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Zweiter Teil


X

Es kam ein großes Paket für den Selbstmörder – Anton Moß schickte den Ulster zurück. Ein Brief lag bei, daß er ohne Gefahr wieder benutzt werden könne, da er desinfiziert sei. Mit vielem Dank zurück!

Diesen Brief hatte Moß zwar nicht selbst geschrieben, aber er hatte ihn sicher diktiert, seine Ausdrucksweise war unverkennbar. Der Brief war merkwürdig und voller Spott, er riet dem Selbstmörder, wieder zu heiraten oder zur Mission zu gehen.

Er ist verrückt geworden! sagte der Selbstmörder.

Merkwürdigerweise war der Selbstmörder recht gekränkt über die Anzüglichkeiten seines alten Kameraden, sie reizten ihn zu unbeherrschten Redensarten und Gegenstößen, ganz wie damals, als sie im schönsten Streiten waren. Er erwischte Fräulein d'Espard und bat sie, Punkt für Punkt zu hören, was er auf diesen unverschämten Brief zu antworten denke. Es waren keine Kleinigkeiten, die er diesem Blinden, diesem Kadaver versetzen wollte. Übrigens würde er es wirklich schreiben, sagte der Selbstmörder, schwarz auf weiß, sagte er, bei Gott, er wollte diesem Hundsfott einen Brief schreiben, der sich gewaschen hätte, er sollte nicht das letzte Wort behalten. Fräulein d'Espard bat ihn, wenn möglich, diese und jene Wendung zu mäßigen, aber er wollte nichts davon wissen, ihm fielen sogar ärgere Bezeichnungen für diese Blindekuh, diese Beulenpest ein, und er lachte verbissen. Der Selbstmörder brachte es wirklich ein paar Tage lang fertig, sich hinzusetzen und zu schreiben, und als er schließlich einen prächtigen Entwurf zustande gebracht hatte, war er sogar so gekränkt, daß er aus reinem Trotz seine Bergkraxelei wieder aufnahm. Die Redensart, daß er wieder heiraten sollte, schien ihn am meisten verletzt zu haben. Was weiß dies Schindluder davon, ob ich verheiratet bin oder nicht! rief er. Ich habe ihm auch nicht ein Tüttelchen erzählt! Gehen Sie aus, Fräulein d'Espard? Wenn Sie nichts dagegen haben, begleite ich Sie ein Stück, ich will auf den »Fels«.

Ja, das Fräulein wollte wieder zu Daniel, der beim Angeln war. Sie hatte einige Tage lang ihre Besuche eingestellt, um nicht zu oft zu kommen, aber die andern Damen im Sanatorium schnitten sie immer noch, und so mußte sie wieder aufs Eis hinauswandern.

Oh, die schändlichen andern Damen! Es kam an den Tag, daß sie mit einer Näharbeit, einer vielfarbigen Stickerei auf grünem Filz beschäftigt waren. Fräulein d'Espard sah sie eines Tages unversehens im Zimmer einer der Damen: das Mädchen, das reinmachen sollte, hatte sie vor sich ausgebreitet und bewunderte sie vor offener Tür. Die schnellen Augen Fräulein d'Espards umfaßten alles mit einem Blick: die eine Dame hatte mit Krähenfüßen etwas von einer Tischdecke notiert, soundso viel für grünen Filz, soundso viel für Seide, Satinfutter, Fransen rings herum. Deshalb saßen sie also in der letzten Zeit abwechselnd in ihren Zimmern, nähten bei Extrakaffee und Vorlesen, daß es dröhnte.

Fräulein d'Espard war ja darüber erhaben, sie lächelte über die Krähenversammlung: das also war das große Vergnügen, von dem die andern Damen sie ausgeschlossen hatten! Allerdings: Fräulein d'Espard konnte nicht sticken, sie konnte keine Nadel richtig anfassen, das hatte sie wirklich nicht gelernt. Sie hatte anderes gelernt, Schreibmaschine, Französisch, sie hatte ihren Geist entwickelt. Ach, aber in dieser Umgebung, in einer so zusammengewürfelten Gesellschaft hatte sie ja keine Verwendung für ihre Fertigkeiten, hier stand ja weibliche Handarbeit in höherem Ansehen als in ihren Augen, sie war eine moderne Dame.

Als der Rechtsanwalt abreiste, war das Fräulein wieder auf die Unterhaltung mit Daniel angewiesen, und die mußte sie ja auch in dieser Zeit am meisten interessieren. Was wurde daraus? Wo lag das Land? Keine direkte Frage und keine Antwort, keine Entscheidung. Wollte sie ihn haben? Was wußte sie – ja natürlich war es wohl ihre Absicht, was sonst nach allem, was zwischen ihnen vorgefallen war! Sie war sogar ein bißchen in ihn verliebt, es war gut möglich, daß sie ihn einmal richtig gern haben würde, hatte er doch ansprechende Eigenschaften und sah nicht schlecht aus. Hatte sie zudem die Wahl? Eine Sennhütte war jetzt gut genug für sie.

Das Fräulein passiert den ersten See, wo gerade die Männer vom Sanatorium und aus dem Kirchspiel dabei sind, den Schnee in einem unermeßlichen Kreis zusammenzufegen, so daß der ganze See zur Eisbahn wird. Die Männer aus dem Kirchspiel sind übrigens etwas unerzogen; es sind meist junge Leute, die kichernd und flüsternd die Köpfe zusammenstecken, als sie vorbeigeht. Das ist nicht gerade ergötzlich, als sie aber zu Daniel kommt, ist sie geborgen. Er ist immer derselbe, immer hilfsbereit: Als er hört, daß die Burschen aus dem Kirchspiel zudringlich gewesen sind, will er augenblicklich mit Fischen aufhören und zu ihnen gehen. Das ist alles dies Pack, das sich um den Handelsplatz angesammelt hat, sagt er, ich möchte darauf schwören. Du willst also nicht, daß ich mit ihnen rede? Na ja. Nein, ich kann übrigens Helmer darum bitten.

Helmer – wer das sei.

