es anzuwenden! Verschob es von einem Tag auf den andern, konnte mich nicht entschließen und brachte es nicht fertig. Also ist das Mittel ja nicht schuld daran, werden Sie sagen? Und Sie haben gewissermaßen recht. Aber was soll ich mit einem Mittel, wenn ich es nicht anwenden kann?

Was war das für ein Mittel?

Der Rohrstock. Sagte ich es nicht?

Der Rohrstock –?

Erzählte ich Ihnen nicht einmal vom Rohrstock? Ich erinnere mich an nichts mehr, mein Gedächtnis ist so schlecht geworden. Ja, der Doktor lobte dieses neue Medikament, es sei auf jeden Fall wirkungsvoll, es kuriere. Wenn man aber nicht der Mann dazu ist, es anzuwenden? Es sind zwei Monate, sagen Sie? Zwei Monate also herumzulaufen und es nicht zustande zu bringen, und schließlich unverrichteter Sache wieder abzureisen! Es war etwas anderes mit dem Schmied. Erzählte ich Ihnen vom Schmied?

Nein.

Es war auch nichts, nur Doktorengeschwätz. Was bewegte sich dort unten? Haben Sie es gesehen?

Das Fräulein warf einen Blick durchs Fenster: Das war wohl nichts. Aber mir fällt ein, Herr Magnus, haben Sie etwas zu essen bekommen, haben Sie gegessen?

Gegessen? Nein.

Sie wußte, wie schwierig er mit dem Essen war, ging aber trotzdem zu Marta hinaus und bat sie, ein wenig landesübliche Kost zu bereiten, von dem, was sie zur Hand hatte. Als sie wieder eintrat, knurrte der Selbstmörder wie ein Hund und starrte zum Fenster hinaus. Es bewegt sich ein Busch dort am Waldrand, sagte er.

Das Fräulein: Das ist wohl der Wind. Wovor fürchten Sie sich?

Er antwortete nicht.

Natürlich war dieser Mann ein wenig verstört im Kopfe, aber es war Fräulein d'Espard nicht gleichgültig, daß es ihm schlecht ging; sie konnte nicht vergessen, daß er einmal mit einem andern Manne zusammen sie und ein gewisses Geldpaket auf die hübscheste Art gerettet hatte; auch später hatte der unglückliche Selbstmörder sie manches Mal gestützt, wenn sie schwere Stunden hatte.

Wenn Sie mir sagen wollten, wovor Sie sich fürchten – ich weiß nicht, aber vielleicht wüßten Marta und ich Rat.

Es läßt sich nicht sagen, ich sollte mich verstecken und nicht im Tageslicht sitzen. Nein. Sie würden auch finden, daß es nichts ist, aber gesetzt, sie wäre hinter Ihnen her?

Wer?

Ich hörte es am Bahnhof. Ich kam gestern zum Bahnhof, und der Stationsvorsteher fragte, wie ich heiße, und sagte, es sei jemand mit der Bahn gekommen und habe sich nach mir erkundigt, sie habe auch ins Sanatorium telephoniert. Sie sei ein paar Tage vor mir gekommen, sei noch da und passe mir auf.

Wollen Sie sie nicht sehen? fragte das Fräulein leise.

Ob ich will? Doch! ruft der Selbstmörder. Aber wissen Sie, was Sie da fragen: ob ich ebenso leben will wie früher, ob ich wirklich so erniedrigt bin, ob ich keine Scham im Leibe habe. Ja, darum geht es. Aber ob ich sie sehen will? Ja, Fräulein d'Espard, auf diesen Augenblick habe ich hier seit fünfzehn Monaten Tag und Nacht gewartet. Ja. Aber sehen Sie, jetzt bin ich schwach geworden, ich habe mich zuschanden gewartet und wage nichts mehr, sie hat zu lange gezögert.

Schweigen.

Das Fräulein: Vielleicht wäre es doch am besten, wenn Sie sie sprächen.

Ist das nicht hübsch, fährt der Selbstmörder fort, kann man sich etwas ausdenken, was unsauberer und frecher wäre: nach fünfzehn Monaten Schweigen ohne ein Wort, ohne eine Weihnachtskarte! Und dann persönlich zu kommen, bei hellichtem Tag, in der Sonne, mit der Bahn angefahren zu kommen! Es fiel ihr wohl leichter zu kommen als zu schreiben. Sie blockiert das Sanatorium, in meinem eigenen Zimmer bin ich nicht sicher.

Ich weiß nicht, Herr Magnus, aber ich glaube, Sie müßten mit ihr reden.

Nie! rief er. Ach so, das glauben Sie? Nie! Jetzt hab' ich es gesagt!

Der unglückliche Selbstmörder! Endlich hatte er erreicht, was er wollte, und nun wich er zurück. Konnte man sich eine größere Tücke denken: gejagt von dem, was er gerade ersehnte, verfolgt davon und floh nun davor! Warum machte er nicht allem ein Ende und fuhr nach Australien? Er war wohl wieder nicht der Mann dazu, er flog wie eine Motte ums Licht. Da hatte er nun dieses eine, das ihn beschäftigte, das einzige, aus dem er alles Leid herauszupressen wußte, er sah das Leben durch diesen Spalt, mehr sah er nicht, aber das war vielleicht auch nicht so wenig. Durch einen Spalt gesehen, wird ein Ding stark, klar und eindringlich.

Marta kommt mit dem Essen herein. Der Selbstmörder nimmt einen entsetzten Ausdruck an und scheint die Zeit zum Essen nicht erübrigen zu können. Ich mache Ihnen allzuviel Mühe! sagt er unglücklich.

