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XI

Die Menschen krochen und krochen, einige hierhin, andere dorthin. Zuweilen krochen sie miteinander, zuweilen begegneten sie sich und keiner wollte ausweichen. Zuweilen aber kroch einer über die Leiche des andern. Konnte es anders sein? Waren sie nicht Menschen?

Rechtsanwalt Rupprecht wollte keines Menschen Untergang. Wenn man nun auch sagen mußte, daß er durch einen Zufall über Holzhändler Bertelsen gesiegt hatte, so wollte er doch nicht über ihn triumphieren, im Gegenteil, er wollte darüber hinweggehen, daß der andere verloren hatte. Her mit den Aktien – jawohl. Aber es freute ihn nicht, daß er es einem Gaste so geben mußte, er rieb sich nicht die Hände und lachte.

Kleinhändler Ruud kam und fragte, wie es mit den Aktien stände?

Der Rechtsanwalt wußte nichts weiter, als was Ruud selbst im Rauchzimmer gehört hatte.

Der Kleinhändler fand es verdächtig, daß Bertelsen gezögert hatte, die Aktien herzuschaffen. Sie waren vielleicht nicht herauszubekommen.

Wieso?

Sie könnten deponiert sein. Der junge Bertelsen könnte sie festgelegt und Geld auf sie geliehen haben.

Der Rechtsanwalt wollte hoffen, daß es sich nicht so mit der Firma Bertelsen & Sohn verhalte.

So war der Rechtsanwalt: gutmütig und glatt, ein Geist, der alles ausglich. Er sah am liebsten, daß die Gäste im Logierhause einig waren und daß nicht einer über die Leiche des andern kroch.

Es war Ruud auch nicht darum zu tun, in den Besitz der Aktien zu kommen. Ruud war keiner von den Schlimmsten, kein Verbrecher, kein Teufel, oh, weit entfernt. Wenn er ging, hielt er die Augen auf den Boden geheftet, und fand er eine Stecknadel auf dem Teppich, so legte er sie dem, dem sie gehörte, in auffälliger Weise auf den Tisch. Er war ein Mann mit grauem, hübsch gestutztem Vollbart, trug einen Freimaurerring am Finger und war wohlhabend genug, um ehrlich zu sein. Was sollte er mit den Aktien? Eine Sache für sich war es, daß sein irdisches Glück ihn instand setzte, sich bei Gelegenheit ein wenig auf die Brieftasche zu klopfen, den Übermut des jungen Bertelsen zu dämpfen, der ihn nicht kennen wollte und nicht grüßte, obgleich er so respektabel war. Dagegen wünschte er dem Vater alles Gute, dem alten Bertelsen, der einmal zu Ruud gekommen war, um ein bißchen Gnade gebeten und sie erhalten hatte.

So war Kleinhändler Ruud.

Aber Rechtsanwalt Rupprecht war doch allen überlegen, sein Wohlwollen gewann jeden. Er arrangierte eine kleine Zusammenkunft mit Trink- und Eßbarem im Salon und lud alle, die vorbeikamen, zum Sitzen ein. Es sei Weihnachten, sagte er, und kein Grund, schlechter Laune zu sein. Er veranlaßte die Musiklehrerin, den »Torahus-Marsch« zu spielen, und hinterher hielt er eine Rede für den abwesenden Komponisten: Er sei einmal an das Sanatorium geknüpft gewesen, spielte wie ein Gott, sei aber von Sehnsucht nach der Fremde geplagt worden – was der Rechtsanwalt die ganze Zeit respektiert habe, ohne jedoch leider die Macht gehabt zu haben, Abhilfe zu schaffen. Da kam der Mann, der sowohl die Fähigkeit wie den guten Willen hatte, und damit war der junge Künstler gerettet, über Land und Meer, weit fort in die Welt getragen. Dieser großen Guttat wegen wollte der Rechtsanwalt sein Glas für Herrn Bertelsen erheben!

Alle erhoben sich und tranken ihm zu.

Was für eine Absicht hatte Rechtsanwalt Rupprecht nun mit diesem Einfall? Nichts, nichts Böses, er wollte es einen Augenblick gemütlich für Bertelsen, festlich für Bertelsen machen. Es war Weihnachten, und Bertelsen war Gast hier, außerdem war er geduckt worden.

Am selben Tage hatte der Rechtsanwalt auch Gelegenheit, sich um Fräulein d'Espard zu kümmern: Schade, daß Sie uns verlassen wollen, gnädiges Fräulein. Sie sind einer der ältesten Gäste, und wir hängen alle sehr an Ihnen.

Das Fräulein lächelte.

Aber es muß wohl sein; Sie reisen, es ist entschieden?

Ja.

Sonst würde ich Ihnen etwas vorgeschlagen haben: Sie erwähnten, daß es Ihnen hier auf die Dauer zu teuer würde, aber da könnte das Sanatorium schon Rat schaffen, wenn Sie wünschen.

Danke, aber ich muß wohl – es ist, wie Sie sagen, entschieden –

Jawohl, sagt der Rechtsanwalt lächelnd, die Jugend will ausfliegen. Aber Sie sind jederzeit wieder willkommen hier im Nest!

Er ging herum und sprach mit allen Gästen, machte Runden, guckte in Pferde- und Kuhstall, redete mit den Leuten. Auch hier war der Rechtsanwalt freundlich und umgänglich. Da kam jedoch Inspektor Svendsen und hatte etwas geradezu Komisches auf dem Herzen: wie sollte man es sonst nennen, wenn er um den Titel eines – »Direktors« bat?

Direktor? fragte der Rechtsanwalt. Und er sah Inspektor Svendsen einen Augenblick an, erinnerte sich aber gleich, daß Weihnachten, und daß der Kopf des alten Seemanns vielleicht ein wenig in Unordnung geraten war.

Ja, sagte Svendsen, man kommt her und fragt, ob ich der Direktor sei. Nein, antworte ich. Ja, wo ist denn der Direktor? fragt man. Und dann stehe ich da.

Jaja, sagte der Rechtsanwalt und dachte nach. Aber was wollen die Leute denn eigentlich mit einem Direktor?

Ja, das weiß ich nicht. Aber der Schweizer ist nun mal richtig Direktor im Kuhstall, und der Briefträger hat eine Goldschnur um die Mütze.

Ja, da haben Sie recht. Aber ich weiß nicht – nein, ich glaube, es geht nicht, daß Sie Direktor sind, Svendsen. Ich glaube nicht. Aber Sie wissen ja, daß Sie, der Sie Englisch können und in der Welt herumgekommen sind, hier im Sanatorium der nächste nach dem Doktor sind.

Es war nur eine Anfrage, sagt Svendsen kurz und schickt sich zum Gehen an. Er ist vielleicht doch ein bißchen beleidigt.

Da der Rechtsanwalt ihn aber nicht verletzen wollte, sagte er schließlich: Sehen Sie, Svendsen, Sie sind ja Inspektor fürs Ganze hier, und einen solchen Mann brauchen die Gäste. Wo sollten wir einen tüchtigen Inspektor hernehmen, wenn Sie Direktor würden? Haben Sie daran gedacht?

So war der Rechtsanwalt.

Er einigte sich mit Frau Ruben. Ja, es wurde so gemacht, daß sie sich interviewen ließ und ihre Auslagen für Mylady zurückerhielt. Und das Interview war wirklich so fein und richtig geschrieben, ohne Übertreibung, nur ein paar Worte über das Wasser auf Torahus, das wunderbare Abmagerungsmittel; es wurde nichts behauptet, nur ein paar stille Worte, die im Gespräch mit einem Journalisten, mit der Presse gefallen waren. Alles in Ordnung: Frau Ruben war zufrieden, Herr Bertelsen war zufrieden, der Rechtsanwalt zeigte keine Unzufriedenheit. Oh, seine Liebenswürdigkeit als Chef und Wirt war eine Gabe Gottes. Selbst als der Selbstmörder zurückkam, schalt der Rechtsanwalt ihn nicht aus wegen des Unbehagens, das er durch sein Verschwinden im Sanatorium verbreitet hatte, nein, der Rechtsanwalt war freundlich, kniff lächelnd die Augen zu und bat ihn, hineinzugehen und sich gleich etwas zu essen geben zu lassen: Wie lange sind Sie unterwegs? Seit heute morgen? Und nun ganz vom Bahnhof zu Fuß zurück? Ich werde Ihnen augenblicklich warmes Essen machen lassen!