Helmer sei sein Nachbarsbursch von Kindheit an, ein durch und durch braver Kerl, sein bester Freund. Daniel erzählt lächelnd, daß Helmer ihn sogar davon abgehalten habe, ein Haus anzuzünden: Ja, das war doch, als ich vor ein paar Jahren so schändlich angeführt worden war und sie einen andern genommen hatte, den Gendarmen. Das sei Daniel ja ein bißchen in den Kopf gestiegen, er habe Vergeltung üben und sie verbrennen wollen. Und wäre Helmer damals nicht gewesen, dann weiß Gott –

Hättest du es tun können? fragt das Fräulein.

Ja, sagt Daniel. Vielleicht war es nur Prahlerei, aber er sagt ja. Und er fragt: Denk daran, was sie getan hatte, warum mußte sie mich anführen? War ich nicht von einem Hofe gerade wie sie? Aber jetzt ist es einerlei, sagt Daniel und nickt, ich mache mir nichts mehr aus ihr!

Das ergab ein ganzes Gespräch: er entwickelte es halb im Scherz, halb im Ernst, und das Fräulein faßte es so auf, als ob seine Worte einen doppelten Boden hätten: daß er sich von jetzt an nur noch aus ihr und aus keiner andern mehr etwas mache. Schön. Sie fragte so ins Blaue hinein, was er tun würde, wenn sie heute in das Loch fiele? Er warf wieder die Angelgeräte fort, ergriff sie, trug sie fort und küßte sie gefährlich heiß. Ja, er war wirklich ein ganzer Mann, sie ruhte sicher an diesem Brustkasten, der so breit wie eine Tür war. Aber Daniel, sagt sie kläglich lächelnd, wenn eine Spur von Liebe in dir wäre, so würdest du jetzt um mich anhalten!

Was –?

Als sie seine Überraschung merkte, trat sie gleich zurück, ängstlich, daß sie alles verdürbe, und auch ein wenig beleidigt. Hahaha! lachte sie, ich hab' es nur so gesagt. Du lieber Gott, meintest du, es wäre Ernst? Es war nur en l'air. Ih nein, du verstehst ja kein Französisch! Wie soll ich es sagen?

Wenn ich es täte, wenn ich um dich anhielte? fragt Daniel. Nun, was würdest du darauf antworten?

Das – ja, das käme wohl darauf an. Ich weiß nicht.

Ich meine nur so und überhaupt?

Das Fräulein antwortet: Ich würde wohl sagen, daß wir beide darüber nachdenken müßten.

Schweigen.

Ich könnte mir nicht denken, daß du wolltest, sagt Daniel freundlich. Und ich glaub' es auch nicht.

Warum nicht? Was wir beide miteinander gehabt haben, kann nicht mehr ungeschehen gemacht werden.

Jetzt wird er im Ernst aufmerksam und fragt gerade heraus: Ja, was meinst du? Willst du mich haben? Aber so steht es wohl nicht?

Schweigen.

Nein, siehst du! sagt er und schüttelt verlegen lachend den Kopf.

Da schlägt sie zu: Doch, ich will dich haben. Wir können jetzt nichts anderes tun, weißt du. Ich will dich haben. Und da mußt du auch etwas tun, du mußt mich nehmen. Das mußt du wirklich, Daniel, wie du mich jetzt zugerichtet hast.

Nun, im Grunde meinte er nicht darüber gegrübelt, sich nicht die Möglichkeit gedacht zu haben, und nun stand er da! Er äußerte sich wieder in einer wortreichen Lustigkeit, er wurde, wie schon früher einmal, verwirrt und schwatzte Dummheiten: sie war wieder der Gipfel einer Dame, das großartigste Fräulein, das in zwei Schuhen ging. Das hatte er nie erwartet, darauf hatte er unmöglich verfallen können, das war zuviel –

Scht! sagt sie. Ich kann dir wohl nichts sein, ich kann nicht melken.

Das tue ich.

Aber ich kann mitkommen und den Tieren Heu geben.

Nein, das tue ich. Gott behüte, solltest du vielleicht Magd bei mir werden!

Oh, mich nur zum Staat zu haben, dessen würdest du bald überdrüssig sein.

Ja, aber wozu hab' ich denn Marta? Im Winter rühre ich nicht einen Finger, alle Arbeit auf dem Hofe besorgt Marta. Aber ich muß dich übrigens eines fragen: hast du wirklich daran gedacht, ist es dein Ernst?

Sie erklärte wieder, daß ihnen nichts anderes übrigbliebe.

Er sinnt, das Kinn auf der Brust, denkt, lächelt und schüttelt überwältigt den Kopf: Ja, wenn das zustande käme, dann würde sich das Kirchspiel wundern, meint er, Helena und die andern, sagt er. Das scheint ihn am meisten zu beschäftigen, der Triumph über das Kirchspiel. Und jetzt findet er, daß er noch längst nicht genug über Helena gesprochen hat, und beginnt wieder mit Nachdruck und netten Worten: Er sei doch auch von einem Hofe und von ebenso guten Eltern wie sie – alles Gute wünsche er ihr jetzt! Hätten sie nicht von Kindesbeinen an Freundschaft füreinander gefühlt? Er sollte meinen, gerade wie Ehe und geschworene Liebe. Es habe auch nicht an Küssen und angenehmer Behandlung von seiner Seite gefehlt, das könnte das Fräulein glauben, das einzige sei: er könne nicht ertragen, daß sie einen andern nähme. Und wenn es nach Recht und Verdienst gegangen wäre, so hätte Daniel sie damals verbrannt und kein Haar auf ihrem Kopfe am Leben gelassen. Ja. Es hätte nicht Asche genug zu dem kleinsten Laugentopf von ihr übrigbleiben sollen. Nein.

Scht! sagt das Fräulein und dämpft seine Heftigkeit, jetzt dürften sie an nichts als an sich selber denken.

Ja, aber würde das nicht eine Neuigkeit fast wie das größte Wunder sein! Daniel lachte und schlug die geballten Fäuste in der Luft zusammen.

Das Fräulein wurde nicht immer gleich klug aus ihm, er kam ihr gedankenlos und leicht vor, aber andererseits war er ja unerschütterlich in seinem Willen und seiner Arbeit, eine Mischung von böse und gut wie andere Menschen. Als er sich erbot, mit dem Fischen für heute aufzuhören, sie nach der Sennhütte heimzutragen und gleich dazubehalten, war er ja ein Monsieur nach ihrem Herzen. Wir müssen vernünftig sein, warnte sie, aber es ist schon richtig, was du sagst!

