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VIII

Der Doktor hatte sich mit dem Inspektor beratschlagt, um irgend etwas Anregendes für die Gäste zu veranstalten, etwas, das zog. Skilaufen in den Bergen, Schlittschuhlaufen auf einem der Gebirgsseen. Jawohl, ja, es sollte geschehen. Aber Inspektor Svendsen, der alte Matrose, verstand sich ja nur wenig auf Sport zu Lande und mußte daher beim Briefträger und Schweizer Hilfe suchen. Die drei machten sich nun daran, einen geeigneten Skihügel auszusuchen, und als das Eis stark genug war, fegten sie den Schnee herunter, daß es eine blanke Eisbahn wurde. Und hier zeigte Rechtsanwalt Robertson nun wieder seine Liebenswürdigkeit und seine Begabung zum Wirt. Er schickte dem Sanatorium mehrere Paar Skier und Schlittschuhe zur freien Benutzung für die Gäste. In einem Schreiben, das mitfolgte und an einem Pfosten angeschlagen wurde, riet er scherzend, lieber die Skier als den Hals zu brechen. Das Schreiben war »Rupprecht« unterzeichnet.

Die kränklichen Gäste und Patienten, die nichts vornehmen konnten, fingen an, sich für die getroffenen Anstalten zu interessieren, die jüngsten und kühnsten beteiligten sich auch hin und wieder daran; nur die ältesten Damen konnten nicht mitmachen, sie konnten zur Not rodeln, da sie aber keine Kinder mehr waren, mußten ihre Rodel schon besser richtige Schlitten sein. Well, wir werden einen passenden Schlitten anschaffen! sagte Inspektor Svendsen.

Vorläufig reichte der Schnee noch nicht zum Skilaufen, aber es gab Eis zum Schlittschuhlaufen, Stahleis, fünf Frostnächte alt, nur an einer Stelle gefährlich: an dem Bach, der zu Daniels Alp hinabfloß.

Die Gäste mußten sich Überzeug für einen scharfen Winter verschaffen, einige zogen es vor, abzureisen. So wurde es noch öder im Schlosse und den beiden Dependancen. Der Selbstmörder hatte als der wohlhabende Mann, der er war, sowohl Mantel wie Ulster geschickt bekommen, da er aber nicht beide Kleidungsstücke brauchte, überließ er den Ulster Moß, der keinen Überzieher hatte.

Warum reisen Sie denn nicht ab? fragte der Selbstmörder.

Ich reise bald, antwortete Moß.

Keiner von ihnen reiste ab, und sie hatten vielleicht ihre Gründe: der Selbstmörder war wohl gekommen, um jedenfalls nicht zu Hause sein zu müssen, was sonst? Und konnte er da zurückkehren?

Sie gehen, um den Schlittschuhläufern zuzusehen, das ist jetzt ihre Beschäftigung. Seit Moß schwache Augen bekommen hat, geht er am Stock und tappt ein bißchen damit, begleitet aber treulich seinen Kameraden überallhin, selbst auf die Berge, ja sogar, wie jetzt, auf die Eisbahn.

Die Läufer waren, wie sich zeigte, der Schweizer und der Briefträger. Zuweilen nahmen sie eine Dame zwischen sich und segelten mit ihr los, später versuchten auch andere ihr Heil, eine jüngere Pastorswitwe oder ein Detaillist schraubte sich die Schlittschuhe an und wankte auf eigene Rechnung und Gefahr davon. Das Eis war erfüllt von kleinen Ausrufen, Kreischen, Fallen und Knallen.

Als der Selbstmörder und Anton Moß am Abend heimkehrten, begegneten sie Fräulein d'Espard. Sie hatte sich in alles Zeug gemummt, das sie besaß, trug ein Kleidungsstück über dem andern, aber die Beine kamen dabei zu kurz.

Die beiden Kameraden grüßten. Sie hatten etwas für diese Dame übrig seit dem Tage, als sie sie vor einigen Wochen in vornehme Gesellschaft zu Wein und Kuchen geladen hatte.

Es ist kalt auf dem Eise, sagt der Selbstmörder mit einem Blick auf ihre Ausstattung.

Ja, antwortete sie, ich habe gar keine Kleider, aber –

Moß knöpft den Ulster auf und beginnt sich herauszuschälen.

Was machen Sie? schreit sie.

Wollen Sie ihn nicht haben?

Nein. Was in aller Welt –! Nein, danke.

Ich gehe ja nach Hause, wendet er ein.

Das ist einerlei. Übrigens gehe ich selbst auch wieder nach Hause. Das tue ich gerade. Nein, es war dumm, ich hätte Winterzeug mitnehmen können, als ich in Kristiania war, aber ich dachte nicht daran. Jetzt habe ich um Mantel und Schneestrümpfe geschrieben.

Sie machen sich gemeinsam auf den Heimweg. Das Fräulein bekennt offen, daß sie mürrisch und schlechter Laune ist, es ist einsam, schwermütig in den Bergen geworden. Würden die Herren nicht abreisen?

Ach ja, sie wollten abreisen. Aber es sei nicht sicher, daß es anderswo besser sei.

Nein, sagt sie auch und ist mit ihnen einig. Und aus eigener Erfahrung fügt sie hinzu, daß es auch nichts helfe, schlechter Laune zu sein, deshalb würde es nicht lustiger. Nicht wahr?

Die Kameraden gehen davon aus, daß sie Herrn Fleming, den Grafen, vermißt, und verstehen, daß es schlimm für sie ist. Moß schlägt die Augen nieder und sagt, um sie zu erheitern: Der Teufel soll traurig sein!

Er sah aus, als hätte er die geringste Ursache, zufrieden zu sein. Fräulein d'Espard tat er leid, und sie stimmte ihm ihrer inneren Überzeugung zum Trotz bei: Da haben Sie wahrlich recht. Es hat keinen Zweck zu grübeln, in seinem Zimmer zu sitzen und seinen Gedanken nachzuhängen. Was für einen Sinn hat das?

Der Selbstmörder ist kritischer. Das kommt alles darauf an, entgegnet er. Durch lange und eingehende Überlegung kann man vielleicht einen freundlichen Abschluß finden. Ich weiß nicht.

Sie kamen heim. Die beiden waren nicht zu verachten, sie gaben sich nicht mit Biergeschwätz und Kurschneiderei ab, und es war etwas an ihnen. In den folgenden Tagen sah man Fräulein d'Espard häufiger mit ihnen zusammen. Gleich und gleich gesellt sich gern. Als sie ins Unglück geraten war, bedeuteten die beiden Kameraden ihr keine zu geringe Gesellschaft, eine gewisse Überlegenheit in ihrer Denkweise und ihr munteres Plaudern erheiterten sie, so daß sie zuweilen über sie lachen mußte. Solche Starrköpfe, obwohl doch auch sie, jeder auf seine Weise, vom Schicksal geschlagen waren. Der Selbstmörder war übrigens nicht mehr verrückt, alles andere eher. Der und verrückt? Keine Spur. Er konnte eine Frage gut durchdringen und mit aller logischen Vernunft darauf antworten. Anton Moß war stiller, er war verlegen, sympathisch, würde gut ausgesehen haben, wären die Wunden im Gesicht und seine zunehmende Blindheit nicht gewesen. Sonst fehlte ihm nichts. Teufelskerle, brave Burschen; sie spreizten sich ein bißchen mit ihren Witzen, ihrem Galgenhumor, aber das hielt sie oben. Nicht, daß sie sich über jedes Mißgeschick so einfach hinwegsetzen konnten – Gott behüte! Besaßen sie Kühnheit, konnten sie die Sorgen mit einem Säbel zerhauen? Konnten sie etwas kaufen, mieten oder stehlen, wenn sie es sich wünschten? Nein. Waren sie ganze Kerle, waren sie ihren Verhältnissen gewachsen? Freuten sie sich auf eine gespannte Situation, griffen sie ein und schlugen zu? Nein.