Jawohl, der Selbstmörder tauchte wieder auf. Er war vor einigen Tagen völlig verschwunden, aber jetzt am letzten Tage des Jahres kam er wieder, um ein neues Jahr morgen in den Bergen zu beginnen. Er war schweigsam und mutlos, er versteckte sich, kehrte den Leuten den Rücken, um nicht zu grüßen, es war, als schäme er sich über etwas. So ungemütlich war er lange nicht gewesen, er erinnerte an die erste Zeit im Sanatorium, als er am schlimmsten brütete und auf Selbstmord sann. Als wollte er sich etwas aufrichten und sich in einer einigermaßen würdigen Verfassung zeigen, ging er gleich in sein Zimmer und rasierte sich. Eine rötliche Aster, die aussah, als hätte sie sich in einer Tasche befunden, steckte er ins Knopfloch, wo sie nun weiter mit dem Tode rang. Dann ging er hinunter und bekam zu essen. Er entschuldigte sich bei dem Mädchen, weil er außerhalb der Zeit kam.

Die Mahlzeit dauerte nicht lange, und er hätte noch weniger Zeit dazu gebraucht, wäre nicht der Doktor gekommen und hätte sich ihm gegenüber gesetzt. Auch der Doktor schalt nicht, das lag ihm nicht, im Gegenteil: er war unterhaltend. Er erzählte, daß man jetzt elektrisches Licht im Sanatorium bekommen sollte.

So, sagte der Selbstmörder.

Ein Lichtmeer, nein, eine Feuersbrunst. Wenn man auf dem »Fels« säße, sollte man die Post bei dem Schein lesen können.

Ja, sagte der Selbstmörder.

Ach, Herr Magnus, das interessiert Sie sicher mehr, als Sie sich jetzt den Anschein geben wollen!

Es interessiert mich gar nicht.

Heute abend können wir das neue Jahr auch mit einem »Torahus-Marsch« begrüßen, fuhr der Doktor fort und zählte weiter auf.

Schweigen.

Wissen Sie, daß wir zum Sommer bauen müssen? Ist das nicht eine Leistung, daß diese neue Stätte schon ihre Grenzen sprengt, daß wir erweitern müssen? Wir müssen nicht nur unsere unfertigen Räume einrichten, wir müssen bauen. Es hat sich im Herbst gezeigt, daß wir nicht Platz genug haben.

Schweigen.

Haben Sie bemerkt, daß wir Flaggen bekommen haben?

Ja.

Überhaupt, wir machen uns; wir müssen das führende Sanatorium werden. Wir müssen den Weg zum Bahnhof zu einer Automobilstraße ausbauen. Große Matadore sollen zu uns heraufkommen, Herrschaften mit eigenen Pferden und Dienerschaft, reiche Leute, die eine ganze Flucht von Zimmern vorausbestellen.

Sie richten sich darauf ein, lange zu leben, finde ich, sagte der Selbstmörder düster.

Der Doktor mochte auf eine solche eindringliche Äußerung nicht vorbereitet sein, er wiederholte: Lange zu leben? Ja, sagte er, was sollte ich sonst tun? Aber im übrigen – ob wir nun lange oder kurz leben, so müssen wir doch im Leben tun, was wir können.

Wer hat das gesagt?

Das sage ich mir selber. Es ist nicht nur so hingeworfen. Wenn wir sterben, so kommen andere Menschen nach uns.

Die auch sterben müssen, ja.

Richtig, die auch sterben müssen. Es ist einmal nicht anders.

Aber welchen Zweck hat dann das Ganze?

Das Ganze ist die Ordnung, das Leben, das ist nun einmal so.

Nein, das Ganze ist der Tod, sagte der Selbstmörder.

Auch hierauf ging der Doktor ein, um den vom Schicksal Heimgesuchten nicht zu reizen, aber er lächelte und sagte ja und amen, als wüßte er es im Grunde viel besser.

Wie soll das enden? fuhr der Selbstmörder fort. Wann soll es enden? Warum hört diese ewige Vernichtung nicht einmal auf? Es wird ja nicht besser. Was für einen Sinn hat es da? Tollheit ohne Ende?

Er war fertig mit dem Essen und wollte gehen, aber der Doktor hielt ihn zurück. Der folgende Wortwechsel hätte kürzer werden können, wenn der Doktor nicht hin und wieder geantwortet hätte. Ihr Ausflug ist Ihnen nicht gut bekommen, sagte er.

Was wissen Sie davon?

Ich ziehe meine Schlüsse als Arzt.

Arzt! äffte der Selbstmörder. Wie steht es mit der Verdauung hier im Hospital?

Es geht Ihnen lange nicht so gut wie vor Ihrer Abreise. Sie hätten viel lieber hier bei uns bleiben sollen.

Ist der Absatz des Gesundheitssalzes gut?

Nein, sagte der Doktor, Sie müssen jetzt wirklich wie wir anderen sein, Herr Magnus, gesund wie wir, froh wie wir. Die schlechte Laune hat gar keinen Zweck. Trinken Sie ein Gläschen und schwingen Sie sich wieder auf! Sie waren wirklich in der letzten Zeit so forsch geworden, was hat Sie zu dem Ausflug veranlaßt?

Das Leben, sagte der Selbstmörder. Das, was Sie Leben nennen.

Das Leben! wiederholte der Doktor. Machen Sie das Leben nicht schlechter als es ist. Das Leben ist reich, ist großartig, wir sollten uns am Leben freuen und jeden Tag an seiner Plage genug sein lassen.

Und so weiter. Das habe ich schon ein paarmal früher gehört. Haben Sie je haltgemacht und einen Augenblick nachgedacht? Sie können Schrecken und Untergang bei andern im Gesicht, in den Augen gesehen haben, aber haben Sie sie je selbst in der Brust gehabt? Haben Sie mitten in einem See gestanden und gerufen?

Dazu habe ich nicht einmal Zeit gehabt, ich arbeite, ich mühe mich nach meinen Kräften –

Ja, wir mühen uns, jeder nach seinen Kräften, Sie nach den Ihren, ich nach den meinen; Gott, wie wir uns mühen! Aber das führt uns alle spät oder früh zum sichern Tode. Der einzige, der nicht daran denkt, ist der fröhliche Tor. Er hält sich für überlegen, wenn er es vergißt.

Aber wohin führt es, wenn wir daran denken?

Zum Tode.

Und wenn wir es vergessen?

Zum Tode.

Nun also –?

Dann hat einer also eine törichte Freude mehr – die ein anderer ihm nicht neidet.

Der Doktor dachte nach und sagte: Er hat die Freude, das Leben auszuhalten. Das ist nicht so töricht.

Der Selbstmörder überhörte ihn: Die Ordnung, sagten Sie vorhin. Wann, sagten Sie, regte die »Ordnung« uns an und ermutigte uns? Wenn wir versuchten, das Gute zu tun? Nein, dann wäre dieselbe »Ordnung« bestenfalls genau wie sonst: blind, unversöhnlich und unzugänglich.

Ja, aber Herrgott –! beginnt der Doktor, hält jedoch inne.

Arzt, sagten Sie. Sie bauen, Sie erweitern das Krankenhaus, warum? Hierher kommen wir aus Osten und Westen, manche kommen von weither, wir sind nichts als Kniefall und Gebet, wir suchen alle Heilung, aber keinem wird geholfen, der Tod holt uns ein.

Jetzt konnte der Doktor sich nicht enthalten zu lächeln und auf seine leichte Art zu sagen: Das war ja fast wie eine Bibelstelle – Osten und Westen –

Und augenblicklich kehrte der Selbstmörder die Kratzbürste heraus und wurde wieder sehr geradezu: Haben Sie viele neue Plakate ausgehängt, während ich fort war, Herr Doktor? Man bittet, nach 10 Uhr abends vorsichtig auf den Fußboden zu trampeln, um die bettlägerigen Opfer des Lebens nicht zu stören! Man bittet, vorsichtig mit dem Feuer umzugehen und Lampen und Lichter auszulöschen, um die Halbtoten nicht zu verbrennen!

Hahaha! lachte der Doktor ein wenig gezwungen. Aber jetzt sollen Sie hören, was besagter Arzt zu tun gedenkt: er will um Mitternacht aufs Eis und ein Paar neue Schlittschuhe probieren. Das will der Arzt tun. Er meint, daß er das neue Jahr auf keine frischere und frohere Art einweihen kann. Sie sollten mitkommen! Wir bekommen wohl etwas Mondschein.

Im Gang hängt ein Plakat, daß ich um 10 Uhr im Bett liegen soll.

In der Neujahrsnacht dispensiert der Arzt Sie ...

 

Der Selbstmörder ging in sein Zimmer, legte sich nieder und schlief oder tat, als schlafe er, bis die Abendglocke zur Festtafel läutete. Dann kleidete er sich in aller Eile an und ging hinunter.

Das Haus war voll, alle Menschen im besten Staat. Der Selbstmörder hatte seine Aster im Knopfloch, die jetzt recht mitgenommen aussah.