Sie könnte die neue Stube bekommen, fuhr er überredend fort, die ganze neue Stube, er und Marta würden sie nicht mehr mit einem Fuß betreten, und sie sollte saure Milch und Fleisch und Kartoffeln und Eier haben –

Auf dem Heimwege ins Sanatorium schien ihr wieder, daß alles gut gegangen sei, und wenn sie auch nicht gerade übermäßig glücklich war, so war sie doch zufrieden, guter Laune, aus dem Schlimmsten heraus, wieder obenauf. Als sie ging, hatte er ihr nachgerufen: Aber – du, Fräulein – was ich sagen wollte, sag mir nur eines: ist es wirklich dein Ernst? Es war wohl das drittemal, daß er diese Frage getan und ihre Versicherung erhalten hatte. Was hätte sie sonst antworten sollen? Sie war vernünftig genug, den Vorteil einzusehen, wenn sie in der Torahus-Sennhütte landete, sie war umhergetappt und war verblichen, und jetzt bot ihr ein junger Mann Heim und Familienleben, so gut er es vermochte. Das war alles, was sie zur Zeit erreichen konnte. Aber natürlich war es in erster Reihe die Notwendigkeit, die sie zugreifen ließ ...

 

Weihnachten kam, und am Weihnachtsabend waren alle Gäste des Sanatoriums beisammen. Es gab keinen Weihnachtsbaum, da es keine Kinder gab und Weihnachtsgeschenke in dieser zusammengewürfelten Gesellschaft ausgeschlossen waren. Indessen hatten die männlichen Gäste zu einer Brustnadel für die Wirtschafterin zusammengelegt; sie war hübsch, farbig emailliert und mit vergoldetem Rand. Der Doktor erhob sich am Ende des Abendbrottisches und hielt eine Rede, er dankte im Namen der Wirtschafterin für den kostbaren Schmuck, den die Herren – verheiratete und unverheiratete Bewunderer oder vielleicht Bewerber – ihr an die Brust gesteckt hätten. Hierauf ging er dazu über, den Damen im eigenen Namen für ein Geschenk zu danken, das so groß und unerwartet war, daß er keine Worte dafür finden konnte! – Der Doktor war wirklich gerührt, es dauerte etwas, ehe er fortfahren konnte, und er hatte feuchte Augen. – Ein so außerordentlicher Beweis freundlicher Gesinnung seitens der Damen konnte nicht anders, als ihn mit Stolz und Dankbarkeit erfüllen – während er natürlich gleichzeitig gelben Neid bei allen hier sitzenden Herren hervorriefe. Dieses mit Kunst und Geschmack, mit unendlichem Fleiß von süßen kleinen Händchen erzeugte Geschenk leuchte jetzt in seinem Dasein, es sei eine unvergleichliche Decke, die seinen Tisch zu einem Altar, sein Zimmer zu einem Heiligtum mache. Meine Damen, mein überwältigtes Herz dankt Ihnen! – Hierauf sprach er auf Weihnachten und auf all die Gäste, die den Mut und die seelische Gesundheit gehabt hatten, hier in den Bergen zu überwintern. Mochte es ihnen allen zu Freude und Nutzen sein!

Also hier landete die Tischdecke, der Doktor wurde ihr Besitzer. Fräulein d'Espard konnte wieder lächelnd dasitzen, ja, und sie konnte den herzzerreißenden Dank des Doktors für das Geschenk entbehren. Ihr erschien das Ganze etwas gesucht und an den Haaren herbeigezogen; Doktor Öyen war ja im allgemeinen nicht so sehr beliebt bei den Gästen, er war nett und geschäftig und wohlmeinend, aber nicht sehr geachtet. Den Pfarrerswitwen war sicher Weihnachten aufs Gehirn geschlagen, und sie wollten durchaus ein Weihnachtsgeschenk machen, selbst wenn der Doktor es bekam. Es war ja ausgezeichnet, wenn er sich darüber freute und gerührt wurde, wirklich, er hatte Tränen in den Augen, als er für die Altardecke in seinem Heiligtum dankte. Nach Tisch wurde die Post verteilt: eine Überschwemmung von Weihnachtskarten, einige Weihnachtshefte, ein vereinzeltes Buch. Unter den Sendungen befand sich eine runde Papphülse mit französischer Briefmarke, in Paris abgestempelt: es war ein Geschenk an das Sanatorium, ein »Torahus-Marsch«, komponiert von dem Pianisten und Stipendiaten Selmer Eyde. Großartig! Inmitten der Herrlichkeit der Weltstadt hatte der junge Künstler Torahus nicht vergessen! Eine Klavierlehrerin wurde ans Instrument geführt, um den Marsch zu spielen, mußte es aber bald aufgeben und bitten, ihn erst ein bißchen zu üben. Dagegen spielte sie zwei Weihnachtschoräle, die die ganze Gesellschaft mitsang. Als man später Kaffee und Kuchen, Wein und Konfekt reichte, wurde es immer mehr Weihnachtsabend, und der Doktor hielt wieder eine Rede, diesmal für jedes Heim im Lande, für die schimmernden Scheiben in Hütte und Haus, die frohen Augen der Kinder, die Mütter – die Mütter, meine Damen und Herren, die in dieser wunderbaren Weihnachtszeit vom Morgen bis zum Abend, und vielleicht manchmal vom Abend bis in den lichten Morgen hinein gearbeitet haben. Ein Hoch für die Heime und die Mütter.

Jawohl, es wurde getrunken und an zarte Saiten gerührt, und die Mütter nickten und dankten.

Und eine Stunde später war die Feier aus und der Weihnachtsabend vorbei, der Doktor hielt streng darauf, daß die nervösen Gäste rechtzeitig zu Bett kamen und daß die andern, die Nachtschwärmer, sich nach dem Anschlag im Korridor benahmen. Der Selbstmörder, der Inspektor und ein Kleinhändler wollten daher in die Dependance hinüber, um Sechsundsechzig zu spielen.