Nein, sie waren verkommene Burschen, jeder auf seine Weise, ja, sogar nächtlichen Schlaf und Essenslust mußten sie heucheln. Aber sie hatten gesegnete harte Schädel, und das gab ihnen die Kraft, ihr Schicksal still zu tragen.

Ein Zufall sollte das Fräulein sogar noch enger an die beiden Kameraden knüpfen.

Der Schulze kam, d. h. eigentlich der Gendarm, aber man nannte ihn überall den Schulzen. Es war der junge, der sich jetzt mit Daniels Mädel verheiratet hatte, und er kam wiederum ins Torahus-Sanatorium. Er trug ein Protokoll zum Einschreiben unter dem Arm, sprach mit der Wirtschafterin und dem Inspektor und wollte Näheres über Herrn Fleming wissen.

Die Wirtschafterin wußte nichts, der Inspektor wußte nichts, und was war übrigens mit Herrn Fleming los?

Es schien etwas mit ihm nicht in Ordnung zu sein, er war verhaftet.

Gott steh uns bei!

Und jetzt hatte der Schulze den Auftrag, dies und jenes von seinem letzten Aufenthalt – und das war das Torahus-Sanatorium – zu erforschen. Rechtsanwalt Robertson hatte seinerzeit mitgeteilt, daß hier noch zwei Koffer ständen, die Herrn Fleming gehörten, wo waren die?

Der Inspektor ging mit ihm auf den Boden und durchsuchte die Koffer. Es waren Kleidungsstücke, teure zum Teil, Seide, aber sonst nichts. Der Schulze schloß wieder ab, setzte sogar Siegel auf die Schlüssel, ließ sie aber daran hängen. Dann schrieb er ins Protokoll.

Indessen waren aber zwei Koffer mit Kleidungsstücken nichts gegen eine größere Geldsumme, die Herr Fleming in einer Bank in Finnland geliehen oder genommen haben sollte. Wo war das Geld?

Das wußten Wirtschafterin und Inspektor nicht. Der Doktor wurde geholt und wußte es auch nicht.

Hätte Herr Fleming nichts deponiert, einige fette Tausender in den Geldschrank des Sanatoriums gelegt?

Nein.

Der Schulze schrieb.

Der Doktor wurde als Arzt des zelebren Patienten näher ausgefragt. Nichts, gar nichts konnte der Doktor sagen, außer, daß der brustkranke Herr Fleming sich hin und wieder in der Besserung befand, aber unvorsichtig war, sich erkältete, Rückfälle hatte und sich mühselig neue Besserung erarbeiten mußte. Er war zuzeiten hypochondrisch, zu andern Zeiten wieder übermäßig hoffnungsvoll, beides; er trank ein bißchen Wein, aber diese Verschwendung machte in Geld nicht viel aus, was die Bücher des Sanatoriums beweisen konnten. Übrigens hatte der Doktor den Kranken während der letzten Erkältung nicht einmal gesprochen, Fräulein d'Espard hatte wie gewöhnlich bei ihm gesessen und ihn zuletzt gesehen.

Der Schulze schrieb. Als er fertig war, galt seine Frage Fräulein d'Espard.

Soll ich sie holen? fragte die Wirtschafterin.

Wohnt sie hier? Warten Sie! Dann ziehe ich es vor, direkt in ihr Zimmer gewiesen zu werden.

Fräulein d'Espard war offensichtlich überrascht, als ein Mann anklopfte und mit dem Protokoll unter dem Arm und dem Goldband um die Mütze eintrat; er nahm die Mütze auch erst ab, als sie ihre Wirkung getan hatte. Es dauerte einen Augenblick, dann erkannte sie ihn.

Entschuldigen Sie, Fräulein, ich komme, um zu erfahren, was Sie über Herrn Fleming wissen, der kürzlich hier wohnte. Ich bin von Amts wegen hier.

Herr Fleming – oh – ist er gestorben?

Nein, nein. Was täte das übrigens? Nein, es ist etwas anderes.

Fräulein d'Espard hat sich nicht immer in ganz sicheren Lagen befunden, sie ist mit der Zeit entschlossen und gewandt geworden und weiß sich wie ein Held zu fassen: sie sagt: Es ist immer unangenehm, wenn man von einem Todesfall hört, das meinte ich.

Sie haben den Mann ja gekannt, waren die letzte, die ihn sah, ehe er durchbrannte?

Ist er durchgebrannt?

Ehe er abreiste also. Wollen Sie meine Fragen beantworten?

Was heißt gekannt? sagt sie. Herr Fleming war ja oft krank, und dann saß ich bei ihm, insofern kannte ich ihn.

Mehr nicht, sonst nicht? Der Schulze schlägt im Protokoll nach und tut, als finde er etwas: Ich habe den Eindruck, daß Sie sozusagen immer mit ihm zusammen waren, ist es so? Das hat man mir gesagt.

Jetzt lächelte das Fräulein, sie ist ein wenig blaß, aber sie lächelt und sagt: Wie oft und wieviel ich mit ihm zusammen war? Ich glaube wohl, ich kann sagen: täglich, aber nicht den ganzen Tag, wir waren beide Kurgäste hier im Sanatorium, und wir sprachen miteinander.

Sie besaßen sein Vertrauen?

Wir sprachen miteinander. Ich bin ja mehr Französin als Norwegerin, und als gebildeter Mann sprach Herr Fleming französisch mit mir, erklärt sie.

So? sagt der Schulze. Das läßt ihn ein wenig stocken, imponiert ihm etwas. Französisch?

Das Fräulein zeigt rings auf ihre Bücher: Ich lese so gut wie ausschließlich französisch. Herr Fleming und ich sprachen miteinander über die Bücher, die wir lasen. Meinen Sie das mit Vertrauen?

Der Schulze verletzt: Ich bin es, der fragt, Fräulein. Ich bin hier, um einen Rapport aufzunehmen.

Das Fräulein: Ich werde antworten.

Danke. Die Sache ist also die, daß Herr Fleming verhaftet ist –

Was hat er denn getan?

Ja – Fälschung, Unterschlagung in einer Bank, oder was nun daraus wird. Es handelt sich um eine größere Summe. So steht es. Und nun möchte ich fragen: Sie sollten wohl nicht wissen, wo er dies Geld vergraben hat?

Ich? lacht das Fräulein laut und schallend. Haben Sie in seinen Taschen nachgesehen?

Der Schulze errötend und ärgerlich: Sie tun am besten, wenn Sie meine Frage beantworten!

Das Fräulein lacht immer noch, ohne Angst zu zeigen, ja, sie sagt lachend: Entschuldigen Sie, ich muß lachen. Das ist so komisch.

Aber jetzt muß ihre Lustigkeit in seinen Ohren unecht geklungen haben, er sammelt sich zu einem Vorstoß, einem Schlag, fragt plötzlich kurz und scharf: Wo ist das Geld?