Das Fräulein: Was war das für ein Busch? Ich werde aufpassen, während Sie essen!

Er wies auf den Busch, der sich bewegt hatte. Aber im übrigen müsse man nicht nur den Busch im Auge behalten, sagte er, sondern den ganzen Wald, den ganzen Waldrand, dort geht ein Viehsteig! Worauf er sich gleich ans Essen machte. Er aß schnell und herzhaft mehrere warme Eier, aß Brot, Waffeln und Butter und trank viel Milch. Es war sicher seine erste Mahlzeit seit langem.

Das Fräulein hielt Ausschau am Fenster. Jawohl, jetzt sieht sie gut, was sich bewegt, es stimmt, sie sieht, wie die Dame langsam zu den Häusern heraufkommt, sie kommt furchtsam, sich leicht wiegend, mit Federn auf dem Hute und in einem weiten Staubmantel, der ganz zugeknöpft ist. Es ist geradezu spannend.

Danke! sagt der Selbstmörder und erhebt sich. Es war die beste Mahlzeit, die ich in den Bergen bekommen habe. Denken Sie, Waffeln!

Das Fräulein: Setzen Sie sich nun wieder hin, wo Sie saßen, und stecken Sie sich Ihre Pfeife an!

Ich habe keine Pfeife, ich habe nichts zu rauchen. Wie geht es Ihnen eigentlich, Fräulein d'Espard? Guten Mutes?

Ja, antwortet sie, guten Mutes. Nein, ich kann nicht anders sagen.

Sie haben sicher das bessere Teil erwählt, als Sie das Sanatorium verließen.

Ich weiß nicht! Und um etwas zu sagen und die Zeit hinzuziehen, fuhr sie fort: Sie bauen mächtig im Sanatorium.

Ja, aber wir sterben dort!

Das Fräulein nickt: Es sind viele Todesfälle gewesen, das ist richtig.

Einer nach dem andern, ich hab' die Zahl nicht im Kopfe. Ach ja, der Tod macht reinen Tisch mit uns, wir taugen nicht zum Leben, wir sind zu klein für die Stiefel, in denen wir gehen, und da stolpern wir in ihnen.

Marta öffnet plötzlich die Tür und ruft das Fräulein hinaus, in ihrer Abwesenheit nimmt der Selbstmörder ihren Platz am Fenster ein. Er ist jetzt ruhiger, das Essen hat ihm gut getan, sein Gedächtnis ist jetzt besser, und er denkt daran, einen Geldschein für Marta auf das Brett zu legen. Dann sucht er wieder den ganzen Wald mit scharfen Augen ab.

Fräulein d'Espard tritt ein und sagt: Ja, jetzt ist sie hier!

Der Selbstmörder weiß mit einem Male, wer es ist, und schreit: Was –!

Hier draußen. Marta hat mit ihr gesprochen. Sie ist wohl von der Seite, den Weg vom Sanatorium gekommen.

Der Selbstmörder schluckt und sagt: Gut, lassen Sie sie hereinkommen! Lassen Sie sie nur hereinkommen, ich werde, weiß Gott –!

Eine Dame in weitem Mantel und mit einer großen Straußenfeder auf dem Hute. Sie ist dunkelblond und jung, geradezu hübsch nach dem Gehen, mit einem offenen Gesicht, nur ein paar Schneidezähne stehen schief, der eine etwas vor dem andern. In der Tür bleibt sie stehen und sagt nichts, aber ihr Mund bewegt sich.

Es hing eine kleine Uhr mit Gewicht und Messingkette an der Wand. Der Selbstmörder ergreift plötzlich die Kette und zieht das Gewicht mit einem langen raspelnden Geräusch hoch – jawohl, mitten am Tage und in einem fremden Haus. Dann drehte er sich halb um und sah sie. Bist du's? sagte er, wandte sich aber wieder zur Uhr, als sei er noch nicht ganz fertig mit ihr. Er sagte: Ich sehe, die Uhr geht falsch! Worauf er sie verließ und ans Fenster trat, sich das Kinn streichend, als ob er einen Bart hätte. Geht es gut daheim? fragte er; dann fuhr er ungeheuer ratlos und nervös fort: Warum nimmst du nicht den Mantel ab und setzt dich, da steht ja ein Schemel?

Mich friert, antwortete sie und setzte sich, wie sie war.

Er: Lebt sie, die Kleine, meine ich, ob sie lebt, frage ich?

Ja, sie lebt, sie ist gesund und redet schon tüchtig. Ja, sie lebt.

Redet – das ist unwahrscheinlich.

Doch, redet – plaudert.

Wie heißt sie?

Leonora. Sie heißt nach dir.

Unsinn! Du hättest dir wohl etwas anderes ausdenken können, sagt er mit rotem Kopf.

Sie schweigt.

Du hättest dir wohl etwas anderes ausdenken können, sage ich.

Ja, antwortet sie nur. Oh, sie ist so demütig, aber sie wickelt ihn doch um ihren Finger.

Er schwatzt noch mehr in seiner großen Verlegenheit: Leonora, he, ein Ziegenname! Und da willst du mir einreden, daß sie spricht? Erst muß sie doch mal ordentlich geboren sein.

Sie ist so süß –

Jajajaja, ich hab' anderes im Kopfe, es ist schon gut. Aber Leonora –! Wo wohnst du hier? fragt er plötzlich.

Beim Kaufmann. Ich habe heute nacht dort geschlafen.

Du hast wohl auch zwei Nächte dort geschlafen?