Als der Selbstmörder vorbeigeht, sagt Fräulein d'Espard: Nun, Herr Magnus, fröhliche Weihnachten!

Es war zwar nur ein hingeworfenes Wort, aber der Selbstmörder antwortete kurz: Warum sagen Sie das?

Sie hatte offenbar etwas gesagt, was ihm nicht recht war, und wagte sich nun weiter vor: Haben Sie viele Weihnachtskarten bekommen?

Fräulein d'Espard – haben Sie selbst viele bekommen?

Nein, nur zwei.

Von wem sollte ich Weihnachtskarten bekommen? fragte der Selbstmörder. Ich wüßte niemand.

Da müssen Sie entschuldigen!

Der Selbstmörder reuevoll: Nein, liebe –! Übrigens können wir später darüber reden. Gehen Sie voraus, sagte er zu seinen Mitspielern, ich komme gleich! Nein, ich habe keine Weihnachtskarte bekommen, aber das hatte ich auch nicht erwartet. Das ist Unsinn. Es tut mir nur leid, daß ich selbst so einen blöden Gruß geschickt habe, das war das dümmste, was mir einfallen konnte, denken Sie nur, an Moß, an ein solches Stinktier!

So, an Moß.

Das wundert Sie. Aber hatte er mir nicht den Ulster und einen so schändlichen Brief geschickt?

Und da haben Sie ihm auf den Brief geantwortet?

Nein, ich schickte eine Karte. Ich kaufte sie unten im Orte. Es hätte ein ausgeblasenes Licht oder ein Mann mit einer langen Nase darauf sein können, das würde gut gepaßt haben, aber es war etwas ganz Lächerliches darauf: ein Eichhörnchen. Ich habe die Karte nicht ausgesucht; ich nahm, was mir vorgelegt wurde. Aber denken Sie: ein Eichhörnchen, etwas so unsagbar Sinnloses! Sie wissen ja, wie ein Eichhörnchen sitzt, den Schwanz über den Rücken gebogen, wie zusammengerollt. Es wäre nicht schlimmer gewesen, wenn ich ihm ein rotangestrichenes Haus im Schnee oder ein Christkind geschickt hätte. Ein Eichhörnchen – Ist Ihnen je solche Unschuld vorgekommen?

Glauben Sie nicht, sagt das Fräulein, daß er über das Eichhörnchen nachdenken wird? Dann vergeht ihm die Zeit. Er ist ja blind und verlassen.

Wie? Ja, Sie werden sehen, daß er sich seine Gedanken macht. Das ist nicht so schlimm, er kann eine Aufgabe für seinen verfaulten Kopf brauchen. Ein Eichhörnchen, sagt er, was ist damit gemeint? – Sagen Sie, Fräulein d'Espard, wollen wir uns nicht etwas anziehen und im Mondschein ausgehen?

Aber Sie werden ja in der Dependance erwartet?

Nein. Die können sich den Briefträger und den Schweizer holen.

Sie gehen im Mondschein aus.

Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr finde ich, daß das Eichhörnchen ihm gut tun wird, sagt der Selbstmörder. Ich danke Ihnen, Fräulein d'Espard, Sie haben mich darauf gebracht. Sie haben gleich gemerkt, daß etwas Verzweifeltes darin war. Er wird ja jemand mit Augen im Kopfe fragen, was auf der Karte steht. Ein Eichhörnchen, sagt man. Da schwillt es vor Finsternis und Unverstand in ihm, ich kann sein Gesicht sehen –

Der Selbstmörder redet weiter. Das Fräulein bemerkt: Es ist schon im voraus soviel Finsternis in ihm. Gut, daß Sie ihm nicht auf den Brief geantwortet haben.

Wer hat gesagt, daß ich ihm nicht meine Antwort schicke? fragt der Selbstmörder scharf. Er bekommt sie schon noch, dafür werde ich sorgen. So, ich sollte sie nicht schicken? Wollen Sie mir sagen, warum er das letzte Wort behalten soll?

Sie schlenderten weiter im Mondenschein, es waren jetzt gute Wege geschaufelt, und sie konnten Seite an Seite spazieren. Das Fräulein erinnerte ein paarmal daran, daß sie zu Bett gehen müßten, aber der Selbstmörder antwortete, daß er zwölf oder zwei Uhr nicht für zu spät halte, es könnte oft vier oder fünf werden, ehe es ihm zu spät würde, er schliefe wieder schlechter in der letzten Zeit. Oh, die Verbissenheit und Streitsucht des Selbstmörders waren überhaupt etwas gedämpft, er war dankbar dafür, daß das Fräulein mit ihm gehen und ihm das Leben um eine Stunde verkürzen wollte, desto näher kam er dem Tode, wie es schien. Er unterhielt sie mit traurigen Betrachtungen über die Tage und das Dasein, es sei Zeitvergeudung, daß er hier ginge, er sei auf der Nordseite des Lebens angelangt, sagte er, sein Herz tanzte nicht, nein, und nicht einmal seine Kleider hielten mehr. Plötzlich wandte er sich zum Fräulein und fragte ein wenig unverständlich: Sie auch?

Wie bitte –?

Ja, ob Sie auch finden, daß Sie Ihre Zeit hier vergeuden?

Ja, das ist möglich. Ich ziehe übrigens nach Weihnachten fort.