Oh, sie trägt es ja auf der bloßen Brust, und die Tür ist verschlossen! Jawohl, sie hat das Geldpaket bei sich, es ist fast eins mit ihr geworden, hat sich ihrem Körper angeschmiegt, sich nach ihm geformt, hat dort mehrere Wochen warm gelegen. Fräulein d'Espard ist mutig wie ein Held, sie merkt wohl, daß sie sich auf Glatteis bewegt, aber sie räumt ihre Stellung nicht, nein, die Grobheit in der Frage des Schulzen hilft ihr, sie ist aufs tiefste gekränkt, und darüber darf er sich nicht wundern. So schleudert sie mit einer schnellen Wendung ihren Kofferschlüssel vor ihm auf den Tisch, springt auf und bricht aus: Bitte, durchsuchen Sie mein Zimmer und meinen Koffer, ich werde Sie nicht stören!

Und damit reißt sie die Tür auf und stürmt hinaus!

Sie stürmt den Gang hinunter, rettet sich die Treppe hinab, stürmt auf die Veranda hinaus. Dort sitzen der Selbstmörder und Anton Moß. Unterwegs hat sie die Druckknöpfe im Rücken aufgerissen und das große Kuvert hervorgeholt, jetzt streckt sie es ihnen in höchster Erregung entgegen und sagt: Der Gendarm ist hier, will das nehmen! Verstecken Sie's; es sind Briefe vom Grafen, von Herrn Fleming, nur Briefe –

Moß sitzt am nächsten und greift das Paket. Wenig sieht er zwar, aber er sieht doch, daß sie gejagt wird, die Bluse aufgerissen hat. Er hört die Angst in ihrer Stimme, überlegt nicht, sondern knöpft Ulster und Hemd auf, verbirgt das Paket und knöpft wieder zu.

Ah! haucht sie und wirft sich in einen Korbsessel.

Was ist los? fragt der Selbstmörder.

Weiß ich? Ja, es ist wegen Herrn Fleming, er soll Geld schuldig sein, hat Geld, das ihm nicht gehört, was weiß ich! Und jetzt verlangt er, der Gendarm, daß ich wissen soll, wo er dies Geld versteckt hat.

Hat er Sie visitiert? fragt der Selbstmörder ungläubig.

Ja. Das heißt, er wollte. Aber er bekommt das Paket, die Briefe nicht. Nicht wahr?

Nein! sagt Moß ungeheuer ruhig.

Auch der Selbstmörder fängt Feuer, er nimmt eine unüberwindliche Miene an und wendet sich an seinen Kameraden: Leihen Sie mir Ihren Stock, Moß! Ich will ihn für alle Fälle haben!

Kann ihn nicht entbehren, antwortet Moß. Zuerst ich.

Oh, danke, danke! weint und lacht das Fräulein. Ich will alles tun, was Sie von mir wollen. Sie war wohl schließlich vor ihrer eigenen Courage bange geworden; wohl ist man tüchtig, aber man hält nicht so lange aus, namentlich, wenn man schon im voraus durch Sorgen und Mißgeschick geschwächt ist. Nein, im Grunde ist man ein Vögelchen, das sich im Gebüsch versteckt.

Und jetzt hat sie Schutz gefunden bei zwei Patienten, zwei Armen, die selbst verkommen genug sind. Sie sitzen hier, weil es einerlei ist, was sie machen, sie leben ungefragt Tag und Nacht.

Der Selbstmörder ist einen Augenblick kriegerisch. Wo ist der Kerl? fragt er.

Das Fräulein weint und lacht wieder aus Dankbarkeit für diese unbändige Kraft, die die Polizei einen Kerl nennt, und sie erklärt: Er ist in meinem Zimmer. Ich bat ihn, nur ruhig das Zimmer und meinen Koffer zu untersuchen, ich gab ihm den Schlüssel.

Die Kameraden finden sie großartig, famos, so geschähe es dem Kerl recht! Sie sprechen es nicht aus, aber sie nicken. Als der Selbstmörder das Wort ergreift, tut er es, um seine Bedenken dagegen auszudrücken, daß man einen wildfremden Menschen allein in ihrem Zimmer mit dem unverschlossenen Koffer läßt. Ich glaube, ich gehe hinauf! sagt er und erhebt sich.

Das Fräulein faßt ihn am Arm und bittet ihn, es zu lassen: Er findet nichts, es ist nichts da. Nein, um Gottes willen! Aber sie kann es nicht lassen, sie muß wieder lachen, wieder ein wenig schluchzen vor Entzücken über den prachtvollen Einfall des Selbstmörders, die Polizei, die Polizei selbst zu verdächtigen. Allmählich legt sich ihre Erregung, und ihre Nerven kommen zur Ruhe. Sie lehnt sich in das Kissen zurück, um ihre aufgeknöpfte Bluse zu verdecken. Die Kameraden meinen, daß sie schrecklich friert, sie sollte hineingehen, aber nein, nein, sagt sie, jetzt will sie sitzen bleiben, bis der Mann kommt, sie will wissen, daß er fort ist, sie friert nicht! Wieder famos, sie hatte ein reines Gewissen, sie floh nicht.

Der Schulze kam. Er war friedlich und zahm, sein Schlag war ins Wasser gefallen. Sie haben mich mißverstanden, Sie hätten nicht gehen sollen, Fräulein, sagt er.

Das Fräulein sieht ihn an und schweigt.

Ich habe natürlich nicht nachgesucht bei Ihnen, Ihr Kofferschlüssel liegt noch da, wo Sie ihn hingelegt haben. Ich habe nur Ihre Erklärung zu Protokoll genommen.

Das Fräulein schweigt. Aber sie fürchtet sehr, daß ihre Freunde sprechen, daß Anton Moß sich auf die Brusttasche schlagen und sagen soll: Hier sind die Briefe des Grafen an das Fräulein, kommen Sie nur und holen Sie sich's!

Der Selbstmörder bricht das Schweigen, er sagt: Es scheint gefährlich zu sein, mit Graf Fleming unter einem Dache gewohnt und mit ihm gesprochen zu haben.

Der Schulze aus der Fassung gebracht: So? Wie?

Ich bin einer von denen, die mit ihm gesprochen haben.

Ich auch, sagt Moß, ohne aufzublicken.

Das Fräulein ängstlich: Nein, nicht! lassen Sie's!

Der Schulze fragt: Sie sagen Graf, war er Graf?

Wissen Sie das nicht mal! fragt der Selbstmörder seinerseits und scheint noch nie einer solchen Unwissenheit begegnet zu sein.

Ob nun der Schulze an den Grafen glaubt oder nicht, jedenfalls merkt er, daß er vor einer feindlich gesinnten Gesellschaft steht, und so sagt er abschließend: Nun, ich habe meinen Auftrag hier erledigt! Worauf er sich verbeugt und die Hand an die goldbebänderte Mütze führt. Dann geht er.

Sein Abgang war ja hübsch, und das versöhnte die Gesellschaft sehr mit ihm. Dazu kam, daß der Mann sich seine Sporen verdienen sollte – das wußte Fräulein d'Espard von Daniel. Er sollte selbst versuchen, ein Amt zu bekommen, Schulze zu werden und seine Frau Helena zu etwas Feinem zu machen. Alles hatte seinen Zusammenhang.

Als Moß das dicke Paket wieder ablieferte, sagte er scherzend mit zu Boden geschlagenen Augen: Kommen Sie jederzeit damit wieder; ich habe nichts dagegen, es zu tragen, dann habe ich das Gefühl, etwas in der Tasche zu haben, etwas zu besitzen! Und dabei lächelte er mit seinem traurigen Munde.