Ja, vielleicht sind es zwei Nächte. Ich – doch, jetzt erinnere ich mich, zwei Nächte.

Warum wohnst du nicht im Sanatorium?

Sie, fast unhörbar: Ja – danke!

Das war doch ein merkwürdiger Einfall, bei dem Krämer zu bleiben, in einem solchen Loch. Da mußtest du wohl mit dem Mädchen zusammen liegen?

Nein, auf einem Sofa. Es wurde auf einem Sofa für mich aufgebettet.

So etwas Verrücktes habe ich noch nie gehört! Ja, du bist alle Tage um deine Gesundheit besorgt gewesen! sagte er und meinte wohl, anzüglich zu sein. Du hast vielleicht auch nichts gegessen?

Heute nicht. Aber das ist einerlei.

Ja, äfft er, das ist einerlei! Na ja! Hast du denn gestern abend gegessen, wenn ich fragen darf?

Ja.

So! Aber das ist jedenfalls schon an achtzehn Stunden her. Ja, die Uhr dort geht vor, aber fast einen ganzen Tag ohne Essen zu bleiben – ja, das ist Vernunft! Steh gleich auf, dann können wir machen, daß wir ins Sanatorium kommen und etwas für dich bekommen. Es ist jetzt Mittag.

Sie gehen beide zur Kammer hinaus, und der Selbstmörder macht sich barsch und männlich, ist aber in Wirklichkeit sehr verlegen. Zu Marta sagt er: Meine Frau fürchtet sich vor dem Ochsen, ist er draußen?

Ja, antwortet Marta, aber er ist jetzt auf dem Berge, weit fort.

Fräulein d'Espard ist nicht anwesend?

Sie ist in der neuen Stube.

Grüßen Sie sie!

Sie gehen zum Sanatorium hinüber, sie reden nicht viel unterwegs, aber dies und jenes wird doch gesagt, wird gefragt und beantwortet. Sie sagt furchtsam: Warst du vor einer Woche in Kristiania?

Woher weißt du das?

Jemand glaubte dich gesehen zu haben, das Mädchen.

Ich war da und kaufte mir diesen Anzug, wenn du es wissen willst.

Ja.

Ja, was denn? fragt er heftig.

Nein, nichts.

Du bist natürlich ausgegangen und hast nach mir gesucht, als du hörtest, daß ich in der Stadt sei?

Ja, das habe ich.

Hahaha! lacht der Selbstmörder.

Ja, Leonhard, das habe ich. Zwei Tage lang. Und auch in den Hotels gefragt.

Ach, hör' auf mit dem Unsinn! Was wollte ich noch sagen –? Er stellte sich, als dächte er nach, aber er hatte sicher nichts vergessen, hatte nur seine Heftigkeit fortschwätzen wollen.

Sie kamen ins Sanatorium, kein Mensch ist zu sehen, der Selbstmörder weiß Bescheid und denkt, daß die wenigen Gäste, die jetzt hier wohnen, beim Mittagessen sitzen.

Er klingelt im Korridor und bittet das Mädchen um ein Zimmer für seine Frau.

Im selben Augenblick kommt der Rechtsanwalt aus dem Speisesaal, er schlägt die Hände zusammen und grüßt: Ich hörte, daß es klingelte, da mußte ich heraus und sehen, wer es sei. Willkommen, Herr Magnus! Sie sind lange fortgewesen. Die Frau Gemahlin, wenn ich nicht irre? Willkommen, gnädige Frau! Setzen Sie 106 für Frau Magnus instand, sagt er zum Mädchen. Und er wendet sich an den Selbstmörder und erklärt: Es ist im Stock unter Ihnen, aber Sie ziehen auch hinunter nach 105, ein Doppelzimmer. Ich weiß nicht, ob die Herrschaften schon Mittag gegessen haben?

Der Selbstmörder: Nein. Und meine Frau ist sehr hungrig.

Lieber Freund, kommen Sie gleich herein, wir haben uns eben hingesetzt. Oh, Sie sind hübsch, so wie Sie sind, gnädige Frau, wir haben augenblicklich nicht viele Gäste, aber es kommt bald eine ganze Menge. Wollen Sie nicht Mantel und Hut ablegen? Nicht?

Nein, meine Frau friert, sagt der Selbstmörder.

Ja, es beginnt frische Herbstluft hier in den Bergen zu werden, die reine Medizin; aber wir müssen uns ja danach kleiden. Hier bitte!

Der Rechtsanwalt wies das Paar hinein. Seine Miene war glücklich, er kam mit Gästen, es waren nur zwei, aber sie vermehrten doch die kleine Gesellschaft, die am Tische saß.

 

Nach dem Essen ließ der Selbstmörder den Handkoffer seiner Frau vom Kaufmann holen. Der Rechtsanwalt war wieder dabei und sagte: Ich habe das Mädchen gebeten, Ihnen den Kaffee in das Zimmer Ihrer Frau Gemahlin zu stellen. Das habe ich doch wohl recht gemacht?

Der Selbstmörder antwortete nicht. Nein, er hätte es wohl am liebsten vermieden, mit ihr zusammengebracht zu werden, vielleicht meinte er, es selbst schon mehr als genug getan zu haben. Als der Rechtsanwalt fragte, ob man seine Sachen gleich auf Nummer 105 bringen solle, antwortete er kurz: Nein.

Der Rechtsanwalt sah ihn an.

Ich bleibe oben, sagte der Selbstmörder. Meine Frau muß ja nach Hause, sie reist gleich wieder ab.