Nein – nach Weihnachten, jetzt? rief er aus. Das war, als sollte er allein hier bleiben; es ging ihm nahe. Und der Selbstmörder, der sich seit der Abreise von Moß abgewöhnt hatte, zu reden und zu räsonieren, flammte auf und wurde gesprächig: Das sei eine unerwartete Neuigkeit, eine unangenehme Neuigkeit. Reisen Sie weit fort? Es geht mich natürlich nichts an, aber sind Sie sicher, daß es anderswo besser ist? Ich bin nicht so sicher, und daher bleibe ich. Ist es im Grunde nicht einerlei, wo wir Menschen sind? Ich sollte es meinen. Sehen Sie sich mal den Vollmond an; wir finden ihn hübsch, aber er ist so unnütz und träge, er steht nur da und langweilt sich. So geht es mit allem und mit uns allen, wir kommen um, wie wir uns heute auch drehen und wenden. Aber nicht wahr: Euch ist heute nacht ein Erlöser geboren. Das sage ich nicht, um großschnauzig zu sein; es kann gut sein, daß etwas daran ist, am Erlöser und an der Erlösung – die Erlösung von dem Dasein, das wir bekommen und uns nicht genommen haben, die Erlösung von einem Leben, das uns ohne den geringsten Wunsch aufgedrängt ist. Ach Gott, wie mystisch ist das alles! Aber ich sage deshalb nicht, daß es vollkommen unglaublich sei, manche mögen ja glauben, gerade weil es absurd ist. Hier werden wir, den Strick um den Hals, dem Untergange zugeführt, und wir gehen willig mit, unserm eigenen Besten direkt zuwider. Wir hören von dem weisen Plan im Dasein, aber daß wir ihn sehen, ihn einsehen – nein. Ich weiß nicht, was am richtigsten ist, manche sind ja ernsthafte Menschen, die sich nie über das Leben lustig machen. Aber so gehen wir, so wandern wir. Wir werden ohne Unterlaß geführt, was Alter und Zeit nicht in uns vernichten, das schaffen sie jedenfalls um bis zur Unkenntlichkeit. Wenn wir dann eine Zeitlang gewandert sind, dann wandern wir noch eine Weile; wir wandern einen Tag, darauf eine Nacht, und endlich in der Dämmerung des nächsten Tages ist die Stunde gekommen, und wir werden getötet, in Ernst und Güte getötet. Das ist der Roman des Lebens mit dem Tod als letztem Kapitel. Das ist alles so mystisch. Also waren wir im Grunde nur eine Mine, die auf den Funken wartete, und nach dem Knall liegen wir still, stiller als die Stille, wir sind tot. Wir versuchen ja, dagegen anzugehen, wir reisen hierhin und dorthin, um zu entwischen, wir kommen hier ins Sanatorium, aber das scheint ein rechter Unglücksort zu sein, ein Totenhaus, wo einer nach dem andern zugrunde geht und in den Sarg gelegt wird. Wohlan, so fliehen wir – wie Sie es tun wollen, Fräulein d'Espard – so ziehen wir anderswohin – als hätte es auch nur den geringsten Zweck! Es werden Steckbriefe hinter uns erlassen, und wir werden eingeholt, wir stehen in der Stammrolle, wir können die Garnison wechseln, aber nicht den Kriegsherrn. Aber du lieber Gott, wie wir dagegen ankämpfen! Wenn der Tod in die Tür tritt, stellen wir uns auf die Zehenspitzen und fauchen ihn an, und wenn er uns in den Arm nimmt, fangen wir an, großartig offenherzig gegeneinander zu sein, wir schlagen uns. Natürlich dauert es nicht lange, und wir liegen da, hier und dort ein bißchen blau. Dann werden wir in die Erde eingegraben. Warum das geschieht? Ja, damit das Sterben für die Zurückbleibenden gesünder wird! Aber wir selber liegen da mit Würmern in den Augen, zu tot, um sie wegwischen zu können. Ist das nicht alles so? Und das ist dabei nur die Hälfte. Wir haben nur davon gesprochen, was der Tod vernichtet, wenn er nur so für sich hingeht und pflückt, aber das befriedigt ihn nicht immer, mit Krieg, Erdbeben, Seuchen tritt er auf als Majestät, mit immer abwärts gewandtem Daumen: der Tod watet im Leben –

Ein Ton schwingt sich vom Kirchspiel zu ihnen herauf, die Kirchenglocke läutet, ein eifriger junger Pfarrer hat sich wohl diese fromme Überraschung für seine Pfarrkinder ausgedacht. Es ist ein ferner Ton, hin und wieder verschwindet er sogar ganz, wenn der Wind ihn aber heraufträgt, hört man mehrere starke Schläge hintereinander. Das ist hübsch und ungewöhnlich, es ist Weihnacht und Messe in aller Treuherzigkeit, in aller Armut.

Der Selbstmörder rückt näher, es ist, als sei er gerührt, aber er muß es ja verbergen, muß um alles in der Welt tun, als sei nichts. Für das Fräulein ist es eine willkommene Unterbrechung, sie schüttelt sich und sagt: Denken Sie, es ist zwölf Uhr! Nein, jetzt gehe ich hinein!

Der Selbstmörder will durchaus keine Rührung zeigen, nicht die Spur, er muß weiter schwatzen; aber der Ton war doch etwas verändert, als er fortfuhr: Schließlich ist ja der Tod nun auch nicht so schlimm, er ist nicht immer blutig, man wird auch nicht aufgefressen, man bleibt beinahe unversehrt, wird nur etwas blau vom Anpacken – kann man mehr verlangen? Es sind besonders die Reichen und Mächtigen, die soviel mit dem Tode hermachen, die armen Leute haben weniger gegen ihn, sie können ihn sogar oft rufen: Kommt nur mit dem Tode, mit dem letzten Kapitel!

Ja, sagt das Fräulein, ja, so ist es. Gute Nacht, Herr Magnus!

Ach, wollen Sie gehen. Entschuldigen Sie, Fräulein d'Espard, murmelt er und bleibt vor der Tür stehen. Im Grunde hätte man doch eine kleine Karte mit der Post erwarten können, Sie verstehen, weil Weihnachtsabend ist, ein geringes Zeichen. Finden Sie nicht auch?

Ja, gewiß, antwortet das Fräulein.

Sie hätten daran denken können, meine ich. Wenn ich eine Karte schicke, weil Weihnachten ist, so könnten sie antworten. Aber nein. Nun, es ist einerlei, ich klage niemand an. Natürlich vergißt man leicht eine solche Kleinigkeit, wenn man daheim ist und zum Beispiel das Haus zu besorgen hat.

Das Fräulein wird aufmerksam und fragt: Haben Sie nur eine Karte, die an Moß, geschickt?

Nein, noch eine, bekannte der Selbstmörder. Aber glauben Sie nicht, daß sie irgendwelche Bedeutung hatte, es waren nur ein paar Blumen darauf.

Aber auf die Karte können Sie ja nicht gut Antwort vor Neujahr haben?