Bei Tisch hielt der Doktor wieder eine Rede. Der Unermüdliche dankte allen Anwesenden für die im alten Jahre erwiesene Güte und wünschte jedem einzelnen ein noch besseres neues! Man hätte nichts anderes sagen können, es waren die rechten Worte, und kein Besserer hätte sie sagen können als Doktor Öyen. Er hatte Glück. Da er sich natürlich ein bißchen zeigen und amüsant sein mußte, meinte er schließlich unter der Heiterkeit der Gäste, daß der Direktor selbst, Rechtsanwalt Rupprecht, zweifellos eine bessere Rede hätte halten können, man brauche ja nur seine Hände anzusehen, um zu wissen, was für glatte und gedeihliche Worte er über sie ausgeschüttet haben würde. Aber hieran scheiterte der Doktor. Er dachte mehr an die Gäste als an die Eitelkeit des Direktors. Jetzt käme Musik, unter anderm der »Torahus-Marsch«, und schließlich Verteilung der Neujahrspost, die sich aufgehäuft habe, sagte er.

Man versammelte sich im Salon zu Kaffee und Kuchen, die Klavierlehrerin spielte, und den Neujahrspsalm sangen alle mit. Dann brachte man die Post herein.

Oh, es war keine sehr große Post, aber deshalb war sie nicht minder willkommen. Es waren herzliche kleine Botschaften von der Außenwelt, ein Päckchen Ansichtskarten und Briefe, die die Wirtschafterin aufgespart hatte und jetzt austeilte. Der Doktor erhielt ein paar Karten, Kleinhändler Ruud einen Brief, Frau Ruben fünf Karten, Fräulein d'Espard nichts. Herr Magnus! rief die Wirtschafterin. Das erregte Aufmerksamkeit. Der Selbstmörder trat vor. Eine Karte. Er sah sie sich sofort neugierig an, untersuchte hierauf den Rand, ob es nicht zwei wären, ging mit gerunzelter Stirn in eine Ecke und setzte sich. Die übrigen Karten waren an die Dienerschaft, für jedes der Mädchen mehrere, einige waren verspätete Weihnachtsgrüße, Cards aus Amerika. Und dann stand die Wirtschafterin mit leeren Händen da.

Man unterhielt sich eine Zeitlang, dann wurde wieder ein bißchen gespielt, worauf der fremde Ingenieur aus dem Gedächtnis Gedichte deklamierte. Er machte es gut, man bat ihn um mehr, immer mehr, und er deklamierte, bis er ausgeleert war und zu Kartenkunststücken übergehen mußte. Man wunderte sich, daß er nicht Schauspieler geworden war, und er antwortete, das wäre auch seine Absicht gewesen, aber – Schweigen. Nun ja, ein tüchtiger Ingenieur ist ja auch etwas! ging Rechtsanwalt Rupprecht darüber hinweg.

Schließlich suchte jeder sein Zimmer auf.

Es mochte etwa zehn Uhr sein, bürgerliche Bettzeit. Fräulein d'Espard ging mit dem Selbstmörder aus. Das taten wir auch am Weihnachtsabend, sagte sie und redete ein bißchen, damit er nicht so niedergeschlagen wäre.

Es mußte ungefähr Halbmond sein, aber die Luft war unklar, und es war ziemlich dunkel. Sie kamen nur bis zur ersten Bank und blieben sitzen. Sie mochte ein bißchen neugierig sein und wollte über seinen Ausflug hören, wo er gewesen und wie es zugegangen war, aber er sprach von anderen Dingen, von der Erweiterung des Sanatoriums, von Schuldirektor Oliver, den er immer noch verachtete, und von Fräulein d'Espard selber. Er schien großes Interesse an ihr zu nehmen, wenn er sie auch nicht ausfragte; sie war eine Leidensgefährtin, etwas war wohl mit ihr los, auch mit ihr. Als sie von selbst erzählte, daß sie in Daniels Sennhütte ziehen wollte, nickte er und bezeigte seine Zufriedenheit damit. Das sei nicht das Schlimmste! meinte er.

Nein, denn hier im Sanatorium wird es mir auf die Dauer zu teuer, sagte sie. Ich bekomme die ganze neue Stube bei Daniel für mich.

Gewiß ist es teuer. Ich hatte auch schon daran gedacht, hier Schluß zu machen und anderswohin zu gehen, aber –

Aber es ging nicht?

Nein. Ich habe die ganze Reise vergebens gemacht.

Schweigen.

Aber, fing sie wieder an, dann kann die nächste Reise vielleicht zu etwas führen. Ich weiß nicht, aber sehen Sie es nicht zu schwarz an – ja, sich und das Ganze?

Er überraschte sie, indem er plötzlich mitteilsam wurde. Niemand konnte ihn so gesprächig machen wie sie; ihr Mitgefühl, ihre Anziehungskraft, das gebeugte lauschende Köpfchen machten ihn offenherzig: Ich hatte eigentlich gedacht, heimzureisen und ein oder zwei Schüsse abzugeben. Darum war ich gereist. Als ich aber vor den Fenstern stand, wurde ich andern Sinnes.

Nun ja, sagte sie, hatte aber sonst kein Wort zur Antwort darauf.

Dann kaufte ich einige Astern, schickte sie aber natürlich auch nicht.

Ich weiß nicht, antwortete sie vorsichtig, aber vielleicht hätten Sie sie schicken sollen.

Nein. Man hat keinen Mut, etwas zu tun, weder Böses noch Gutes.

Ich bemerkte, daß Sie einen Neujahrsgruß bekamen?

Ja, sagte er.

Da sehen Sie! Da haben Sie wohl Antwort auf Ihre Weihnachtskarte erhalten?

Schweigen.

Vor einem Jahre fing es an. Oder – ich erinnere mich nicht mehr, aber ungefähr vor einem Jahre. Zuerst glaubte ich es nicht. Es ist ja an und für sich gemein, so etwas zu glauben, und ich wollte es sechs Monate nicht glauben, sagte der Selbstmörder. Und jetzt schien er sich ganz aussprechen, reinen Tisch machen zu wollen, aber es glückte ihm nur teilweise. Der Anfang war ein langes, unzusammenhängendes Geschwätz, er wollte bekennen, war aber zu sehr überwältigt und sprach nur abgebrochen. Das Fräulein mußte alles erraten. Was er sagte? Er pflegte ihnen aus dem Wege zu gehen, ihnen auszuweichen, sagte er. Eine falsche Taktik, wie er erkannt hatte. Er ging heim und legte sich nieder, statt eindringlich zu werden. Was er damit erreichte? Heimzugehen und sich hinzulegen ist nicht das leichteste Ding auf Erden, er kehrt um und geht ihnen nach, aber er schämt sich zu laufen und verliert sie daher aus den Augen. Zu Hause hängt er eine Weltkarte an die Wand, die kann er sich ansehen, wenn er liegt, er gibt sich verschiedene mathematische Rätsel auf, die er ratet, liest Bücher, zählt die Figuren auf der Tapete. Eines Abends wird ihm gesagt, daß die Kleine krank sei ... Der Selbstmörder bedenkt sich und fragt: Wie lange, sagte ich, war es her, seit es anfing?

Ein Jahr, antwortete das Fräulein.

Ich meinte zwei Jahre. Es ist nicht zu verheimlichen, es war ja ein Kleines da. Na, also ich höre, daß die Kleine krank ist. Was ging das mich an! Ich gehe hinein und sehe sie an, hatte sie fast ein halbes Jahr nicht gesehen, das kleine Mädchen. Es waren Leibschmerzen, und sie schrie, aber sonst nichts. Warme Wollappen auf den Leib! sagte ich. Da lag sie, das Gesichtchen, die Händchen, ein süßes kleines Kunstwerk, ich schäme mich zu sagen: rührend; aber was ging sie mich an! Übrigens ist es auch mehr als zwei Jahre her, seit es anfing, das ist nicht länger zu verheimlichen. Tun Sie Öl auf den Lappen und zwei Wollappen, sage ich, wärmen Sie den einen, während der andere aufliegt! Wir fahren fort damit und haben Glück: sie wird ruhig, zuckt nur hin und wieder und schläft schließlich ein. Es war gleichsam, als sähe ich sie zum erstenmal, und ich blieb eine Weile stehen. Irgendwie bekam sie meine Hand zu fassen und hielt einen Finger fest, lächerlich, ich hatte im Grunde nichts mit ihr zu schaffen. Sie ist nicht getauft, und wie kann so etwas nun heißen? sage ich zu mir. Als es dann still wurde, hörte ich etwas im Nebenzimmer flüstern, ein Glas wird heruntergestoßen und geht entzwei. Ich sehe das Kindermädchen an und sie sieht mich an – nein, es sind nicht Gäste des Kindermädchens.