Dies Lächeln – es wirkte auf Fräulein d'Espard durch seine außerordentliche Verkommenheit. Sie war von den vielen vorausgegangenen Gemütsbewegungen ganz aufgelöst und hätte sich in diesem Augenblick dem hautkranken Manne an die Brust werfen und ihn streicheln können. Was kann ich für die Herren nun zum Dank tun? fragte sie. Aber da sie nicht gerade Kavaliere waren, verstanden sie nicht, so ungeheuer fein darauf zu antworten, sondern wiesen es nur von sich als ein Nichts, ja, Moß murmelte sogar in seiner Unbeholfenheit: Wir sind es, die zu danken haben!

Später trafen sich das Fräulein und die Kameraden zu manch guter Unterhaltung. Anziehungskraft für Herren besaß sie ja, und die Herren ihrerseits erheiterten sie, ohne es zu wissen. Sie wollte ein wenig über Anton Moß' Wunden im Gesicht hören, aber er ging nicht darauf ein, schob es von sich. Sie hätte alle möglichen Heilmittel an ihm versuchen mögen, aber er wich aus.

Tag auf Tag vergeht, die Kameraden erheitern sie, jawohl, aber die Tage verstreichen eben, fliegen, und sie hat jetzt nicht Tage genug. Sie findet sich rat- und ruhelos in Gesellschaft der beiden Patienten im Rauchzimmer ein und hört zu, wie sie sich streiten und gegenseitig des Unmöglichsten beschuldigen. Sie hatten Übung erlangt, waren unglaublich anzüglich gegeneinander, und nie hatte das Fräulein so schlimmen Zank im Scherz gehört. War es Scherz?

So kann Moß den Selbstmörder ohne weiteres laut verspotten, weil er noch lebendig herumläuft. Sie wagen es natürlich nicht, sagt er.

Warten Sie nur, bis ich meinen Geist angestrengt habe, antwortet der Selbstmörder. Ich werde versuchen, Ihnen alles zu erklären.

Fräulein d'Espard sitzt rot vor Verlegenheit da. Was wird nun kommen?

Moß fährt unbeirrt fort: Die Sache ist, daß Sie noch nicht einmal entdeckt haben, wie unnötig und überflüssig Sie auf Erden sind.

Das hat sicher gesessen; der Selbstmörder sagt: Glauben Sie ihm nicht, gnädiges Fräulein, das ist es nicht. Es ist etwas anderes. Ich kann plötzlich nicht einsehen, warum ich aus reinem Eigensinn das Leben verlassen soll.

Nein, sagt das Fräulein auch. Und sie versteht nicht, warum Moß so grob ist.

Ach so, Sie wollen nur nicht eigensinnig sein. Nein, Sie wagen es nicht!

Schweigen.

Moß foppt ihn noch weiter und stellt es als verlockend und hübsch dar: Wenn er es heute nacht täte, so würde er morgen im Himmel mit einer Harfe zwischen den Knien erwachen.

Daß man so etwas sagen konnte, war Fräulein d'Espard ein Rätsel. Aus was für Stoff war dieser Selbstmörder gemacht, daß er nicht wieder schlug! Er saß ganz ruhig da und lachte leicht, seine Geduld erschien ihr denn doch zu groß.

Aber dies war nur der erste Akt, und jetzt kam der Selbstmörder an die Reihe. Ach, der klägliche Anton Moß, er ladet ja nur allzusehr zu Bosheiten ein.

Sollte man glauben, daß ein Blinder soviel Galle in sich hätte! sagt der Selbstmörder.

Ich bin nicht blind, protestiert Moß.

Sie können nicht lesen.

Nicht lesen? Moß steht auf und will eine Zeitung vom Tisch holen, um seine guten Augen zu zeigen, stößt aber gegen einen Stuhl, der umfällt.

Der Selbstmörder hebt den Stuhl auf und sagt: Ich schlage Ihnen vor, daß wir auf den Hof hinausgehen, um die Möbel hier zu schonen.

Das Fräulein greift wieder ein: Der Ärmste, er hat den Stuhl wohl nicht gesehen!

Nein, aber lesen kann ich, behauptet Moß. Was ist das für ein Unsinn!

Sehen Sie! ruft der Selbstmörder aus, jetzt haben Sie sich den gräßlichen Lappen vom Finger gerissen. Da liegt er. Nein, setzen Sie sich, Mann, ich werde ihn aufheben, Sie sehen nicht. So, wickeln Sie ihn sich wieder um den Finger! Alles muß man Ihnen sagen, Sie sind wie ein Kind, ich ekele mich vor Ihnen. Und dann gehen Sie mit dem Finger an der Hand, gerade als sei er Ihre Liebste. Schneiden Sie ihn sich mit einer Schere ab!

Hahaha! sagt Moß.

Alles in allem war das Verhältnis zwischen diesen beiden Männern wohl recht verzwickt. Sie schienen sich zu streiten, um nicht zusammenzubrechen. Das war allmählich wie auf Verabredung so gekommen. Der eine hatte seelische Leiden, dem andern stak die Krankheit im Körper, eine Hautkrankheit. Sie hatten beide nichts von ihrer Jugend. Und wie sie sich streiten konnten! Der Selbstmörder schalt den andern seines Aussehens wegen und begann mit der Kleidung: Ihr Hemd ist gelb und rot auf dem Rücken geworden, es ist nicht mehr einfarbig zu nennen. Mit Ihrem scharfen Blick müßten Sie das doch entdeckt haben.

Sie können nichts als schimpfen, antwortet Moß. Sie stecken voll von Lebensüberdruß, nichts ist Ihnen recht. Es gehört große Selbstüberhebung dazu, um alle andern zu beschimpfen.

Der Selbstmörder mit blutigem Hohn: Ja, aber lieber Freund, Sie sind doch gefährlich anzusehen! Finden Sie nicht auch, Fräulein d'Espard?

Das Fräulein entsetzt: Nein, aber hören Sie – alle beide –

Der Selbstmörder direkt zu Moß: Wie wäre es, wenn Sie versuchten, sich zu pudern? Aber dazu sind Sie vielleicht zu religiös?

Hahaha! sagt Moß.

Jetzt muß das Fräulein auch lächeln, aber sie schlägt gleichzeitig die Hände zusammen und ruft aus: Lieber Gott, sind Sie verrückt –!

Sie zankten sich immer weiter, hörten eine Weile auf und begannen wieder. Natürlich waren sie unglücklich, waren schwer und tief vom Schicksal getroffen, es kam nicht ein einziger milder Scherz aus ihrem Munde, sie lächelten nicht einmal ehrlich. Sie klammerten sich wohl an ihre Bitterkeit, um nicht zu jammern, knirschten mit den Zähnen, um nicht in Tränen auszubrechen.

Eigentümlich war, daß der Selbstmörder sich oft direkt an das Fräulein wandte und sie in die Unterhaltung zu ziehen versuchte, während Moß sich diese Freiheit nie erlaubte. Er saß da, sah vor sich nieder und ließ das fürchterliche Gesicht tief hängen.