Der Rechtsanwalt: Das ist mir unleugbar eine Enttäuschung. Oh, aber gnädige Frau, dann soll es uns doppelt am Herzen liegen, Ihnen die kurze Zeit Ihres Aufenthalts gemütlich zu machen. Ich muß selbst leider wieder nach meinem Bureau in der Stadt, aber ich werde Bescheid sagen.

Im Zimmer der gnädigen Frau war alles herabgerollt. Der Selbstmörder ging mit Sturmschritten zum Fenster und ließ die Gardine hochsausen. Die glauben gewiß, du könntest hier keine Sonne vertragen, polterte er. Wie war das übrigens, du sagtest, dich friert? Bist du krank?

Nein, mich friert nur ein wenig, es ist nichts.

Ja, man sollte nicht in Seidenstrümpfen und ausgeschnittenen Schuhen in die Berge kommen.

Er goß seinen Kaffee hinunter und sagte: Du hast zwei Nächte auf dem Sofa gelegen, da brauchst du sicher einen Mittagsschlaf. Wenn ich nachdenke, so müssen es ja drei Nächte sein, nicht zwei?

Ich weiß nicht mehr, es sind vielleicht drei.

Er schüttelte vollkommen hoffnungslos den Kopf und sagte zum Abschied: Ja, zieh dich aus und leg dich nun hin!

Sie hustete hinter ihm her, so daß er sich umdrehen mußte. Nein, es wäre nichts, sagte sie, aber sei mir nicht böse, vergib mir zum letztenmal!

Immer derselbe Unsinn! antwortete er und schnaufte. Vergib und vergib!

Er ist jetzt fortgereist, sagte sie.

Fortgereist? Er wußte gut, wen sie meinte, und antwortete höhnisch: Das ist ja traurig! Denk mal, er ist fortgereist!

Nein, es ist nicht traurig, ich habe ihn fortgejagt.

Hahaha! lachte der Selbstmörder.

Ja, ich habe ihn fortgejagt, das ist schon viele Monate her. Ich hätte es dir längst erzählt, aber – Aber du gönntest mir die Neuigkeit nicht?

Ich fürchtete mich.

Ja, war wirklich so viel Scham und Ehre in dir, daß du dich fürchtetest?

Ja, ja, ich fürchtete mich. Ich habe hundert Briefe an dich geschrieben und nicht abgeschickt –

O Gott, wie ist das unwahr! ruft er aus. Ich schickte dir eine Karte zu Weihnachten, und du antwortetest nicht einmal darauf!

Nein, das ist wahr, das ist wahr! Aber damals war ich noch ganz verstört und noch nicht zum Nachdenken gekommen, es sind ja acht Monate seit Weihnachten. Aber jetzt ist es auch schon mehrere Monate her, seit ich ihn fortjagte.

Wo hast du ihn hingejagt?

Hin? Ich weiß nicht, er ist abgereist, ich habe ihn seitdem nicht gesehen, es war im Sommer, er ist vielleicht in Amerika. Ich wünschte, er wäre tot.

Hahaha! lachte der Selbstmörder wieder.

Mausetot, oh, tief unter der Erde!

Warum eigentlich? Der geliebte Junge, der Jugendliebste, und was sonst noch alles!

Wir wollten uns ja heiraten, sagte sie. Ja, so war es abgemacht. Ich wollte dich bitten, dich von mir scheiden zu lassen, und dann wollten wir heiraten. Das hatten wir abgemacht –

Ja, ich will nichts mehr hören! unterbrach der Selbstmörder sie plötzlich.

Er hat mich angeführt –

Ich will nichts mehr hören, sage ich!

Nein! antwortete sie da und hielt gehorsam inne. Und nun erlaubst du vielleicht, daß ich gehe? fragte er. Merkwürdig, er war nicht mehr aufgeregt, nicht verbissen, die Neuigkeit, daß eine gewisse Person abgereist und fort war, hatte keine unangenehme Wirkung auf ihn. Er wandte sich sogar in der Tür um und sagte: Ich rate dir, dich eine Weile hinzulegen. Du solltest nicht so eigensinnig sein.

Sie war nicht eigensinnig; als er hinausging, begann sie augenblicklich das Bett zurechtzumachen.

Der Selbstmörder hatte jetzt etwas zu denken und suchte sein Zimmer auf. Hier war alles unverändert, nur etwas staubiger, in seiner Abwesenheit war nicht reingemacht worden, man hielt ihn für einen Sonderling, der keine Wäsche ausstehen konnte, und so respektierten die Mädchen seine Vorliebe für Schmutz. Er bückte hinaus; eine der Dependancen wurde auf das Doppelte erweitert und außerdem ein neues Stockwerk aufgesetzt, die Bautischler sägten, klopften und nagelten mit furchtbarem Lärm. Weit fort bei den Seen ertönten Schüsse, wenn die Minen gesprengt wurden. Alles das ging ihn übrigens nichts an.

Dieses Zimmer war fünfzehn Monate lang sein Heim gewesen, er konnte es ihr zeigen, sie konnte heraufkommen und sehen, wie gemütlich er es gehabt. Er hatte noch nicht gehört, daß er ihr leid getan hätte, weil ihm so bös mitgespielt war, nicht ein Wort. Was wollte sie im Grunde hier? Um Verzeihung bitten, wieder ein letztes Mal! Der Selbstmörder schnaufte, als sei er dieser Sentimentalität jetzt wirklich müde, er tat – auch vor sich selber –, als habe er genug davon, aber er wäre sicher sehr unzufrieden gewesen, wenn sie nicht um Verzeihung gebeten hätte. War es seinen Ohren etwa eine Qual, ihr Bitten zu hören? Ja, so schien es, jawohl durchaus! Und jetzt war er überhaupt müde, die Geschichte zu erörtern, er war obendrein schläfrig, hatte auch nicht allzu gut geschlafen in der Nacht, die er im Walde gelegen –

Er erwachte merkwürdigerweise weder von den Sprengschüssen noch von dem Lärm der Bauarbeiter sondern von einem weit geringeren Geräusch, er hörte, wie ein Fuhrwerk auf den Hof kam und jemand ein Pferd anhielt.