Jetzt wissen Sie also ein andermal Bescheid, sage ich zu ihr, warme Wollappen mit Öl darauf, dann gibt es sich! Ich ging wieder in mein Zimmer, aber ich war nicht mehr im Zweifel, daß ich zum Kind hineingerufen worden war, um etwas ganz anderes zu erfahren. Ich liege eine Weile, lese ein wenig und denke ein wenig; nach kurzer Zeit lösche ich die Lampe aus, denke wieder. Ich bin in den sechs Monaten nicht schlaff geworden und abgestumpft, im Gegenteil, wach und schnell und balle leicht die Faust. Jetzt höre ich ein Donnern hinter dem Hause. Das Kindermädchen kommt wieder. Es ist etwas passiert, sagt sie erschrocken, es ist etwas gefallen, auf der Hintertreppe! Ich habe eine Taschenlampe auf meinem Nachttisch liegen, um nachts nach der Uhr sehen zu können. Diese Taschenlampe nehme ich und gehe hin. Richtig, er ist nicht tot und auch nicht ohnmächtig, aber er ist vollgetrunken wie ein Schwamm. Ich richte das Licht auf ihn und sehe seinen Zustand, er kann nichts machen, er liegt auf dem Boden und lächelt mich an. Hinaus mit dir! sage ich, bringe ihm seinen Hut und helfe ihm zur Tür hinaus. Als ich wieder nach oben komme, sitzt jemand im Dunkeln in meinem Zimmer, ich höre sie etwas murmeln, es ist kein Licht, und ich zünde an. Ganz wie ich dachte – auch sie nicht sicher auf den Beinen, nicht übertrieben, aber etwas unklar und wirr, sie riecht nach Wein. Was sie wollte? Ja – sich entschuldigen! Sie habe deutlich gehört, daß die Kleine weinte, wagte aber nicht hereinzukommen, sie sei so wirr im Kopfe, es sei ihr zu Kopfe gestiegen. Es sollte nicht wieder vorkommen, nie. Aber ich dürfte nur nichts glauben, nicht das Schlimmste glauben; als er das wollte, hätte sie geantwortet: Nein, weg mit dir, ich sehe gut, wer du bist, ich kenne dich, und du bist nicht mein Mann! Das erzählt sie mir, sie ist völlig angekleidet, während ich nur meinen Schlafrock anhabe, und sie bittet mich geradezu, mich wieder hinzulegen und nicht dazusitzen und zu frieren. Immer wieder erklärt sie, daß es nicht wieder vorkommen solle, du lieber Gott! nein! Was sollte ich zu alledem sagen? Nichts war unglaublich, ich hatte nur zu fauchen und weißglühend zu sein, und sie sich nur zu entschuldigen und um Gnade zu bitten. Natürlich endete es wie so oft zuvor: sie blieb bei mir und am Morgen war alles vergessen.

Ja, das war schlimm, das war schlimm! sagt Fräulein d'Espard, als sei es ihr passiert.

Ja, verstehen Sie mich recht, erklärt der Selbstmörder, es war keine Bosheit mit im Spiel. Bosheit? Keineswegs. Man denkt immer verkehrt hierüber, und das ist so dumm. Das Schlimme geschah ja nicht, um mich zu quälen, sie gab nur nach, es lockte mehr, nachzugeben als zu widerstehen. Dazu kam noch, daß er ein Jugendfreund war, keine Spur von Säufer, auch nicht besonders schlecht, nur hübsch und groß, aber nicht sehr aufgeweckt. Eigentlich hatten sie sich haben sollen, aber ich kam dazwischen, mir ging es besser, und ich konnte ihr ein Heim bieten. Ob ich nichts davon gewußt hatte? Natürlich hatte ich es gewußt, ich hatte mich aufgedrängt, man ist nicht besser, man ist Mensch. Und nun überdenken Sie, bitte, alles zusammen. Irgendwelchen Grund, mir weh zu tun, hatten sie nicht, und das fiel ihnen auch nicht ein. Hätte ich nicht mehr im Wege gestanden, so wäre es gewiß besser gewesen; aber ich war da, und ich war selbst ohne Bosheit. Alles das. Aber versetzen Sie sich andererseits in meine Lage: konnte ich weitergehen, hatte ich nicht sechs Monate vergehen lassen, ohne daran zu glauben? Was wäre heute abend geschehen, wenn das Kind nicht geweint und sie gestört hätte? Alles war geordnet, hätten sie da nicht stillschweigend einig sein können? Von diesem Gedanken – diesem Verdacht – ist es nicht weit bis zu dem an das Kind. Ich sagte ein Jahr, aber es wurde unerträglich, ich kann nicht verheimlichen, daß es zwei Jahre her waren, seit es begann, mehr als zwei Jahre, also früh, sehr früh – was ging mich da das Kind an? Diese Frage war weit ernster als jede andere.

Der Selbstmörder hält inne.

Das Fräulein will ihn trösten: Nein, Sie dürfen es nicht glauben! So früh tut man das nicht, davon bin ich überzeugt.

Meinen Sie? fragt er interessiert.

Es vergehen ein und zwei und auch drei Jahre, ehe so etwas geschehen kann, das kommt erst, wenn man einander vielleicht müde und überdrüssig geworden ist – ich meine von selber, müde und überdrüssig von selber. Haben Sie sie nicht gefragt?

Nein. Nur angedeutet. Was für Wahrheit konnte ich von der Seite erwarten! Nun gleichviel, aber lassen Sie uns dabei bleiben: was geschieht dann?

Wie?

Nein, Sie wollen nicht darauf eingehen, Sie machen eine übliche, alltägliche Sache daraus und halten es nicht für wert, sie zu erörtern.

Meinen Sie, wie es geschieht? Ich verstehe Sie nicht. Man ist Mensch, wie Sie sagen, man wird seiner selbst überdrüssig und wirft sich weg. Das kommt vor, nicht wahr?

Ganz meine Meinung. Aber wie geht das vor? Die Stellungen? Kämpfen Sie ein wenig? Im Finstern?

Das Fräulein versucht, sein Gesicht im Dunkel zu sehen. Sie schweigt. Sie kann ihren eigenen Ohren nicht trauen.

Da gibt er es auf und fragt nicht mehr.

Das Fräulein wickelt sich in ihren Mantel, er sinkt tief zusammen, wie um seine Verlassenheit zu markieren, wenn sie geht. Er spricht, das Kinn auf der Brust: Ja, von ihr selber erhalte ich keine Aufklärung, obwohl ich sie von Zimmer zu Zimmer jage und sie frage.

Das würde ich an Ihrer Stelle wirklich nicht tun, sie jagen.

Nein. Sie sagt auch nur, daß ich verrückt bin. Aber meine Taktik war verrückt, es war zu leicht, mich zufriedenzustellen. Ich war dümmer als alle Tiere des Feldes. Als die sechs ungläubigen Monate um waren, kamen ja alle die gläubigen, eines Tages war ich genötigt zu glauben. Ja, das meinte ich jedenfalls. Ich hielt mich mehr wach, es gab Wochen, in denen ich nicht schlief außer in den Stunden, da wir beide im selben Zimmer zusammensaßen. Ich verfolgte sie, fand sie und konnte es feststellen! Meinte, ich könnte es. Einmal? Was wäre ein einziges Mal! Um so ein Geringes mache ich mich nicht zum Narren. Viele Male, sage ich Ihnen! ruft der Selbstmörder plötzlich erregt; jedesmal, wenn ich ihnen nur nachgehen wollte! Sie fühlten nicht die Schändlichkeit, die Niedertracht darin, sie sahen mich an, wenn sie wieder herauskamen aus Cafés und Theatern. Ich dachte: das muß etwas Selbstverständliches, muß recht und richtig für sie sein, sonst verstehe ich es nicht! Ganz wie ich dachte: sie sagte mir gerade heraus, daß er und kein anderer es sei, daß er es immer gewesen sei und daß ich sie getrennt hätte! Meine Taktik war wieder falsch, ich antwortete. Antwortete auf die Anklage, stand da und gab Antwort! Ich sagte, wenn sie mir diesen Bescheid beizeiten gegeben hätte, so würde sie Frieden vor mir gehabt haben! An und für sich also keine Lüge von mir, aber ich hätte nur schweigen sollen. Sie erhielt zu leichtes Spiel: sie antwortete, sie habe mir die ganze Zeit zu verstehen gegeben, wie es mit ihr stand, aber ich hätte nicht hören wollen oder können! Sicherlich auch keine Lüge von ihr, das war sehr glaubhaft. Da stand ich nun.

Dachten Sie nicht daran, sich scheiden zu lassen?