Zuweilen konnten die drei jedoch miteinander reden, als wäre alles in schönster Ordnung, jeder vergaß sein Mißgeschick für eine Weile und antwortete ohne Bosheit. Diese Augenblicke waren nicht ohne Bedeutung für Fräulein d'Espard; auch sie hatte sich ja verändert. Die Schickungen hatten sie wortkarger gemacht, sie hatte begonnen, ernster zu denken: wie schnell war alles doch gekommen: zum Beispiel mit Herrn Fleming. Noch vor kurzem hier mit der Achtung aller anderen, Brillantring, seidenem Unterzeug, ein Graf, ein freier Mann – jetzt im Gefängnis! Und sie selbst, Julie d'Espard: einen Augenblick aus ihrer Armut gehoben, um im nächsten in einen weit tieferen Abgrund gestürzt zu werden! Was sollte sie tun! Ihrer Schenkungsurkunde und ihres Reichtums wegen wie auf Kohlen gehen und gleichzeitig von einem heimlichen Weh gepeinigt werden, das sie kaum sich selber anzuvertrauen wagte? Als ihre eigene Bedrängnis so ernst wurde, dachte sie nur noch hin und wieder an Herrn Fleming, er entglitt ihr immer mehr. Er tat ihr leid; sie wünschte ihm, daß er der Strafe entränne oder die Kräfte hätte, sie zu überstehen, aber sie opferte ihm keine Treue und Zärtlichkeit mehr. Das konnte keinen wundern. Sie war durchaus nicht herzlos, aber ebensowenig war sie in dieser Zeit zur Liebe aufgelegt. Der Selbstmörder und sein Freund waren gute Gesellschaft für sie.

Sie konnten zusammensitzen und über Schule und Unterricht sprechen, und das Fräulein erwähnte Schuldirektor Oliver. Der Selbstmörder schnitt eine Grimasse.

Anton Moß sagte: Er hatte zwei prächtige Jungen.

Ja, aber der Direktor selbst? fragte sie.

Den Mann hat Gott im Zorn erschaffen, warf der Selbstmörder ein.

Und von jetzt an sprachen sie fast nur über ihn. Jetzt hätte nur Holzhändler Bertelsen dabei sein müssen, der so versessen darauf gewesen war, den Anfall eines Verrückten zu sehen. Er hätte allerlei zwischen Himmel und Erde zu hören bekommen, vielleicht ganz einleuchtende Dinge, vielleicht auch ungewohnte und zweifelhafte, etwas von allem, Tollheit und Vernunft. Schuldirektor Oliver war ein Mann, der ganze Wörterbücher im Kopfe hatte, und aus diesem Chaos war ein hilfloser Mensch geboren: wo ist seine Amme, wo seine Milchflasche? Ein Verirrter, der glaubte, sich durch Bücher zum Menschen entwickeln zu können – was wird aus dem Charakter, was aus der Persönlichkeit? Wie kann man nicht einen Papagei abrichten, was kann ein Mensch sich nicht aus Büchern eintrichtern! Aber er wird nur ein Kastenmensch, wie Schuldirektor Oliver einer von der Kaste der Philologen. Er kann »Sprachen« und sonst nichts.

Hierdurch fühlte sich das Fräulein nun ein wenig persönlich getroffen, und sie wandte vom allgemeinen Gymnasialstandpunkt aus ein: Aber Sprachen sind doch nicht das schlechteste, ich wünschte nur, ich könnte mehr.

Warum? Wozu? fragte er.

Warum? Ja, wozu lernt man Sprachen? Doch wohl, um seinen Geist zu entwickeln, um die Literatur des Auslandes zu verfolgen, um ein gebildeter Mensch zu werden.

Ich komme nicht einmal dazu, unsere eigene Literatur zu verfolgen, sagt er.

Nun ja, unsere eigene! antwortet sie wie gewöhnlich.

Er wird plötzlich eifrig und unangenehm, streitbar, als wäre seine Sache zu gut, um sie zu vertändeln: Sprachen, Bücher fremder Völker – was in aller Welt! Wir haben in den nordischen Sprachen eine Million Bände, die wir überspringen, um zu den »ausländischen« zu kommen. Ob unsere nicht ebenso gut sind? Wie, wenn sie nun um einiges besser wären! Vor allem könnte man sie sich doch leichter aneignen. Und die intellektuelle Entwicklung, die das Ergebnis des Sprachstudiums sein sollte – sehen Sie sich den Philologen, den Schuldirektor an: ganz gewöhnlicher Typ? nicht im geringsten verschieden von den meisten andern, also nicht gerade schlimmer, was ja auch eigentlich nicht der Sinn ist; aber inwiefern ist er besser? Höherer Flug, zarteres Innenleben? Ist er stiller im Unglück, glücklicher, sternäugiger? Ach, was kann man von ihm erwarten? Sein Inneres ist ja nur von Gerumpel erfüllt, von Worten, Worten und nichts als Worten.

Aber was sagen Sie da!

Es ist nicht zu fassen, nein, wenn man hört, wie die große Menge ihn schätzt. Die Menschen werden ja auf diese unglaubliche Gestalt aufmerksam. Er hat sich den Kopf mit Wörterbüchern vollgepfropft, hat seine Blödheit konsolidiert, und da rufen die Menschen ihm ihren Beifall zu: Versuche, noch ein paar Wörterbücher mehr zu verdauen, nur noch zwei oder drei, so, bravo, wir bezahlen dafür! Und alles das geschieht, damit er einen Laden aufmachen kann und die Schüler, Kinder von Menschen, mit seinem Trödelkram versorgt.

Was ist denn Ihre Meinung? Soll es keine Sprachlehrer geben? Sollen keine Sprachen in den Schulen gelehrt werden?

Vielleicht nicht, vielleicht gar nicht, was meinen Sie? Wie, wenn man bei den »Sprachen« mehr zusetzte als gewönne? Das Leben ist so kurz, daß man keine Zeit zum Papageien hat. Sprachen lernen sollen nur die besonders Berufenen, die es nicht weiter bringen können, als sich zu Spezialisten, zu Übersetzern, Dolmetschern, Dragomanen auszubilden, nicht aber die gewöhnlichen Sterblichen, weder Sie, noch er, noch ich. Natürlich muß man die großen Sprachgenies, die Entdecker, ausnehmen. Die Rede ist von uns, den nickenden Automaten. Wir haben ja schon angefangen, an dem Nutzen zu zweifeln, daß jedermann Klavierspielen lernen muß, aber wir unterschätzen deshalb doch nicht den Musiker von Gottes besonderen Gnaden. Nicht wahr?

Aber was wird aus den Schulen, wenn man ihnen die Sprachen nimmt?

Ja, da haben Sie recht: was wird dann aus der Sklaverei? Einige gleichgültige Jahreszahlen von Königen und Kriegen, einige Erfindungen im Turnen statt nützlicher Arbeit, ein Narrenspiel mit Mathematik für zwölfjährige Kinderhirne – es bleibt noch genug. Was ist Schule? Schule ist der tägliche Unterricht einer Mutter, die tägliche Lehre eines Vaters; Bücherschule dagegen ist etwas Ausgeklügeltes, eine Einrichtung, die das Leben absichtlich kompliziert und dem Menschen das Leben vom sechsten Jahre bis zum Tode erschwert. Das Buch, das gedruckte Wort für all und jeden erfüllt ja die Welt mit Unzufriedenheit und Unglück, mit quantitativer Bildung, Zivilisation.

Ist es nicht doch ganz hübsch, daß alle Menschen sonst – ich meine, daß alle zu dem aufsehen, der etwas gelernt hat, und namentlich zu dem, der am meisten gelernt hat, dem Gelehrten? –

Sie meinen, ob mich das nicht mißtrauisch macht? O nein. Wir sehen ja auf zu Gott weiß wem, zum Sieger im Wettrennen, zum König des Tages im Skilauf – in beiden Fällen mischt sich in meine Achtung das Mitleid mit dem Tiere. Wir stehen auf und geben unsern Stuhl einem Lahmen, wir lauschen geduldig, bis ein Stotterer seine Nichtigkeiten herausgehackt hat, wir öffnen einer Dame die Tür, als ob sie selbst keine Hände hätte –

Er hält inne.

Ja und? fragt das Fräulein.