Daran habe ich auch gedacht, antwortet er. Aber warum müßte es gerade eine Antwort auf meine Karte sein? Warum könnte ihre Karte nicht ebenso früh abgeschickt sein wie meine? Nein, es ist vergessen, das ist die Wahrheit. Oder könnten Sie sich denken, daß man es absichtlich unterlassen hat?

Das ist wohl unwahrscheinlich.

Ja. Und ich halte es nicht für unmöglich, daß eine Neujahrskarte hier eintrifft. Überhaupt finde ich Neujahrskarten feiner und bedeutungsvoller als Weihnachtskarten. Ich weiß nicht, ob Sie derselben Ansicht sind?

Doch, darin haben Sie sicher recht.

Nicht wahr! Weihnachtskarten sind und bleiben Unsinn. Sie sind ja ganz nett für Kinder, aber für Erwachsene –

Als das Fräulein hineinging, blieb der Selbstmörder noch lange an der Treppe stehen. Das Glockenläuten hatte aufgehört, man vernahm nichts, nur ein Rauschen von den Bergen. Der Vollmond schien auf ihn herab, der vergrämte Zug hatte sich wieder über sein Gesicht gelegt, und seine ganze Haltung war so wie in seiner ersten Zeit im Sanatorium: ein Ausdruck von Grübeln und Leiden ...

 

Am zweiten Weihnachtstage kam Rechtsanwalt Rupprecht mit einigen andern Gästen, darunter einem Ingenieur, am dritten kamen Schuldirektor Oliver, Holzhändler Bertelsen, Frau Ruben und Fräulein Ellingsen, später noch einige Fremde mit Skiern und Schlittschuhen. Es machte keinen starken Eindruck, vielleicht ein Dutzend Menschen, nicht mehr, zu denen, die im voraus da waren; im übrigen war Torahus ja ein neuer Ort, es war nicht zu erwarten, daß es gleich das erste Weihnachten voll werden würde.

Es wurde die neue Flagge gehißt und Bertelsen der »Torahus-Marsch« vorgespielt, war er doch der Mäzen, der es dem jungen Künstler ermöglicht hatte, dieses Werk zu schaffen. Bertelsen hatte sich übrigens direkt etwas im Sanatorium zu schaffen gemacht: er wollte die Bedingungen für elektrisches Licht studieren. Was hatte er nun damit zu tun? Nichts. Es war wohl zumeist Wichtigtuerei von dem reichen jungen Manne, daß er sich in diese Sache hineinmischte. Der Rechtsanwalt hatte ja einen Ingenieur mitgebracht, der Wassermenge und Fall messen und berechnen sollte.

Wenn Bertelsen nach Torahus kam, hatte er etwas Übermütiges an sich. Er spielte sich etwas zu sehr als Besitzer des Ganzen auf, sprach wohl auch geradezu aus, daß er hauptsächlich gekommen sei, um etwas von seinem Guthaben im Etablissement abzuessen. Aus diesem Grunde wollte er auch nicht die Rechnung für seinen vorigen Aufenthalt begleichen.

Eines Tages mußte der Rechtsanwalt seinen Irrtum glimpflich berichtigen: Ich wüßte nicht, was für ein Guthaben Sie hier hätten. Sie irren sich. Sie haben nur eine Anzahl Aktien.

Ja, wollen Sie sie kaufen? fragte Bertelsen.

Nein, der Rechtsanwalt antwortete der Wahrheit gemäß, daß er das nicht vermöchte. Aber er hielt es nicht für unmöglich, daß er ihm die Aktien später abnehmen könne.

Ja, aber jetzt?

Nein, jetzt nicht. Warum gerade jetzt? Sie brauchen das Geld doch nicht?

Bertelsen mit gerunzelter Stirn und im übrigen vor Reichtum geschwollen: Gott sei Dank nein!

Der Teufel mochte es wissen, aber Bertelsen war nun einmal kein sehr angenehmer Herr, es war nicht gerade ein Vergnügen, ihn in Kost und Logis zu haben, nein, das fand keiner im Sanatorium. Er konnte sogar geringschätzig von seinem eigenen »Torahus-Marsch« reden und sich seine Auslagen für den Stipendiaten zurückwünschen. Dieser Ort ist mir ein zu teurer Aufenthalt geworden! sagte er. Wenn nun Gott und jedermann wußten, daß er ein großes, steinreiches Geschäft besaß, so nahm es sich schlecht aus, daß er ein Künstlerstipendium von einigen Tausenden bereute. Was mochte der Grund sein? Einer der Detaillisten unter den Gästen – Ruud hieß er – war merkwürdigerweise nicht mehr so sicher in bezug auf den Reichtum des Hauses Bertelsen & Sohn. Ich kenne den alten Bertelsen, sagte er. Er ist ein sicherer und solider Mann; aber wie der Sohn ist, weiß ich nicht, er will mich nicht kennen und grüßt mich nicht, obwohl er gut weiß, daß ich einmal vor vielen Jahren hart gegen seinen Vater hätte sein können, es aber nicht war. Ich habe gehört, sagte Herr Ruud, daß der letzte gewaltige Holzkauf des jungen Bertelsen dem Kredit der Firma geschadet hat.

Aber da hat die Firma doch ein Wertobjekt? sagte jemand.

Das ist nicht sicher, antwortete der Detaillist. Es kommt erstens darauf an, ob der junge Mann nicht zu teuer gekauft hat, und zweitens auf die Konjunktur. Ja, wenn England wieder einen neuen Krieg irgendwo in der Welt anfängt, so steigt das Holz, und Bertelsen & Sohn sind obenauf. Vielleicht sind sie es auch so, ich weiß es nicht. Es wäre jedenfalls traurig, wenn das große Geschäft Schwierigkeiten bekäme oder gar seine Tätigkeit einschränken müßte. Sie haben Hobelei, Möbelfabrik und Holzschleiferei an zwei Orten. Hoffentlich geschieht kein Unglück, schloß Ruud; viele Menschen leben davon.