Das taten wir wohl, es schwebte uns sicher hin und wieder vor. Ich meinerseits dachte nicht viel daran, aber sie war vielleicht tapferer, ich weiß nicht, ich hörte nichts. Wenn ich daran dachte, kam ich nur zu dem Schlusse, daß Scheidung die Frage durchaus nicht löse, sie löst nur Bande. Was sollte sie mit der Scheidung? Sie konnte sie entbehren und erwähnte nichts davon. Ich selbst war zu wenig mutig und männlich, um sie zu verlangen. Man ist jämmerlich, man ist Mensch. Gesetzt, sie zieht fort und nimmt alles, was ihr gehört, mit: nicht einmal eine kleine Bluse hängt an der Wand. Ich öffne die Schubladen, sie sind leer; ich sehe zum Spiegel hin, dort liegt weder ein Schleier noch ein Paar Handschuhe. Wenn ich einen neuen kleinen Brillantring kaufe und hinlege, so wird er nicht fortgenommen. Nein, keine Scheidung! Nicht einmal der Duft würde drinnen bleiben, ein Hauch von ihr, eine Spur oder ein vergessenes Wort, nein, das Zimmer öde. Wäre es besser als jetzt? Zudem war ich in meiner Erniedrigung nicht ausgesperrt von ihr, ihre Tür war nie verschlossen, der Ring rührte sie zu Tränen und Umarmungen – ich hätte in die Erde sinken müssen, genoß aber die Stunde und weinte selbst. Man ist jämmerlich. Hinterher waren wir beide drinnen bei der Kleinen. Am Tage darauf war alles vergessen.

Fräulein d'Espard schüttelte den Kopf.

Alles vergessen. Es hätte anders, alles hätte gut sein können.

Ach ja, Herrgott, sagt das Fräulein unglücklich, es gibt so vieles, das anders sein sollte!

Sie haben wieder recht. Nicht unmöglich, daß sie, wenn ich selbst anders gewesen wäre, ein anderes Aussehen gehabt und mich besser benommen hätte, zurückgekommen oder vielleicht nicht einmal fortgegangen wäre. Alles gut und schön. Aber versetzen Sie sich nun wieder in meine Lage, was geschieht mit mir? Ich existiere, und da stand ich nun. War meine Schlechtigkeit offenbar, so war die der andern auch nicht unsichtbar; ich konnte auf sie zeigen und sie festnageln. Es hat jetzt mehr als zwei Jahre gedauert.

Was wollen Sie tun? fragt das Fräulein beinahe flüsternd.

Nichts, antwortet er, ich tauge weder zu Schlechtem noch zu Gutem. Ich reiste nach Kristiania, um eine Entscheidung herbeizuführen und einmal ein Ende zu machen, gab es aber auf. Es ist jedenfalls ein warmes Häuschen für das Kind, dachte ich, Sonne den ganzen Vormittag. Nun ja, ich traf keinen und ging nicht hinein, aber es war Licht in der Wohnung am Abend, nur mein eigenes Zimmer war dunkel, sie respektieren, daß ich es verschlossen habe. Es gab weder Lustbarkeit noch Tanz oder Geschrei.

Nein, das fehlte auch nur!

Ich schätze das, ich bin genügsam geworden. Ich bin ihr dankbar, daß sie mein Zimmer nicht öffnet und benutzt, damit macht sie mich ein bißchen weniger obdachlos; ich habe dieses Zimmer in der Stadt.

Es ist sehr ungemütlich für Sie, sagt das Fräulein erschüttert.

Er merkt wohl, daß er lange gesprochen und sich sicher zu gerührt gezeigt hat, er schlägt auf einmal um und erhebt sich: Es ist spät, Sie frieren gewiß, entschuldigen Sie, daß ich mich vergaß!

Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen.

Danke. Oh, aber Sie können kein Interesse an meinem Schicksal haben. Übrigens ist es noch nicht so schlimm wie das Schicksal manches andern, das meine ist nicht das schlimmste, ich habe viele Freuden.

Das hoffe ich!

Kommen Sie, Fräulein d'Espard, es ist spät!

Während sie hineingehen, wiederholt sie: Ja, das hoffe ich wirklich. Daß Sie viele Freuden haben. Und, Herrgott, das kann ja alles wieder gut werden, glauben Sie nicht?

Ach nein. Das heißt, man soll nichts verschwören.

Sie bekamen eine Karte –

Ja, ich bekam eine Karte. Von wem glauben Sie? Von Moß?

Nein, vielleicht nicht von Moß. Vielleicht etwas viel Besseres als das!

Sie war von mir selber, sagte der Selbstmörder.

Im Lichte der Korridorlampe sah sie sein vergrämtes Gesicht, sie starrte ihn an. Er nahm die Karte aus der Tasche und zeigte sie ihr: Akershus-Schloß, dazu Prosit Neujahr! und seine eigenen Buchstaben darunter. Er stand mit bebendem Munde da.

Ich kaufte sie unterwegs, sagte er. Ich wußte wohl, daß keine andere Karte kommen würde, und das war auch einerlei. Ich schickte sie nicht meinetwegen, ich mache mir nichts aus so etwas, es war der andern Gäste wegen, sie sollten sehen, daß ich sie bekam. Na, jetzt müssen Sie sich hinlegen, Fräulein d'Espard, gute Nacht! Er drehte sich schnell um und ging wieder in die Winternacht hinaus ...

 

Am Morgen begann eine Neuigkeit zu summen, eine düstere Neuigkeit von schlimmer Vorbedeutung. Es begann früh, als das Mädchen mit dem Kaffee zum Doktor hineinging. Sie kam verwirrt wieder und meldete es den andern Mädchen, so erfuhren es einige der Gäste; Rechtsanwalt Rupprecht stand augenblicklich auf und trat einen Rundgang durchs Sanatorium an. Was war geschehen? Etwas Unverständliches und Unheimliches, und das am Neujahrstage.

Als der Rechtsanwalt bei Inspektor Svendsen vorüberkam, der gerade die Flagge hissen wollte, hinderte er ihn daran und sagte: Warten Sie damit, hissen Sie die Flagge noch nicht gleich! Haben Sie den Doktor gesehen?

Nein, der Inspektor hatte den Doktor heute nicht gesehen. Die Lampe brennt noch im Bureau, ist er nicht dort?

Nein. Aber lassen Sie uns noch einmal nachsehen.

Der Doktor war nicht da.

Vom Bureau gingen die Herren in das eigene Zimmer des Doktors, aber da war er auch nicht. So mochte Gott wissen, wo er war. Und das am Neujahrstage!

Mehrere der Gäste waren in aller Eile aufgestanden und beteiligten sich an der Suche. Es sickerte durch, daß der Doktor die Absicht gehabt hatte, ein Paar neue Schlittschuhe auf dem Bergsee heute nacht zu probieren, einige Herren liefen nach der Eisbahn, um zu suchen, sie trafen eine Dame. Es war Fräulein Ellingsen, die ihnen zuvorgekommen war und sich schon auf dem Rückwege vom Eise befand. Sie trug eine Holzstange in der Hand. Sie fragten sie, ob sie den Doktor gesehen hätte, aber das hatte sie nicht; sie schüttelte den Kopf mit düsterer Miene und sagte: Aber ich habe etwas entdeckt: es sind viele Löcher im Eise, Fischlöcher, das eine ist jetzt offen.

Ja – was meinen Sie –?

Offen, nickte sie. Das ist heute nacht geschehen.

Ist es möglich, daß er – was sagen Sie!

Sie liefen weiter, um das Loch zu sehen, und Fräulein Ellingsen setzte ihren Heimweg fort. Sie war sehr nachdenklich, ja, Fräulein Ellingsen war sehr mit ihren Gedanken beschäftigt, dieses offene Loch im Eise war eine aufgelegte englische short story, eine nächtliche Tragödie, sie wußte, was sie wußte!

Sie versammelte viele der Gäste um sich, weil sie vom Tatort kam und das Neueste erzählen konnte, ihre Rede war gedämpft, aber sehr wirkungsvoll, sie ließ die Zuhörer das Schlimmste befürchten. Wenn nur kein Unglück geschehen ist! sagte der Rechtsanwalt. Das Loch ist offen, sagen Sie?

Offen. Das Eis, das sich darüber gelegt hatte, ist heute nacht gebrochen. Die Stücke sind noch nicht wieder zusammengefroren.

Das sind diese Fischlöcher von Daniel, sagte der Inspektor.

War nicht Mondschein heute nacht? fragte einer.

Nein, sagte der Inspektor. Und was wollte er auch im Dunkeln auf dem Eise! Welches von den Löchern war es, gnädiges Fräulein?

Das zunächst dem Bache. An der Mündung.

Gerade wo das Eis am schwächsten war. Wir hatten eine Stange hingesetzt zur Warnung.

Hier ist die Stange, sagte Fräulein Ellingsen. Sie lag auf dem Eise und da nahm ich sie mit.

Warum? fragte Bertelsen.

Sie antwortete ihm – ihm allein, und sie hatte vielleicht die ganze Zeit nur geredet, damit er sie hörte: Es könnte ja sein, daß sie untersucht werden müßte.

Die Stange? fragte Bertelsen äußerst verwundert.