Ich meine nur, antwortet er. Es war einmal ein Flötenspieler, ein Virtuose. Er endete damit, daß er die Noten unters Pult warf und mit seiner Flöte Seifenblasen machte. Auch das meine ich nur.

Dann ist sein Mechanismus abgelaufen. Beide schweigen.

Moß bricht die Stille. Sie sind in Ekstase! sagt er.

Der Selbstmörder sieht ihn an und blinzelt gedankenvoll mit den Augen.

Es war einfach ergreifend, Ihnen zuzuhören, zuweilen klang es direkt wie Verse, sagte Moß.

Das Fräulein lächelte wieder ein wenig, aber da der Selbstmörder auch jetzt nicht zu hören schien, versuchte Moß nicht mehr mit ihm zu sprechen. Er erhob sich, sah eine Weile zum Fenster hinaus, dann ging er.

Die zwei blieben sitzen. Es begann zu dämmern.

Es war, als wäre jetzt, da sie allein geblieben waren, eine Veränderung eingetreten. Die Dame mit der Anziehungskraft für Herren legte den Kopf schief und begann über das, was er gesagt hatte, nachzudenken, jedenfalls tat sie, als ob sie überlegte. Geradezu verrückt war dieser Mann nicht, und das war doch schon etwas. Aus verschiedenen Anzeichen hatte sie auch den Schluß gezogen, daß er sich notwendige Dinge nicht versagte, sondern kaufte, was er brauchte – was konnte also mit ihm sein? Hatte er ein Geschäft in der Stadt oder lebte er von seinen Zinsen? Vor allem aber: was war ihm in Stücke gegangen? Sie hatte selbst Interesse daran, zu erfahren, wie ein Unglücklicher den Gedanken an Selbstmord aufgeben konnte.

Sie ließ sich so weit herab, daß sie ihn um Verzeihung bat, weil sie ihn mit ihren dummen Einwänden gequält hatte, sie verstände nichts davon, hätte wirklich nicht gemeint –

Nein, nein, nein, er müsse sich entschuldigen! Du lieber Gott, wollte sie sich über ihn lustig machen! Ich habe so oft darüber nachgedacht, weshalb Sie eigentlich hier sind, sagt sie resolut in ihrem nachlässigen Ton.

Weshalb ich hier bin – wie?

Jedenfalls, warum Sie so lange hier sind. Sie sind nicht krank, Ihnen fehlt nichts, die Ferien sind längst vorbei. Entschuldigen Sie, ich will nicht neugierig sein.

Ich könnte wohl meine Gründe haben.

Ja, natürlich.

Warum sind Sie selbst hier?

Sie wirft sich plötzlich auf dem Stuhl vornüber und läßt den ganzen Oberkörper hängen: Ach Gott, ach Gott – ja, Sie haben recht, ich hätte nicht fragen sollen!

Doch, doch, das täte nichts, sagt er erschrocken. Das heißt, ich hätte nicht fragen sollen. Kümmern Sie sich nicht darum!

Ich dachte nämlich – ich hoffte, daß Sie, tüchtig und kraftvoll wie Sie sind, daß Sie mir einen Weg zeigen könnten. Ja. Daß Sie Rat wüßten. Ich kann es nicht sagen. Sie haben mir schon einmal geholfen.

Er merkte, daß sie einen Besuch des Schulzen und ein gewisses Briefpaket meinte, und zog weiter den Schluß, daß es Liebeskummer und nichts anderes sei, was sie quälte.

Wir dürfen wirklich nicht den Mut verlieren, Fräulein d'Espard! sagt er tröstend. Das dürfen wir nicht. Begegnen wir unserm Schicksal, so können wir nichts tun, als beiseite zu treten.

Nein. Aber es ist so schlimm.

Ja, wir treten mehr oder weniger höflich beiseite, aber beiseite müssen wir. Es kommt übrigens darauf an, ob das Ganze wert ist, daß man es so schwer nimmt. Für manchen wird es schnell wieder gut.

Für mich nicht, für mich wird es nur immer schlimmer.

Aber nein! – Und um sie aufzuheitern, fühlt er sich genötigt, sich selbst ein wenig zu entschleiern: da sollte sie erst etwas sehen, das war ein Schicksal, das es in sich hatte! Was bedeutete es, wenn ein Graf wegreiste und vielleicht sogar nur für kurze Zeit, ja, und daß er sich in irgendwelche Geldsachen hineingerudert und ein paar kleine Rechnungen nicht genau auf den Tag beglichen hatte! War nicht sein bloßer Name gut genug, würde die steinreiche Familie nicht einschreiten und mußten sich die Gläubiger dann nicht schämen! ... Oh, anderen ging es schlimmer!

Geht es Ihnen auch schlecht?

O ja – nicht gerade allzugut, aber ...

Und diese unglückliche kleine Dame bringt es dahin, daß der Selbstmörder über sein eigenes Elend gerührt wird und daß seine Lippen beben. Er macht Andeutungen, die unter andern Umständen seinem Munde nicht entschlüpft wären, ihre Teilnahme spielt ihm einen Streich: sie macht ihn weich, und er hat Mühe, seine Tränen zurückzuhalten. Dies Teufelsmädel, es erschüttert die Festigkeit, die er sich mühsam im Zusammensein mit Moß erarbeitet hat.

Hatte Fräulein d'Espard ihrerseits irgendeine geheime Absicht damit, daß sie hier sitzenblieb und ihn anhörte? Gott weiß, aber sie war sehr bedrückt, sehr ratlos, so daß vieles zu ihrer Entschuldigung sprach.

Als sie ihn fragt, ob er kein Heim, nicht Frau und Kinder hat, leugnet er es brüsk und antwortet, das sei eine merkwürdige Vorstellung, was sie eigentlich denke, wie ihr so etwas einfallen könne?

Nein, sie fragte nur, es sei dumm.

Er reagiert: Nein, nicht gerade dumm, das wollte er nicht sagen, durchaus nicht –

Doch, sie müßte ja begreifen, daß ein Mann, der sich so lange hier in den Bergen aufhielt, dort, wo er herkam, keine Lieben hinterlassen hätte.

Aber nein, hören Sie – was sollte dem eigentlich im Wege stehen? protestiert er auf einmal heftig. Was wüßten wir Menschen voneinander, könnte er nicht Frau und Kinder zu Hause gelassen haben? Er wollte sogar so weit gehen und sagen, daß gerade das vielleicht der Grund sein könnte, wenn ein armer Kerl in die Berge floh. Ja, ich spreche nicht von mir, beeilte er sich zu sagen, sondern von irgend jemand. Ich setze nur den Fall.