Er trat ans Fenster und öffnete es. Tief unten sieht er, wer kommt; es ist Fräulein Ellingsen, die vom Wagen steigt. Was will sie wieder hier? Es geht ihn nichts an, aber auch das Fräulein hat wohl eine Absicht mit der Reise. Alle kommen sie und gehen, alle eilen hierhin und dorthin, haben etwas zu erledigen und achten auf ihr Wohl und Wehe. Und was soll das alles!

Ihn friert und er schüttelt sich, es ist schon spät; in tief niedergeschlagener Stimmung geht er die Treppe hinunter und bleibt vor dem Zimmer seiner Frau stehen. Ob sie noch schläft? Er hört Weinen drinnen und geht brüsk hinein.

Er tut verwundert: Was in aller Welt –?

Entschuldige, sagte sie, ich werde gleich –

Was wirst du gleich? Bleib ruhig liegen, wenn du willst, du kannst Essen hereinbekommen. Hast du nicht geschlafen?

Doch – ach nein, ich weiß nicht! Es war, als suche sie nach der Antwort, die ihm am besten gefiele. Doch, entschied sie, ich habe gewiß geschlafen, anfangs, eine lange Weile. Es tat gut zu schlafen. Und du?

Ich! faucht er.

Ja, Leonhard, du brauchst es, du bist so gequält worden, ich weiß es wohl –

Wir reden nicht von mir!

So. Nein, nein. Aber du bist grau geworden; als ich so lag, hab' ich darüber nachgedacht –

Der Selbstmörder donnert: Wir reden nicht von mir, hörst du!

Ja.

War es ihm so zuwider, beklagt zu werden, weshalb wurde er denn jetzt gerührt und verlor seine Festigkeit? Es durchfuhr ihn doch wohl eine törichte Süße. Wie erklären, daß sie ihm nicht früher ihr Mitleid gezeigt hatte? Seht, sie hatte es wohl nicht gewagt, Gott weiß. Er entschuldigte sie bei sich: war es Vergeßlichkeit von ihr, so war sie verzeihlich. Andererseits konnte er wohl kein Waschlappen sein und lächeln und ja und amen sagen. Keine Rede davon.

Durch ihre nächsten Worte sollte sie ihn sehr verwundern: Ich weiß, warum du nicht ins Nebenzimmer ziehen willst.

Weißt du das – wie –?

Ja, weil du eben nicht willst. Es wundert mich nicht, ich habe verloren.

Er merkt nichts: Du hast verloren? Du meinst wohl, du bist verloren?

Du hast meine Veränderung gesehen, sagt sie.

Da schnitt wohl eine Art Licht in sein Hirn, und er tat, was sie nicht tat: er wurde rot und schlug die Augen nieder.

Keiner von ihnen sprach mehr.

Er taumelte ans Fenster und sah hinaus. Nun, der Rechtsanwalt will wohl abreisen, murmelt er, und seine Stimme zittert. Hm. Ich sehe, er will mit Fräulein Ellingsens Fuhrwerk wieder zurückfahren – Fräulein Ellingsen ist eben gekommen. Ja, er ist lange hier gewesen diesmal. Der Doktor steht auch unten. Hm. Ich hätte im Grunde mit dem Doktor sprechen sollen, es ist wieder ein Brief von Moß gekommen, von Anton Moß, und der Doktor liest sie. Was ich sagen wollte –?

Lange Stille.

Dann wandte er sich um und kam wieder ins Zimmer. Was willst du hiernach also von mir? fragte er ganz ruhig. Weshalb bist du hergekommen?

Nein –! antwortete sie nur und schüttelte den Kopf. Ich habe nicht – das heißt, du mußt wohl etwas meinen?

Ach nein. Ja, du wirst dich ja jetzt scheiden lassen, das ist selbstverständlich.

Ja, das können wir ja. Da fährt der Rechtsanwalt, wie ich sehe. Ja, das können wir wohl. Du kannst darüber nachdenken. Was für einen Tag haben wir heute?

Sie runzelten beide die Stirn und dachten nach, schließlich sagte er: Nun ja, es ist einerlei.

Ja, es mochte wohl wirklich einerlei sein, er brauchte es nicht zu wissen, es fuhr ihm nur so aus dem Munde. Es war nicht gut, in seiner Haut zu stecken.

Es war vielleicht auch nicht gut, in ihrer Haut zu stecken.