Na, lassen Sie uns nicht länger hier stehen und schwatzen, unterbricht der Rechtsanwalt. Nehmen Sie Ihre Leute mit, Svendsen, und hauen Sie das Eis auf. Großer Gott, wenn ein Unglück geschehen sein sollte!

Ich möchte gern ein paar Worte in Ihrem Zimmer mit Ihnen reden, sagte Fräulein Ellingsen zu ihm. Sie sind wohl so gut und kommen mit, Bertelsen.

Etwas hatte das Fräulein auf dem Herzen, darüber konnte kein Zweifel sein, sie sah ungewöhnlich nachdenklich aus. Der Rechtsanwalt ging voran in sein Zimmer: Bitte, setzen Sie sich, gnädiges Fräulein! Sie wollten mir etwas sagen?

Fräulein Ellingsen hat das Wort, sie erzählt ausführlicher, was sie entdeckt hat, spricht und bekommt rote Backen. Bertelsen, der ihre gesegneten Erzählungen kennt, versucht sich gleichgültig zu zeigen, gibt es aber ihrem tiefen Ernst gegenüber auf: Es ist festgestellt, daß der Himmel mit Wolken bedeckt und mondlos war, ich habe selbst das Loch untersucht, es ist groß genug, daß ein Mann, der auf Schlittschuhen angesaust kommt, hindurchfallen kann. Ich sage deshalb noch nicht, daß das Unglück geschehen ist.

Nein, nein. Aber was sagen Sie denn? fragt Bertelsen ungeduldig.

Sie wendet sich zu ihm: Sie fragten, warum ich diesen Stock mitgenommen hätte? Ich nahm ihn mit, weil er vielleicht chemisch untersucht werden muß. Es ist etwas daran, das wie Blut aussieht.

Blut? sagen die Herren.

Sie zeigt ihnen einige rötliche Flecke auf der Rinde, und sie wissen nicht, was sie glauben sollen. Ja, es ist unzweifelhaft Blut, aber Bertelsen fragt: Ja, aber wenn es nun Blut ist?

Dann kann der Stock als Waffe gebraucht worden sein.

Überfall also? rät der Rechtsanwalt. Nein, das ist unwahrscheinlich.

Das Fräulein schweigt. Es ist keine Spur von Unnatürlichkeit an ihr, sie müht sich mit ihrer Aufgabe, kämpft für sie, sie sehen, daß sie nachdenkt und sich Mühe gibt.

Wer in aller Welt sollte den Doktor überfallen? Den nettesten Mann hier, der nur Freunde hat.

Es könnte doch irgendeiner getan haben.

Der Rechtsanwalt fragt: Denken Sie an einen Bestimmten?

Ja, antwortet sie, ich denke an einen Bestimmten. An wen?

Ich möchte mich bei der jetzigen Lage der Dinge nicht gerne aussprechen. Aber wenn es unter uns bleibt –

Selbstverständlich! rufen beide Herren aus und lauschen dann gespannt.

Das Fräulein, still und tief: Ich sage nicht, daß er es ist, aber ich denke an den Mann, den wir den Selbstmörder nennen. Ich habe meine Gründe, ihn zu bezichtigen.

Schweigen. Der Ernst des Fräuleins wirkte, die Herren sahen sie an und dachten über ihre Worte nach.

Warum sollte er es getan haben? fragte Bertelsen.

Einem geisteskranken Mann – wenn er geisteskrank ist – kann alles mögliche einfallen.

Ja, sagte der Rechtsanwalt, darin muß ich Fräulein Ellingsen recht geben. Sie sagten, daß Sie Ihre Gründe hätten, ihn zu bezichtigen?

Es sind Indizien, sagte das Fräulein. Ich hörte ihn heute nacht mit Fräulein d'Espard unten im Gange reden. Als sie sich gute Nacht gesagt hatten, kam Fräulein d'Espard allein die Treppe herauf. Der Selbstmörder ging wieder in die Nacht hinaus.

Ja, sagten die Herren, das klingt ohne Zweifel etwas merkwürdig. Und Sie sind dessen vollkommen sicher.

Das Fräulein nickte nur. Übrigens, sagte sie, kommt das stärkste Indizium erst: ich bin von der Eisbahn zurückgekommen. Was heißt das? Das heißt, daß ich allen andern voran, daß ich die erste unterwegs, die erste an Ort und Stelle bin. Dort finde ich – finde ich –

Was finden Sie?

Dies! sagte das Fräulein beinahe flüsternd und hielt die Aster des Selbstmörders hoch.

Niemand sprach, die Herren hatten genug zu denken. Es dauerte eine Weile, dann sagte das Fräulein: Sie erkennen sie wohl? Erinnern sie sich, welches Knopfloch sie gestern abend schmückte? Ja, das taten sie.

Ich fand sie auf dem Eise ein Stück von dem Loche. Sie ist heute nacht verloren.

Die Herren waren sich beide einig, diese klägliche Aster an der Brust des Selbstmörders gesehen zu haben, Bertelsen entsann sich speziell des Augenblicks, da der Selbstmörder an die Lampe gerufen wurde und von der Wirtschafterin eine Postkarte erhielt. Da hatte diese welke Blume sich so deutlich gezeigt.

Es kann nur eine Meinung herrschen, daß es dieselbe Aster ist, sagte der Rechtsanwalt. Insofern ist alles klar. Ich muß Sie wirklich bewundern, Fräulein Ellingsen, daß Sie das herausbekommen konnten – daß Sie soviel Umsicht haben –

Die! bricht Bertelsen aus und überbietet ihn. Ich versichere Sie, sie ist der reine Detektiv. Geben Sie ihr ein Fadenende oder einen ausgespuckten Zigarettenstummel – und sie bekommt ein ganzes Verbrechen heraus.

Das Fräulein schwillt, eine Anerkennung von dieser Seite ist beinahe mehr, als sie ertragen kann, sie beugt sich vornüber, um ihre Bewegung zu verbergen. Auf jeden Fall, sagt sie und ist immer noch mitten in der Geschichte, auf jeden Fall muß der Selbstmörder den Doktor zuletzt gesehen haben. Er muß Auskunft geben können.

Die Spannung, in der sich alle befanden, geriet im Laufe der Erörterung in Gefahr, sich zu verziehen, ein Überfall erschien den Herren so unwahrscheinlich, so ausgeschlossen. Aber man konnte nie wissen, und daß das auf dem Stock reines Blut war, schien sicher zu sein. Das Fräulein wurde gebeten, auf eine feine Weise mit dem Selbstmörder zu reden – eine Aufgabe, sagte der Rechtsanwalt, die man in keine besseren Hände legen könnte. Aber selbst als die Sitzung aufgehoben wurde und sie sich trennten, konnte der Rechtsanwalt noch nicht alle Hoffnung aufgeben, seinen Kompagnon zu finden. Er gab einem Mädchen, das er im Korridor traf, sogar Auftrag, noch einmal im Zimmer des Doktors nachzusehen, wo er allerdings selbst mehrmals gesucht hatte. Sehen Sie auch unter dem Bett nach, sagte er.

Der Rechtsanwalt selbst ging nach dem Eise.

Fräulein Ellingsens Gespräch mit dem Selbstmörder führte zu nichts, er hatte den Doktor nicht gesehen. Er sei in der Nacht ausgewesen, erzählte er, bis weit nach Mitternacht. Es mochte ein oder zwei Uhr gewesen sein, als er hineinging, er sei auch auf dem Eise gewesen, weil der Doktor ihn aufgefordert habe, sei aber gewiß zu spät gekommen, der Doktor habe sich nicht mehr auf der Eisbahn befunden.

Haben Sie eine Stange bei der Bachmündung gesehen? fragte das Fräulein.

Eine Stange? Nein. Weshalb fragen Sie?

Es sieht aus, als sei Blut daran.

So, sagte der Selbstmörder uninteressiert. Ich kann es übrigens nicht glauben, daß der Doktor sich etwas angetan haben sollte. Er ist ein Windhund.

Ich fand die Blume, die Sie gestern im Knopfloch hatten – ich fand sie heute morgen auf dem Eise.

So, sagte der Selbstmörder wieder. Ja, die war nichts mehr wert, sie hatte ausgedient.

Nein, es war wirklich nichts aus dem Selbstmörder herauszuholen, das heißt, er erzählte ja alles ohne Geheimnistuerei. Zuletzt hörte er nicht mehr genau auf das, was das Fräulein sagte, er wiederholte ein paarmal, daß der Doktor wohl wieder zum Vorschein kommen müsse.