Wirklich: sie machte ihn immer offenherziger. Er achtete ja die ganze Zeit darauf, daß er von allen andern, nur nicht von sich selber sprach, und meinte wohl sich gut zu verstecken, aber er setzte ihr auseinander, warum ein Mensch in die Berge fliehen konnte: Es mochte ihm geschehen – das heißt natürlich irgend jemand sonst – daß der Teufel ins Haus kam und meinetwegen in eine verheiratete Frau fuhr, was geschah dann? Das Kind liegt vergessen da, das ganze Haus ist von Gott verlassen, die Frau kommt überhaupt nicht mehr heim. Man kann es ihr vielleicht nicht zur Last legen, sie könnte ja auch ihre Gründe haben. Vielleicht sei sie eine unlenkbare Natur zum Beispiel, oder sie sei unrettbar verliebt, so etwas habe man ja schon gehört; aber das Kind liegt da und kann dazu hübsch und reizend sein. Ist es ein kleines Mädchen, so hat es vielleicht schon Haar und alles, das ist nichts Ungewöhnliches. Nun, so etwas kann einem oft geschehen, es geht einen Winter meinetwegen, dann kann der Mann nicht mehr, dann läuft er davon. Sehen Sie! Geht zu Schiff nach Australien – in die Berge flieht niemand deswegen. Na ja, wenn der Mann nun ein beschränkter, einfacher und nicht sehr aufgeweckter Mensch ist, dann kann er das Gleichgewicht verlieren, es kann ihm einfallen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen, um die Qual kurz zu machen. Das beschäftigt ihn vielleicht, wenn er nach Australien geht. Schön, mag er sich die Pistole kaufen! Die Pistole? Die kann längst gekauft sein, kann geölt, geputzt und geladen in seinem Gewahrsam ruhen. Warum er sie nicht gebraucht? Sehen Sie, Fräulein d'Espard, der Mann kann Mensch sein, wir sind alle Menschen, der Mann kann sogar noch irgendwie im Leben wurzeln, er kann auch verliebt sein, trotz allem, und die Angst, daß das Kind umkommt, kann ihn zerfleischt haben, muß er da nicht leben, um es zu retten? Da irrt er umher ...

Der Selbstmörder sagt, um sich zu decken: Von alledem habe ich gehört, ich selbst kann mich kaum dahinein versetzen. Das Kind jedenfalls – was in aller Welt kann das bedeuten! Ich habe nie gehört, daß ein Mann sich etwas aus neugeborenen kleinen Mädchen gemacht hätte. Und hätte ich solch ein Wesen, wie sollte ich es nennen, welchen Namen sollte ich ihm geben? Nein, ich bedanke mich! sagt er mit unnötiger Härte –

Moß steht in der Tür.

Moß sieht nicht, aber er hat ein feines Gehör und Gefühl. Der klägliche Selbstmörder, er mochte lange nach Teilnahme geschmachtet haben, und als er sie fand, geriet er in Auflösung. Darauf nimmt Moß keine Rücksicht, er sagt: Entschuldigen Sie, wenn ich die schönen Tränen störe!

Tränen? antwortet der Selbstmörder und beginnt zu lachen. Sie haben wirklich besonders scharfe Augen! Oh, aber der Selbstmörder war nicht sehr sicher, er mußte, wenn er sich mit seinem Kameraden unter vier Augen befand, auf besonderen Hohn gefaßt sein, und deshalb sagt er: Wenn ich jetzt klingele und Ihnen ein volles Glas vorsetzen lasse, dann soll es mich wundern, was geschehen wird! Darf ich Ihnen nichts anbieten, gnädiges Fräulein?

Nein, ich danke. Vielen Dank!

Nein, Fräulein d'Espard hat wirklich keinen Sinn für die Sorgen anderer Leute, sie hat ihre eigenen. Sie landet wieder in ihrem Zimmer, liegt ein bißchen auf dem Bett, liest ein wenig in einem Buche, findet keine Ruhe, brütet, seufzt und fühlt sich schlecht. Der Selbstmörder war auch nichts für sie gewesen, er war versagt, war verheiratet, ja, verliebt, der Glückliche! Sie denkt daran, eine neue hoffnungslose Reise nach Kristiania zu machen, weshalb, wußte sie nicht, aber was sollte sie hier herumlaufen! Einen Trost hat sie noch in ihrer Verlassenheit: das Geldpaket, das sie auf der Brust trägt. Das festigt sie, ermöglicht es ihr, sich zu erheben, wenn die Glocke zum Essen läutet, hinunterzugehen und zu speisen, den Abend zu überstehen – und dann kommt die Nacht.

Ein Mädchen hakt ihr immer die Bluse auf dem Rücken zu, sie kommt morgens und erledigt die kleine Arbeit in aller Eile. Ihre Finger sind kalt, sie zieht und zerrt an der Bluse, als wüßte sie etwas von dem Fräulein: sie äße gewiß zuviel, daß sie so stark würde. Das ist nun durchaus nicht wahr, aber das Mädchen hat es schmunzelnd ein paarmal angedeutet: sei es wirklich möglich, daß man stark würde, von rohen Erbsen und Brathering auf Keks?

Der vorlaute Fratz! Das Fräulein kann noch auf mehr von ihr gefaßt sein, und um ihr zuvorzukommen, sagt sie: Uff, ich habe so gräßliche Träume nachts!

Das kann ich merken, antwortet das Mädchen, Sie jammern ja und reden laut.

Das hat nichts zu sagen.

Das Mädchen schweigt.

Man schwatzt soviel Unsinn, wenn man schlecht träumt, man kann Namen und Zahlen und Geldsummen und alles mögliche sagen. Aber wissen Sie, es hat nichts zu bedeuten.

Das Mädchen schweigt. Was will sie, erwartet sie Bezahlung, um ihr zuzustimmen?

Als das Mädchen gegangen ist, reißt das Fräulein das Fenster auf und sieht hinaus: es schneit in der Welt, auf dem Felde häuft es sich, der Wald wird überpudert, ein Berg gerade an der Grenze des Sanatoriums sinkt immer mehr in sich zusammen, es ist der »Fels«. Aber es ist nicht überall eine stille, verlorene Welt aus Schnee, man hört Knallen in der tragenden Luft, jemand schießt auf den Matten. Erst ein Schuß, dann noch einer, es ist wohl Daniel, der Schneehühner fürs Sanatorium schießt. Daniel ist auf der Jagd, Daniel ist frisch und gesund und hat seinen Liebesgram überwunden. Ihr fallen zwei Büchsen an seiner Wand ein.

Das Fräulein geht hinunter – hinunter zu den andern Gästen und zu einem neuen Tage. Es ist schlimm, in ihrer Haut zu stecken.

Oh, aber heute kommt ihr endlich doch plötzlich der einfache, naheliegende Gedanke, und es ist ihr ein Rätsel, daß sie nicht früher darauf verfallen ist: nach einer Anzeige in einem Blatt, das hier vor ihren Augen liegt, will sie an einen stillen Ort zu einer freundlichen Dame, einer kundigen Dame, drei Stunden von der Hauptstadt, reisen. Was haben ihre Schwierigkeiten zu sagen, jetzt ist ihr geholfen, ja, sie ist vollkommen gerettet! Sie hat die Mittel zu diesem Ausflug, sie hat auch Zeit genug, hat keine Eile mehr, sie kann vor oder nach Weihnachten reisen. Vollkommen gerettet!

Nach der langen Zeit in Finsternis und Verzweiflung durchfahren sie jetzt Freudenschauer, sie ist wieder jung und kann lachen. Vor dem Schicksal beiseite treten? Was für eine dumme, haltlose Lehre! Sie packt das Schicksal am Kragen und beugt es!

Geben Sie mir eine Tube Vaselin, sagt sie zum Doktor.

Was wollen Sie damit? fragt er, um sie ein bißchen zu necken. Das ist gefährlich, sagt er.

Und sie antwortet schlagfertig: Ich will sie mir auf Flachbrot streichen.

Das bringen Sie schon fertig, sagt er, Sie essen ja Brathering auf Keks.

Und morgen will ich Tomaten auf Birkenspänen haben.

Sie lachen beide unbändig über diesen verflixten Einfall. Der Doktor hat jetzt tagsüber nicht viel zu tun, es sind nur noch wenig Patienten da, er ist dankbar für eine gute Unterhaltung und sagt: Nehmen Sie Platz, Fräulein d'Espard!

Hab' keine Zeit. Gleich darauf: Was hat Herr Moß eigentlich im Gesicht?

Moß? Ja, er reist bald ab.