Dem jungen Bertelsen war nichts anzusehen, er schien ganz unbekümmert, sein kleinliches Gerede von dem Stipendium und den Aktien mußte wohl der Ausfluß einer vorübergehenden Verstimmung sein. Aber Sympathie besaß er nicht, es gab sicher mehr als einen, der ihm eine Erschütterung gönnte. Er sah nicht gerade uneben aus und war auch nicht dumm, aber sein Aussehen wie sein Auftreten hatten so merkwürdig wenig Anziehendes. Schon die Art und Weise, wie er Fräulein Ellingsen behandelte, mußte abstoßend wirken. War er verlobt mit ihr oder war er es nicht? Die alten Gäste vom ersten Schub erinnerten sich ja noch gut, wie er gleich von Anfang an die hübscheste Dame mit Beschlag belegt hatte, in den grünen Wald mit ihr gegangen war und alles das – jetzt schien sie kaum für ihn zu existieren, obwohl an ihrer Ergebenheit nichts auszusetzen war. Sie schlug mehr als einmal eine gute Unterhaltung und eine feine Annäherung seitens der andern Herren Bertelsens wegen aus, aber das schien keinen Eindruck auf ihn zu machen. Er tat, als sei er stark mit den Angelegenheiten des Sanatoriums beschäftigt, und steckte auch sehr richtig seine Nase überall hinein, wo er nur eine Ritze finden konnte, hatte aber doch zugleich Muße genug, einer gewissen anderen Dame im Sanatorium Beachtung zu schenken. Was für einer anderen Dame, vielleicht Fräulein d'Espard, der er ja früher schon den Hof gemacht hatte? Nein, nicht Fräulein d'Espard, gar nicht, sie schien ihm nichts mehr zu bedeuten, entweder wegen ihres entstellten Gesichts oder aus anderen Gründen. Nein, es war tatsächlich Frau Ruben, die ihn in Anspruch nahm. Fräulein Ellingsen konnte ihn unerwartet antreffen, wie er mit Frau Ruben zusammen in einem Zimmer saß mit Vormittagstee und Kuchen vor sich. Dann rief die Dame sie ein bißchen ärgerlich, ein bißchen verlegen und sagte: Nett, daß Sie kommen, Fräulein Ellingsen, wir haben uns hierher gesetzt! – Ich konnte Sie nicht finden, mußte Bertelsen sagen. Wo waren Sie? Wollen Sie nicht klingeln und sich eine Tasse Tee bestellen?

Nicht etwa, daß Frau Ruben es auf den jungen Kaufherrn abgesehen hatte und ihn für sich gewinnen wollte, im Gegenteil, sie war nicht zum Flirten aufgelegt. Was suchte Frau Ruben übrigens noch einmal an diesem Ort, wo ihr Mann, der Konsul, einen merkwürdigen, mysteriösen Tod erlitten hatte? Zog das entsetzliche Ereignis sie zurück, war sie eine Motte, die ums Licht kreiste? Jedenfalls hatte sie ihr altes Zimmer wieder verlangt, gerade als wollte sie sich ihrer Trauer von neuem hingeben. Sie hatte stark an Umfang abgenommen, es war das reine Wunder, wie sie ihre Fülle losgeworden war, sie war stark geschnürt und hübsch. Das Gesicht hingegen war nicht jünger, es war schlaff und unfrisch geworden. Als der Selbstmörder sie das erstemal wiedersah, sagte er zu Fräulein d'Espard: Aber – wie die aussieht! – Wieso? fragte das Fräulein. – So schlotterig. Sie sieht aus wie ein geplatzter Reifen.

Nun, jedenfalls hatte Frau Ruben noch dieselben tiefen, herrlichen Mandelaugen.

Wenn nun Frau Ruben in ihrem alten Zimmer wohnte und die ganze Nacht hindurch die Tragödie ihres Mannes wieder durchmachte, war es da nicht nett, daß sie sich tagsüber der Gesellschaft anschloß, die sich ihr bot? Bertelsen und sie hatten gemeinsame Interessen, beide waren sie Geschäftsleute und konnten vieles miteinander zu erörtern haben. Er gefiel ihr wohl nicht persönlich – wie überhaupt wohl sehr wenigen – aber er war ein bekannter Mann in der Stadt und besaß Jugend und Gesundheit. Er rauchte auch gute Zigarren und gehörte nicht zu den Leuten mit gelben Fingern vom Zigarettenrauchen. Bertelsen mochte wieder seine Gründe haben, Frau Rubens Gesellschaft der aller andern vorzuziehen, ihre Haut beutelte sich jetzt, und unter der Haut war sie geradezu mager, ja, es war ganz, als sei sie etwas unterernährt – das mochte alles sein. Aber Bertelsen hatte es vielleicht jetzt nicht auf Rosenknospen abgesehen, er mochte sich an den Geschäftssinn oder die Sachlichkeit der gnädigen Frau heften, vielleicht geradezu an ihren Reichtum, Gott weiß.

So sitzen sie da und unterhalten sich, und nun, da Fräulein Ellingsen hinzugekommen ist, sind sie zu dritt. Sie wurden unterbrochen, als Sie gerade von der Prinzessin erzählen wollten, sagte Bertelsen.

Frau Ruben war nicht unwillig, wieder von vorne zu beginnen, sie sprach von »Mylady«: Ja, wie gesagt, ich lieh ihr auf den Ring, es wurde schließlich eine große Summe, aber daraus würde ich mir nichts gemacht haben, wenn ich nur den Ring hätte behalten können –

Konnten Sie ihn denn nicht behalten?

Er ist nicht da! sagt die gnädige Frau und zeigt ihre dunklen Hände.

Wo ist er denn? Gestohlen?

Verschwunden. Aber das ist es nicht, was mache ich mir aus dem Ring!

Schweigen.