Es wurde Mittag, die Gäste versammelten sich, aber sie aßen im Schweigen. Es war ein langer, gedrückter Neujahrstag, ohne Flagge, ohne Musik, Gelächter und Freude, vielleicht ein schwerer Geldschaden für das Sanatorium. Im Laufe des Nachmittags besserte sich die Stimmung etwas, Inspektor Svendsen und seine Leute hatten das Eis vom Fischloch bis ganz zur Bachmündung aufgehauen, aber keine Leiche gefunden. Im Wasser war der Doktor also nicht. Diese Entdeckung freute sicher alle Menschen im Sanatorium, sie freute sicher auch Fräulein Ellingsen, aber sie hatte sich in ihr Zimmer begeben, wo sie lag und weinte. Ach, das große, hübsche Fräulein Ellingsen mit dem unfruchtbaren Lesen von Detektivromanen und der erhitzten Phantasie, sie ertrug jetzt keine Niederlage, es wäre so gesegnet für sie gewesen, wenn sie diesmal gesiegt hätte, sie war nicht dumm, sie merkte wohl, wie es stand: daß ihr Schicksal bald entschieden werden sollte. Wo saß in diesem Augenblick Bertelsen und unterhielt aus allen Kräften eine andere Dame? Warum war das so? Falls ihre Indizien Stich gehalten hätten, so würde sie eine Hoffnung gehabt haben, aber die Indizien schienen falsch zu sein. Der Selbstmörder machte ja kein Hehl aus seiner nächtlichen Wanderung, die verlorene Aster bedeutete nichts für ihn, und als Rechtsanwalt Rupprecht von der Eisbahn zurückkam, konnte er ihr sagen: Das muß Fischblut an Ihrer Stange sein, es ist eine ganze Menge Blut um das Loch, wo Daniel Fische geschnitten hat. Und darauf hatte Fräulein Ellingsen nur antworten können: Ja, es sei möglicherweise Fischblut, das würde allenfalls die Analyse entscheiden. Nein, sie war sicher geschlagen, daher lag sie nun da und weinte und zeigte sich nicht am Mittagstisch.

Obwohl der Doktor ziemlich sicher nicht ertrunken war, hatte man ihn doch nicht gefunden; wo war er also? Man war gerade dabei, sich zu einer gemeinsamen Suche zu ordnen, als das Sanatorium eine große Sensation erlebte: Aus einem ganz abseits gelegenen Zimmer wurde geklingelt, aus einem Verschlage ohne Ofen und ohne Bewohner, in dem auch kein ordentliches Bett, nur ein einfaches Feldbett stand, ja, von dort wurde geklingelt. Als das Mädchen kam, um das Mysterium aufzuklären, fand sie ihn, fand sie den Doktor, Doktor Öyen. Was –? schrie sie. Schweigen Sie! sagte er vom Feldbett aus, gehen Sie und holen Sie den Rechtsanwalt! Das Mädchen ging, aber sie hatte den Eindruck, daß der Doktor verrückt geworden war, seine Augen waren blutunterlaufen.

Der Rechtsanwalt hob beide Arme zum Himmel, als er hereintrat, und wollte mit einigen notwendigen Fragen beginnen, hielt aber inne, der Doktor sah nicht danach aus, als ob er Rede stehen könnte. Liegen Sie hier? sagte der Rechtsanwalt nur, und der Doktor antwortete: Ich muß weggeschafft werden! Er lag da, den Überzieher über sich gebreitet, und fror, er war krank. Aus seinen triefenden Kleidern und Stiefeln war Wasser über den Boden geflossen, ein Paar Schlittschuhe waren auf den Boden geworfen, nichts im Ofen, das Licht sickerte durch ein verstaubtes Fenster ohne Gardine herein, alles trübselig, alles elend, und da lag er. Der Schweizer ist stark, er kann mich tragen, sagte er. Wir werden Sie ins Bett tragen, sagte der Rechtsanwalt. Nein, antwortete der Doktor, da sehen es alle. Der Schweizer kann mich über die Küchentreppe tragen.

Jawohl, er wurde getragen, zuerst nach seiner Apotheke, wo er eine Dosis Tropfen einnahm, darauf in sein Zimmer. Es ging zweimal über den Hof, aber der Schweizer trug ihn. Es wurde im Ofen eingelegt, er bekam warmes Bettzeug, Wärmflaschen und etwas Warmes zu trinken; er fühle sich besser, sagte er.

Der Rechtsanwalt fragte ihn vorsichtig aus, um eine Erklärung zu erhalten. Es war zwar nicht viel Zusammenhang darin, aber es zeigte sich ganz richtig, daß der Doktor ein Windhund gewesen war. Natürlich war er in das Fischloch gelaufen, statt aber gleich nach Hause zu stürmen und sich ordentlich in seinem warmen Zimmer ins Bett zu legen, wollte er sich in diesem entlegenen Verschlage verstecken, er wollte nicht eingestehen, daß er ins Wasser gefallen war. Die verwirrte Seele! Er wollte wohl nicht die Gäste erschrecken, hatte vielleicht auch zeigen wollen, daß er selbst – der Arzt – in der Winternacht ein Tauchbad nehmen konnte, ohne daß es ihm das allergeringste anzuhaben vermochte. Darin irrte er sich allerdings, er vertrug es nicht. Als der Rechtsanwalt durchblicken ließ, daß Unruhe im Sanatorium entstanden war, grämte sich der Doktor sehr. Was sagten die Gäste? fragte er, lachten sie? Er sei eben in diesen Verschlag gegangen, um nicht gefunden zu werden, erklärte er, und es sei ja seine Absicht gewesen, morgen früh, wenn das Wasser aus seinen Kleidern abgelaufen war, aufzustehen und sich in sein eigenes Zimmer zu begeben, aber er habe es nicht können, ihm sei schlecht geworden, sehr schlecht –

Überhaupt erschien ihm das Ereignis der Nacht als etwas, dessen er sich zu schämen hatte.

Ich verstehe beinahe gar nichts! bekannte der Rechtsanwalt schließlich und schüttelte den Kopf.

Es kam alles davon, daß es so dunkel war und daß der Mond nicht schien, sagte der Doktor.

Das war sicher seine wahre Meinung. Das Ganze kam wohl eher davon, daß er sich in seinem Studium nie mit dieser besonderen Situation befaßt hatte und daher auch nichts darüber wußte. Er hatte seine Persönlichkeit in der Medizin wegstudiert, es war nichts weiter von ihm übriggeblieben, und er meinte sicher, daß sein Einfall gut war. Ein Junge! ein Kind mit Examen! Er hätte etwas mehr Form haben können, der Mann, Gott helfe uns, er hätte wirklich ein wenig, hätte etwas, hätte einer sein können. Da hatte er nun diesen großen Jungenstreich ausgeheckt, sein dummes Tauchbad in einer Bodenkammer zu verstecken. Ein frischer, undressierter Affe würde anders gedacht haben.

Jetzt wolle er schlafen, sagte er. Aber hier sei es so kalt?

Der Rechtsanwalt sah aufs Thermometer: Hier sind über zwanzig Grad. Sie müssen Fieber haben.

Der Doktor: Sind hier über zwanzig Grad, dann ist es hier nicht kalt; jetzt will ich eine Weile schlafen. Zum Abendbrot stehe ich wieder auf.

Der Rechtsanwalt war froh, daß sein Kompagnon jedenfalls wieder zur Vernunft gekommen war, er verbreitete die Neuigkeit mit den nötigen Erklärungen überall, wohin er kam, und gab Befehl, die Flagge zu hissen. Es war allerdings schon Nachmittag, aber es war Neujahr.

Merkwürdigerweise zeigte es sich, daß es schwer war, die Stimmung wieder zu heben. Es gab keinen Grund mehr, die Köpfe hängen zu lassen, aber eine gewisse Stille und Unbehaglichkeit war in die Gäste gefahren und wollte nicht wieder heraus. Einer kam von draußen und erzählte, der Inspektor habe sich mit der Flagge abgemüht, sie halb hinauf bekommen, und da sitze sie fest, jetzt bekomme er sie weder hinauf noch herunter! Diese Episode machte es noch dumpfer im Salon, sie verbreitete gewissermaßen Respekt. Es bedeutete vielleicht etwas, eine Flagge auf Halbmast. Holen Sie sie herunter! rief der Rechtsanwalt von der Veranda. – Ich bekomme sie nicht herunter! schrie der Inspektor zurück. – Dann legen Sie die Flaggenstange um! – Das geschah und die Flaggenstange blieb jetzt flach und nackt auf dem Schnee liegen und wurde nicht wieder aufgestellt.

Kein Wunder, daß der Rechtsanwalt sich ärgerte. Er wandte sich an Schuldirektor Oliver und beklagte sich über die Dinge, aber Direktor Oliver wurde nicht Feuer und Flamme, sein Beruf war nicht, zu belustigen und zu trösten, sein Beruf war, zu unterrichten, er war im Grunde einsam ohne Schüler, ohne Zuhörer, sogar Fräulein d'Espard hatte sich zurückgezogen und schien mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt. Direktor Oliver blieb einsilbig. Ja, aber was in aller Welt steckte dahinter, fragte sich der Rechtsanwalt, daß ein ganzes Schloß voller Leute wie ausgestorben dalag? Wäre das nicht früher schon mal vorgekommen, daß eine Flaggenleine sich in den Block eingeschnitten und festgeklemmt hätte? Es sei wenig wahrscheinlich, daß Zeichen vom Himmel geschähen, wenn Doktor Öyen sich erkältete. Nicht wahr?