Aber was fehlt ihm, frage ich.

Der Doktor beginnt unter einigen Papieren auf dem Tische zu kramen und antwortet: Hautatrophie. Nein, gehen Sie schon?

Können Sie ihn nicht heilen?

Warum fragen Sie? Moß reist bald ab.

Fräulein d'Espard geht in ihr Zimmer und gebraucht Vaselin. Sie schmiert sie sich ins Gesicht und beginnt sich zu massieren. Es ist eine Schande, wie sie ihr Gesicht in den letzten Wochen vernachlässigt hat, es ist schlaff von ausgestandenen Leiden und voll von unbekannten Fältchen. Ein solcher Verfall! Das muß jetzt anders werden. Nach der Reise zu der freundlichen Dame in der Anzeige muß sie wieder gut aussehen, um mitspielen zu können. Von jetzt an gedenkt sie täglich ihr Gesicht zu bearbeiten. – Herein!

Es ist wieder das Mädchen.

Das Fräulein sieht sie verwundert an und sagt: Sie haben mir ja schon die Bluse zugehakt?

Das Mädchen: Ja, ich will nur sagen, daß ich fortgehe. Ich wollte es heute morgen nicht sagen, aber ich bleibe nicht länger hier.

Nein?

Ich dachte, Ihnen würde mit meiner Hilfe gedient sein. Sie kennen mich jetzt, und ich habe je weder über Sie noch über sonst etwas gesprochen.

War das Mädchen verrückt! Fräulein d'Espard ist nicht mehr bedrückt, sie verabschiedet das Mädchen zitternd vor Zorn und macht sich wieder an ihre Massage. Also das hatte der Fratz mit seinen vorlauten Redensarten heute morgen gemeint; das Fräulein zu demütigen und eine Extravergütung zu erhalten, nicht wahr? Hatte das Fräulein nicht jeden Monat Trinkgelder an die Dienerschaftskasse gegeben? Man konnte viel erleben! Oh, es galt, sich nicht unterkriegen zu lassen; das einzige, das wirkte, war Überlegenheit. Jetzt gedachte sie gewisse Forderungen zu stellen; es konnte sein, daß sie sich über dies oder jenes beschwerte: die Kost und die Bedienung hier im Sanatorium, die skandalöse Wäsche, die auf der Rechnung mit einem hohen Preise angeführt wurde, die Luft im Salon, die die ältlichen Beamtenwitwen mit ihrem Armutsduft vermischten. Das Fräulein wollte sich jetzt nicht mehr alles gefallen lassen, das brauchte sie nicht, denn es hatte sich ihr ein lichter Ausweg geöffnet, und jetzt hatte sie das Schicksal am Kragen gepackt und es gebeugt. Es sollte ihr gut und gedeihlich ergehen. Kaffee ans Bett? Mehr als das: Kaffee und Frühstück ans Bett. So stand es in ihren französischen Büchern. Nach allem, was sie ausgestanden hatte, wollte sie sich wahrhaftig tüchtig pflegen, das war sie sich schuldig.

Und dazu wollte sie wieder fein und schön werden. Kein Zweifel, die Massage half.

Hört, Freunde, sagt sie zu Moß und dem Selbstmörder, ich habe in der letzten Zeit so gut geträumt, ich bin nicht mehr mürrisch, es gibt Auswege für alles, nicht wahr?

Ja? antworten die Kameraden verwundert.

Auswege für alles. Jetzt gehen wir aus und rodeln im Schneewetter!

Moß ist bereit, Moß mit seinem großen Gebrechen ist bereit, der Selbstmörder dagegen erhebt sich ein wenig zögernd und sagt: Wir bekommen nasse Füße.

Wenn schon! Die trocknen wieder.

Und wir haben keine ordentlichen Schlitten.

Moß antwortet, ja, ein hübscher kleiner Schlitten sei instand gesetzt, gerade in der richtigen Größe, daran fehlte es also nicht.

Sie sind ja auch ein blühender Freiluftmensch! murmelt der Selbstmörder und mißt ihn ärgerlich mit den Augen.

Dann kleiden sie sich an und gehen. Die Luft ist dick von Schnee, selbst der »Fels« ist fast nicht zu sehen.

Alle drei ziehen sie den kleinen Schlitten die Bahn hinan, immer höher, ganz den Berg hinauf und rodeln dann hinunter. Es geht mächtig, gewaltsam, der Selbstmörder hält das Steuer, die Dame sitzt in der Mitte, der Schnee wirbelt sie in ein weißes Dunkel ein, sie können nur mit fast geschlossenen Augen sehen – ach Gott, wie gut und verzweifelt!

Wieder hinauf, der Schlitten ist schwer, aber sie sind zu dritt. Der Teufel soll traurig sein! flucht das Fräulein vor Entzücken. Wieder hinunter, dieselbe Luftfahrt. Das Fräulein hat die Arme um Moß geschlungen und sitzt geborgen hinter ihm, es ist Tollheit, so zu fahren, so zu fliegen, aber es tut so gut.

Nach einigen Reisen hinauf und hinunter will der Selbstmörder aufhören.

Nein, warum? fragt sie.

Ich kann nicht mehr. Sie können ja weitermachen! Ist der Selbstmörder müde oder ist er neidisch auf Moß, der vorne sitzt und umarmt wird? Wir sind alle Menschen. Ich kann nicht mehr! wiederholt er.

Nun ja, das ist hübsch und sinnig gesagt, räumt Moß ein. Es ist keine Prahlerei. Sie sind also müde?

Der Selbstmörder, ungewöhnlich heftig: Sie können mir den Buckel runterrutschen, Moß. Wenn ich nach Haus gehen will, so gehe ich. Ich sehe kein Vergnügen darin. Adieu!

Da half kein Reden mehr, der Selbstmörder verließ sie, und das Fräulein und Moß blieben allein mit dem Schlitten. Sie zogen und mühten sich ab.

Sie stehen auf dem Gipfel, und er fragt unsicher: Wollen Sie steuern?

Nein, sie konnte nicht steuern, wollte nicht steuern.

Und er ist sehr unschlüssig.

Sehen Sie nicht? Sind Sie zu blind? fragt sie ängstlich.

Er nimmt sich zusammen: Blind? Keine Spur. Ich bin nur schneeblind.

Ich werde Ausguck halten und kommandieren, beruhigt sie ihn.

Dann stoßen sie ab.

Aber jetzt, da das Fräulein vorne ist, kann sie ihre Augen in dem stiebenden Schnee nicht öffnen, und die von Moß sind zu schlecht, als daß er die Gefahren von ferne sieht, es geht über Stock und Stein, so gut es will. Mitten auf der Bahn werden sie hochgehoben, das Fräulein schreit, in der schrecklichen Fahrt prallen sie gegeneinander, etwas an dem Schlitten bricht, und sie werden hinausgeschleudert.

Moß kommt wieder auf die Beine, reibt sich den Schnee aus den Augen und sieht sich um. Er steht da wie im Seegang. Der Schlitten entzwei, jawohl, das Fräulein liegt da, steht nicht auf, rührt sich nicht, was kann mit ihr sein? Er untersucht sie und richtet sie auf, sie fällt wieder zurück. Sie ist blutig, das Gesicht, das Kinn blutet. Er ruft sie. Nein.

Er trägt sie nach Hause, aber ehe sie hinkommen, ist sie schon wieder zu sich gekommen. Sie geht selbst die Treppe hinauf, muß aber gestützt werden, sie hat eine Wunde, eine häßliche Wunde, ihr Kinn ist schräg gespalten.

Der Doktor wird alarmiert.


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