Er schlenderte den bekannten Weg zum »Fels« hinan. Hier war der Wacholder, hier die weiße Steinplatte, und hier der Spalt, alles wie früher. Er war eigentlich nicht zerbrochen, nichts war ihm im Grunde unerwartet gekommen, nur daß es jetzt gekommen war. Und jetzt nach der Katastrophe fand sie es an der Zeit, sich scheiden zu lassen. Jawohl, aber was mit dem Kinde, mit der kleinen Leonora? Sie redet schon, sie ist so süß, natürlich hat sie längst gehen gelernt, sie kann sogar springen, hat Schuhchen an den Füßen, Kleidchen – Ha, das ist etwas Wunderbares, Mama und Papa sagt sie wohl. Hm, genug davon! So, deshalb sind wir gekommen, deshalb brauchen wir einen Staubmantel und kommen, wir haben uns so verändert. Das ist alles nicht weiter fein, und, ach, was sollen wir anfangen, wo sollen wir unser Gesicht verbergen! Und die kleine Leonora sagt nicht Papa, Unsinn, wie sollte sie das gelernt haben? Wir wollen uns nicht zum Narren machen. Das ist alles nicht gerade sehr fein. Eingeräumt! Indessen – indessen –

Da kommt sie, sie ist es, kommt hübsch, ein wenig sich wiegend und hübsch, großer Hut, kleine Schuhe, Handschuhe – paß auf beim Spalt, der ist nicht für Damen – bravo, sie wird leicht mit dem Spalt fertig, setzt herüber, prächtiger Mensch! Wie sollte er sie empfangen! Hier oben auf dem »Fels« sitzend und hoch oben vom Kamm auf sie hinuntersehend? Dummheit, wir stehen auf und warten, bis sie hier ist, dann mag der Zufall entscheiden. Bei näherem Nachdenken zeigt sich, daß die Sache nicht ganz so schlimm ist: sie hatte ihn nicht vorher an sich gelockt, hatte im Gegenteil mit der größten Nachlässigkeit zuviel Zeit verstreichen lassen, ehe sie kam – sieh, das machte es unleugbar gleich weniger schändlich, weniger unredlich. Und was die Sache selbst, die Liebelei, betraf, so war es nicht so merkwürdig, daß sie nachgegeben hatte, wenn ihr die Ehe versprochen war. Wir wollen nur ruhig alle Umstände ins Auge fassen –

Er rief ihr zu: Wozu kommst du in deinen dünnen Schuhen hier herauf?

Ich komme mit einer Botschaft, antwortete sie, um ihn gleich zu entwaffnen. Ich traf den Doktor, er bat mich, dir zu sagen, daß ein Brief für dich gekommen sei.

Das benutzte sie als Vorwand; er wußte ja von dem Brief. Er ist von Moß, sagte er, das eilt nicht.

Pflegst du deine Spaziergänge hierher zu machen? fragte sie.

Ja, hierhin gehe ich.

Es ist merkwürdig zu sehen, wo du zu sein pflegst, sagte sie und sah sich mit Interesse um. Sitzt du dann auf dem Stein dort?

Ja, hier sitze ich.

Hier sitzt du und blickst ins Weite, ja. Ach ja.

Er: Du hast also nicht geschlafen?

Doch. Aber es wurde so einsam. Und dann gab es soviel Gerede und Geschwätz im Nebenzimmer.

Auf 107? Das ist Bertelsen. Er pflegt das Zimmer zu haben. Einer, der Bertelsen heißt.

Ich dachte, sagte sie, ob ich heimreisen und mit Leonora zu dir zurückkommen sollte –?

Hierher?

Nein, vielleicht nicht, nein, nein. Aber du willst wohl nicht hinkommen und sie sehen, das willst du nicht. Aber du bist so lange allein gewesen, ich wußte nicht, ob sie dir nicht ein wenig Gesellschaft sein könnte.

Das können wir immer noch überlegen. Willst du dich nicht hinsetzen und ausruhen?

Ja – danke!

Lauter Demut. Was seine Wirkung auf ihn ausübte. Seine Festigkeit wurde weich, wurde biegsam, er fragte: Was meintest du, du wolltest also mit dem Kinde herkommen und hierbleiben?

Nein, ich nicht! Nein, Gott, das hätte ich nie verlangt!

Aber ich könnte sie doch nicht allein hier haben? Ja, ich dachte nicht an mich, nichts dergleichen. Nein.

Hier kann man auch nicht sein, sagte er in seiner alten Unzufriedenheit mit dem Orte. Hier herrscht konstante Fleischnot, wir leben von Forellen und Konserven, das Kind würde an schlechter Ernährung sterben.

Ich weiß nicht, was wir tun sollen. Du mußt es selbst sagen.

Ich habe gesagt, daß wir es überlegen müssen, antwortete er und erhob sich. Es ist windig, es wird zu kühl für dich, laß uns zurückgehen.

Mich friert nicht, ich habe diesen dichten Mantel.

Steh auf! Wir haben Gebirgswind hier, das verstehst du nicht.

Sie erhob sich lange, bevor er ausgesprochen hatte, und war auch weiterhin lauter Gehorsam. Dann stiegen sie hinab. Bei dem Spalt reichte er ihr die Hand, um ihr herüberzuhelfen, und wenn es einen Zweck haben sollte, mußte er ihr eigentlich beide Hände reichen, um sie aufzufangen. Das war wohl mehr, als sie gedacht hatte, sie sank nieder. Als sie drüben war, wurde sie schwach in den Knien und sank zusammen. Ja, ruh' dich ein bißchen aus! sagte er.

Nein, das ist es nicht. Ich bin verzweifelt. Du bist freundlich und gut – wäre ich noch gewesen, wie ich früher war, wäre ich hierhergekommen, wie ich früher war, aber ich bin so häßlich und verändert. Und dazu hab' ich all dies Unrechte getan –

Er: Unsinn! Es wird dunkel, machen wir, daß wir hinunterkommen!

 

Sie bekamen das Abendessen aufs Zimmer. Es war immer noch Gesellschaft und Gelächter auf 107.

Sie fragte: Soll ich morgen früh abreisen?

Fragst du mich danach!