Das ist vollkommen undenkbar, sagte Direktor Oliver.

Der Rechtsanwalt bat den Ingenieur, sich der Stimmung der Gäste anzunehmen. Der Ingenieur sagte nicht nein, er war schon einmal aufgetreten und kannte die Kunst: er erdachte Spiele, er parodierte Schauspieler, veranlaßte einige junge Leute, Blindekuh mit ihm zu spielen, und konnte sogar Niggerlieder. Wahrlich, der Ingenieur schonte sich nicht, und namentlich im Blindekuhspiel trieb er es weit, er tanzte und zeigte sich, schrie mit bewußter Blödheit und endete mit einem großartigen, albernen Kummer über ein eingebildetes Unglück – alles mit verbundenen Augen. Der Korrespondent der drei Blätter sagte rein heraus, daß ein großer Schauspieler an dem Ingenieur verloren gegangen sei, was er in seinem nächsten Hochgebirgsbrief auch vermerken wolle. Aber nicht alle waren wie der Korrespondent, die andern Zuschauer waren träge, der Teufel mochte klug aus ihnen werden, sie wollten auch nicht auf Skiern und Schlittschuhen hinaus, sie saßen nur so da. Nichts geschah, nichts wurde dem Erdboden gleichgemacht, nein, aber es lag ein stummes Grauen über der Stätte wie vor einer Untat.

Es wurde bekannt, daß es Doktor Öyen schlechter ginge, und der Rechtsanwalt telephonierte nach dem Doktor unten im Kirchspiel, dem Kreisarzt. Es war schwer zu telephonieren, ohne daß jemand es hörte, und der Rechtsanwalt war vielleicht etwas unvorsichtig. Wenn es nur kein Typhus wird! sagte er. Diese Worte gingen weiter und waren bald im ganzen Hause herum. Mehrere Gäste dachten daran, ihren Aufenthalt abzubrechen und schon morgen, am Tage nach Neujahr, heimzureisen. Ein Verlust von viel Geld für das Sanatorium. Kleinhändler Ruud packte heimlich seinen Handkoffer.

Der Kreisarzt kam. Lungenentzündung. Er lieferte Tropfen und Mixturen und fuhr wieder ab. Als er am nächsten Tage wiederkam, ging es dem Patienten noch schlechter. Am dritten Tage starb er.

Welch ein Neujahr!

Der Selbstmörder durfte sich ja diese gute Gelegenheit nicht entgehen lassen, ohne sich auszusprechen; er nickte und meinte, das Ende sei das noch nicht! Das Leben ist eine billige Ware für den Tod, sagte er, der nächste von uns ist schon vorgemerkt! Ein paar Tage lang gab er sich Mühe, sein unheimliches Schwarzsehen unter den Gästen zu verbreiten, er sprach von sich und andern nur als den »Überlebenden hier am Orte«.

Viele Gäste reisten ab: der Korrespondent, Kleinhändler Ruud, der Ingenieur und die Jugend beiderlei Geschlechts. Hier hielt sie nichts mehr, sie standen mitten im Leben und hatten kein Interesse daran, zu sehen, wie Doktor Öyens Sarg kam, wie die Leiche hineingelegt und der Sarg mit der Bahn wieder fortgeschickt wurde. Kleinhändler Ruud machte kein Hehl daraus, daß er anderes zu tun habe, daß seine Zeit ihm nicht erlaubte, noch länger vom Geschäft fortzubleiben. Er sagte zum Rechtsanwalt: Und wegen der Aktien habe ich jetzt die Gewißheit bekommen, daß sie deponiert sind, Bertelsen kann sie nicht verkaufen! So, antwortete der Rechtsanwalt und wollte nicht darauf eingehen. Aber Sie können die Aktien in der Bank zu dem Kurs, von dem wir gesprochen haben, einlösen, fuhr Ruud fort – das heißt, wenn Sie jederzeit die Feuerversicherungsprämie für das Sanatorium bezahlt haben.

Ja, Kleinhändler Ruud hatte ein Auge an jedem Finger, der Rechtsanwalt sehnte sich gewiß nicht nach einer näheren Verbindung mit ihm. Welchen Vorteil hätte es, wenn dieser Mensch sich statt Bertelsens in den Betrieb des Sanatoriums hineinmischte? Nein, er bedankte sich. Außerdem war Bertelsen jetzt gut geduckt, der Rechtsanwalt wünschte ihm keine Demütigung.

Schuldirektor Oliver reiste nicht ab, auch Bertelsen und die Damen Ruben und Ellingsen nicht; Rechtsanwalt Rupprecht, der Direktor selbst, konnte sein liebes Torahus ja nicht verlassen, ehe alles wieder vollkommen geordnet war, augenblicklich war er damit beschäftigt, nach einem neuen Arzt zu telephonieren und zu telegraphieren und seine Wahl zu treffen.

Die nächste, die krank wurde, war Frau Ruben. Merkwürdig, daß die Dame überhaupt noch am Leben war, sie aß nichts, trank nichts, hielt das Leben nur mit Pillen aufrecht, sie mußte viel Widerstandskraft besitzen. Was für Pillen waren es? Mystische Pillen, die gnädige Frau erhielt sie aus London und verbarg sie sorgfältig nach jedesmaligem Gebrauch. Ein altes Mädchen im Sanatorium hatte dieselbe Art Pillenschachteln bei »Mylady« gesehen, es schien also mehr als eine Intimität zwischen den beiden Damen, Frau Ruben und der Engländerin, bestanden zu haben.

Arme Frau Ruben, sie wurde krank und knickte zusammen – was der Grund auch sein mochte, vielleicht weil sie sich gegen ihre Gewohnheit am Sylvesterabend sattgegessen hatte. Sie lag da mit ziemlichen Schmerzen und einem fremden Ausdruck in ihren tiefen, herrlichen Augen; ihr war nicht gut, aber sie wollte nichts vom Kreisarzt wissen, im Gegenteil, sie wolle morgen wieder aufstehen, sagte sie. Ach, aber es ging nicht, sie blieb liegen und ihr war nicht gut, aber sie gab nicht nach. Sie erhielt mit der Post zwei Paar nadelspitze Stiefel zur Probe, sie waren aus Stoff und Lack, und Frau Ruben durfte wohl nicht hoffen, ihre eigentümlichen Watschelfüße hineinzubekommen, aber sie konnten dastehen, als sei es gerade ihre Nummer. Sie standen auf dem Toilettentisch, als der neue Doktor kam.

Denn seht, jetzt kam der neue Doktor, der neue Sanatoriumsarzt, und das wurde ein kleines Erlebnis für Torahus. Die Gäste bekamen ihn beim Mittagessen zu sehen, er war kurzsichtig, sehr lang und mager. Wenn er sich über seinen Teller beugte, war es, als ob er den Hals über einen Balkon streckte, um auf die Straße hinunterzusehen. Er hatte ein hübsches Lächeln und eine kluge, bestimmte Miene. Er war jung in seinem Fach, konnte aber nicht übersehen werden, auch sein Vater war Doktor, er war der geborene Arzt.

Als er in Frau Rubens Zimmer trat, grüßte er höflich, stellte sich dann vor und sagte: Tragen Sie diese Art Stiefel hier in den Bergen, gnädige Frau? Er erblickte die Pillenschachtel der gnädigen Frau, die unter ihrem Kopfkissen hervorguckte, zog sie heraus, las die Aufschrift, öffnete sie und sagte: Wozu nehmen Sie das?

Die gnädige Frau hätte ihm am liebsten die Schachtel aus der Hand gerissen und antwortete ärgerlich: Ich nehme es gar nicht – fast gar nicht –

Der Doktor erhob sich und schloß ohne weiteres die Tür ab, schlug das Deckbett der gnädigen Frau zurück und sagte: Drehen Sie sich ein bißchen um! Als er mit der Untersuchung fertig war, fragte er: Haben Sie noch mehr von diesen Schachteln?

Ich weiß nicht. Nein, wohl nicht. Und wenn?

Ich bin kein Chemiker, aber ich glaube nicht, daß solche Pillen gerade Ihren Appetit vermehren.

Ich esse, soviel ich kann, antwortete die gnädige Frau.

Das tun Sie. Aber Sie sollten mehr essen, Sie dürfen keinen Widerwillen gegen das Essen bekommen, sagte der Doktor und steckte die Pillenschachtel zu sich.


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