Ja, du mußt es sagen.

Nein, antwortete er kurz.

Wann geht der Morgenzug?

Ungeheuer früh, du müßtest um vier Uhr aufstehen.

Ich finde, das hat keinen Sinn.

Nein, nein – danke!

Sie sprachen noch eine Weile zusammen, sie waren beide ruhig geworden, und er ließ verstehen, daß eine Dame nicht gut allein mit der Bahn fahren könne, das sei so eine Sache. Nicht, daß er ihr anbot, sie wieder nach Hause zu begleiten, aber es schien auch keine Unmöglichkeit für ihn zu sein. Als er Gute Nacht sagte, äußerte er ein wenig abgebrochen, indem er die Wand betrachtete: Jaja, wir sehen uns morgen.

Sie ergriff seine Hand, dankte ihm heftig. Sie zitterte, und als er fragte, ob sie fröre, antwortete sie: Ja.

Das ist dein Ausflug auf den »Fels«. Leg dich gleich nieder, du kannst Schlaf brauchen.

Sie begann sofort, aufzuknöpfen, und ehe er noch zur Tür heraus war, hatte sie schon den Mantel abgelegt. Er war ein wenig verwundert und blieb einen Augenblick stehen.

Ich will tun, wie du sagst, beeilte sie sich zu erklären, ihr war kalt, sie klapperte mit den Zähnen und knöpfte weiter auf, immer weiter –

Dort blieb er stehen. Es wunderte ihn, daß sie nicht dick war, sie war wie früher, warum trug sie da den Mantel?

Das ist recht, zieh dich schnell aus und leg dich nieder, dann wirst du warm, sagte er, um etwas zu sagen.

Und sie war gehorsam und entgegenkommend, arbeitete mit den Kleidern, zerrte sie ab und warf sie in einem Haufen auf einen Stuhl.

Da fragt er im höchsten Erstaunen: Aber – warum hast du denn den ganzen Tag den Mantel getragen?

Den Mantel? Mich friert, antwortete sie. Es ist wohl die Gebirgsluft, wie du sagst. Wäre es dir lieber gewesen, wenn ich ihn abgenommen hätte?

Nein warum, aber –

Nein, sagte sie auch und schüttelte den Kopf, ich bin im ganzen so verändert, ich kann gut mit solchem Frauenmantel gehen. Das ist ganz gleichgültig.

Wieso verändert?

Ach Gott, du sollst es nicht sehen, häßliche Haut und flache Brüste, sie hängen. Plötzlich sieht sie ihn mit großen Augen an und fragt: Was glaubtest du denn?

Ich? Nichts.

Du siehst mich so verwundert an. Sag, was du glaubtest.

Ich kann nicht sehen, daß du verändert bist, sagte er.

Oh, ich verstehe! brach sie aus, du meintest, ich müßte – ja, daß ich etwas mit dem Mantel zu verbergen hätte.

Nun, es war ja aber nicht so.

Nein, nein, nein, was glaubtest du! Aber es ist doch schlimm genug. Ich bin ja schuld, daß du weggingst.

So, leg dich nun hin! kommandierte er, schlug das Deckbett zurück und drückte sie nieder.

Er war kaum damit fertig, als sie sich auch schon mit einem Ruck wieder aufsetzte: Nein, Leonhard, ich war wohl verliebt und leichtsinnig und dumm, das war ich, und ich trank Wein damals, aber ich hab' es seitdem nicht wieder getan. Nein. Und ich bin nicht so schlecht gewesen, wie du glaubst.

Ich sage nur, daß du dich hinlegen sollst, meinte er verlegen und kläglich und drückte sie wieder in die Kissen. Eine starke Freude flimmerte in ihm, er hatte sie wieder, seine eigene Frau gehörte ihm wieder. Zum Dank will er etwas für sie tun und sagt: Ich werde hier sitzen, bis du schläfst.

Ja, willst du das! antwortet sie und dankt ihm; es schien ihr ein reines Geschenk zu sein. Aber dann mußt du mich wecken, wenn ich die Tür abschließen soll.

Er überlegte: Ja, das mußte er wohl. Aber wie dumm war es, sie wieder zu wecken, wenn sie eingeschlafen war, sie brauchte den Schlaf so nötig. Wie, wenn er die Tür von außen verschloß und den Schlüssel mitnahm?

Ja, willigte sie dankbar ein und ergriff seine Hand zur Gute Nacht.

Ich öffne morgen beizeiten, versprach er ...

Als sie eingeschlafen war, schlich er sich unendlich vorsichtig hinaus, verschloß die Tür und nahm den Schlüssel mit. Er befand sich in einem einzigen Entzücken, ging die Treppe hinab, auf die große Veranda und weiter über den Hof. Er lächelte und sagte törichte Worte vor sich hin: es war im Grunde seltsam, daß etwas so Glückliches in dieser Welt sein durfte!

Er merkt jetzt, daß der Abend feucht ist, der Nebel treibt, es ist Herbstgeschmack in der Luft, die Sterne sind spärlich und gleichsam bitter, was bedeutet das? Es kann etwas Bitteres über den Sternen liegen, ihr Ausdruck ist nicht immer süß.

Es war Licht im Sprechzimmer des Doktors, er konnte jetzt gleich hineingucken und hören, was in dem Brief von Moß stand. Nicht, daß es ihn noch beschäftigte; ein Brief von Moß gehörte jetzt zu den untergeordneten Dingen, aber mitten in seiner eigenen gehobenen Stimmung konnte er es seinem alten Kameraden wohl gönnen, wieder einmal höhnisch und boshaft zu sein. Sei es!

Moß hatte selbst geschrieben, mit ordentlichen geraden Zeilen, hübschen Buchstaben, Trennungszeichen, er schien sein volles Augenlicht wiedererhalten zu haben. Er teilte mit, daß er von der Bartflechte ganz geheilt sei und jetzt einen Abstecher nach Hause mache. Es würde ihn freuen, Selbstmörder Magnus in Kristiania ebenso geheilt zu treffen, wie er selber war!

Die Freude soll er haben, sagte der Selbstmörder. Ich werde ihn wirklich besuchen, wenn ich jetzt heimreise.

Der Doktor: Wollen Sie heimreisen?

Ja. Morgen.

Der Doktor machte keine Andeutung auf ihre vorige Unterhaltung, er schonte den Selbstmörder, erwähnte seine Frau nicht, ließ nicht merken, daß er sich an einiges erinnerte. Er sagte: Es ist viel geschehen, seit Sie uns verließen, große Dinge, Mord.

Der Selbstmörder antwortete nicht.

Kannten Sie die Personen im Drama?

Das mit Moß, sagte der Selbstmörder, ist doch ein erfreuliches Erlebnis.

Der Doktor nachdenklich: Ich weiß nicht.

Wissen Sie nicht?

Ich finde, Sie sollten ihn nicht besuchen in Kristiania.

Warum nicht?

Er ist nämlich sicher nicht da, antwortete der Doktor.

Der Selbstmörder verwirrt: Uff – jetzt hätte alles gut sein können! Sie lassen mich wieder zweifeln. Warum soll immer etwas Schlechtes dabei sein!

Jetzt war es der Doktor, der schwieg.

Warum antworten Sie nicht! fragte der Selbstmörder.

Der Doktor lächelnd: Weil ich es natürlich nicht weiß. Glauben Sie nicht, Herr Magnus, daß gut und schlecht relative Begriffe sind?

Nein, rief der Selbstmörder, es sind absolute Begriffe, greifbare Dinge.

Schön, mag es so sein. Die Augen Ihres Freundes Moß sind wieder gut geworden, und das ist schon viel.

So war es doch nicht Bartflechte?

Das war es wohl nicht.

Der Selbstmörder erhob sich: Mir wird ganz unheimlich zumute, Doktor, und jetzt will ich gehen. Das heißt, gerade heute abend will ich nicht mehr daran denken.

Es wurde nicht mehr gesprochen, wurde keine lebhafte Unterhaltung, wurde kein Selters mit Kognak geboten. Gute Nacht! sagte der Selbstmörder.

Er schlenderte nach der großen Veranda zurück. Es war auffallend, wie schwer und unheimlich die Luft geworden war; Kälte schlug vom »Fels« herab, der Nebel dampfte, übrigens wurde er wohl bald vertrieben, denn es begann zu wehen. Er sieht im Leuteanbau ein Licht, einen Mann, der mit einer brennenden Laterne geht. Es ist ein kleiner runder Schein im Nebel, die Laterne vermag fast nichts zu beleuchten außer sich selber. Es sieht ganz unnatürlich aus.

Er geht hinüber und sieht, daß es der Briefträger ist.

Suchen Sie etwas?

Der Briefträger: Sagen Sie es nicht weiter!

Was haben Sie verloren?

Ich habe einen Fünfkronenschein verloren. Ich war vorhin auf einen Sprung draußen und muß ihn verloren haben. Aber es fängt an, windig zu werden, und da wird er fortgeweht. Es waren fünf Kronen!

Gehen Sie nicht ohne Mütze bei dem schlechten Wetter und suchen Sie nach einer solchen Lappalie.

Hier haben Sie einen Fünfkronenschein.

Das ist nicht möglich – ?

Doch, es ist möglich, Sie haben mir viele Briefe und Karten gebracht, und morgen reise ich nun heim.

Er macht einen armen Teufel froh und entfernt sich in gehobener Stimmung. Merkwürdig, diese Kälte und Unheimlichkeit, huh, aber die sollte ihn heute abend nicht überwältigen. Um den »Fels« beginnt es zu sausen, das ist der Wind, es wird kalt, aber klar, der Nebel zieht in Fetzen in den Wald hinunter. Es sollte nicht unheimlich sein, er wollte es nicht; er knöpft trotzig die Jacke auf, steht, die Hände in den Hosentaschen, da und betrachtet den segelnden Nebel. Das ist amüsant und köstlich, die Bergebene wird gesäubert, die Gebäude des Sanatoriums sind wieder sichtbar. Was mag das alles nur bedeuten? Sturm? Vielleicht Sturm.

Im Schloß ist alles ausgelöscht, nur auf 107 ist noch Licht, und da muß etwas so Dummes geschehen, daß Bertelsen sein Fenster öffnet und ihm zuruft, daß er heraufkommen soll: Bitte, ein Gläschen mit uns!

Der Selbstmörder antwortet nicht. Das ist ja hübsch, wie dieser angetrunkene Mensch dasteht und die andern Gäste wachbrüllt! Wenn sie nun aufgeweckt ist und nicht wieder einschläft?

Als er hineingeht, huscht er an die Türe seiner Frau, steht lange da und lauscht. Nein, Gott sei Dank, alles ist still, oh, sie war wohl todmüde. Gute «Nacht! flüstert er und steigt die Treppe zu seinem Zimmer hinauf. Er ist selbst müde.

Das war das Ende eines bedeutungsvollen Tages. Und alles hätte gut gehen können, aber der Tod trat dazwischen.


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