Ja, es war eine schändliche Geschichte, fährt Frau Ruben fort. Ich wollte der Dame helfen und wurde deswegen sogar uneins mit meinem Manne. Ich glaubte alles, was sie mir über ihren Mann erzählte, über ein Paket Briefe, mit dem sie mir vor der Nase herumfuchtelte, über einen Hühnerhof, den sie sich wünschte, aber es war alles Fälschung und Schwindel. Der Ring, sagen Sie? Ja, hat sie ihn sich nicht wiedergenommen, gestohlen! Ich leugne nicht, daß es in erster Linie der Ring war, der mich zu alledem bewog; es war ein herrlicher Ring, ich habe nie eine solche Tiefe gesehen, eine Seltenheit von einem Juwel, ich sah ihn auf einmal, Gott weiß, wo sie ihn herhatte. Und auf den Ring wollte sie bei mir leihen. Ich hatte Ringe genug, aber keinen solchen. Sie schenkte ihn mir nicht, sie verpfändete ihn mir, ich sollte ihr Geld darauf verschaffen. Schön! sagte ich und gab ihr alles, was ich hatte. Aber das war nicht genug, sie brauchte eine große Summe. Ja, antwortete ich, aber ich fürchte, daß mein Mann mir keinen Ring für eine solche Summe kaufen wird. So geben Sie ihm diese Briefe, sagte sie, das wird er besser verstehen, die dürften eine Million in Ihrem kleinen norwegischen Gelde wert sein. Verschaffen Sie mir zehntausend, zwanzigtausend! Ich werde mit meinem Manne reden, antwortete ich. Gleich? drängte sie. Jawohl, gleich, ich werde ihn telegraphisch herbitten. – Der Ring steckte an meiner Hand, ich legte zwei andere Ringe ab, um ihm einen würdigen, einsamen Platz zu geben, und lag nachts mit ihm. Aber wie gesagt, ich war gar nicht so auf den Ring versessen, das dürfen Sie nicht glauben. Mein Mann kam auch, und er meinte wohl, ich hätte schon Ringe genug, worin er auch recht hatte, was aber schlimmer war, er mißtraute den Briefen und weigerte sich, als Konsul einzuschreiten. Hätte ich mich nur damals von ihm warnen lassen, aber ich wollte nicht hören. Nein. Er las die Briefe, studierte sie und schüttelte den Kopf, wir sprachen über die Sache bis tief in die Nacht. Zuletzt wurde er wohl müde und legte sich nieder. Als ich mich auch niederlegen wollte, hörte ich einen Schlag: es war sein Kopf, der gegen die Bettkante schlug, dann blieb er liegen, er war tot.

Herzschlag, sagte Bertelsen und nickte.

Ja, Herzschlag. Da stand ich nun. Natürlich mußte ich bald anfangen, vernünftig zu denken: mein Mann hatte einen zu kurzen Hals, der Schlag mußte ihn früher oder später treffen, das Geschehene war nicht zu ändern. Und ich hatte den Ring, der war natürlich durchaus nicht mein ein und alles geworden, aber der Sicherheit wegen schlief ich jede Nacht mit ihm. Was erfolgte nun? Ich bezahlte für die Dame und ihr Mädchen hier im Sanatorium, ich bezahlte viele Einkäufe für sie, bezahlte, bezahlte, aber der Ring war auch herrlich, und ich wollte ihn besitzen. Nun, aber schließlich mußte ich der Dame zu verstehen geben, daß es nicht so in alle Ewigkeit weitergehen konnte. Nein, gewiß nicht, sagte sie, aber wir haben ja die Briefe! Ja, mit den Briefen weiß ich nichts anzufangen, sagte ich, und mein Mann ist tot. Aber die Briefe seien doch eine Million wert und von dem englischen Minister und Politiker soundso geschrieben. Ja, daran zweifelte ich durchaus nicht, aber ich konnte sie nicht für sie ausnutzen. Ich benahm mich redlich gegen die Dame, die Schwindlerin, ich ging zu ein paar Juwelieren und ließ den Ring schätzen, sie meinten, ich könnte etwas weiter, und noch etwas weiter gehen, es sei ein kostbarer alter Ring. Endlich sagte ich halt, jetzt wollte ich nicht mehr darauf bezahlen. Nein, das fand die Dame nicht unbillig. Und jetzt geschieht es, jetzt werde ich angeführt: Eines Morgens, als ich mich gerade wasche, werde ich ans Telephon gerufen, es sei Frau Stern. Ich werfe rasch ein Kleid über und gehe hinunter, meine Ringe bleiben auf dem Nachtschrank liegen. Es ist niemand am Telephon. Ich rufe Frau Stern an, nein, sie hat nicht telephoniert, ich rufe das Amt, dort kann ich nichts erfahren. Aber all dies Telephonieren hat Zeit beansprucht, und als ich wieder ins Schlafzimmer heraufkomme, ist der Ring vom Nachtschrank verschwunden. Der Ring ist fort! Die andern Ringe liegen da, aber der nicht. Sollte ich ihn mit ans Telephon genommen haben? Ich wieder hinunter und suche – nein. Da begann es mir vor den Augen zu schwimmen, ich rief die Dame, und sie kam, hörte mich teilnehmend an und lächelte, als ich sie fragte, ob sie den Ring genommen habe. Sie scherzen! sagte sie. Aber vielleicht könnte Ihr Kammermädchen, der Dolmetsch, ihn gefunden haben? äußerte ich. Ja, die Dame rief augenblicklich Mary, aber es zeigte sich, daß das Mädchen nicht einmal im Hause war, sie war in die Stadt gegangen.

Genau, wie ich dachte! rief Fräulein Ellingsen. Sie ist gespannt gefolgt, die Erzählung spielte ja sozusagen auf ihrem eigenen Gebiet, auf dem der Detektivgeschichten und Erdichtungen, hier kennt sie sich aus, hat sich mehr als einmal getummelt, und sie sagt: Sie steckten natürlich unter einer Decke, es war das Mädchen, das von unterwegs anrief.

Frau Ruben nickte: So war es wohl. Aber der Ring war verloren.

Bertelsen fragte: Was taten Sie dann?

Was ich tat? Ich war klug geworden, ich jagte die Schwindlerinnen aus meinem Hause.

Wo blieben sie?

Was weiß ich! Sie reisten wohl anderswohin und schwindelten weiter.

Das ist die größte Frechheit, die ich je gehört habe! Haben Sie es nicht angezeigt?

Nein. Ich kann nicht auf die Fuchsjagd gehen. Außerdem wollte ich einen Skandal vermeiden.

Schweigen.

Hm! machte Fräulein Ellingsen sich bemerkbar. ich könnte viel von diesen beiden Damen erzählen, aber ich bin durch meinen Eid gebunden.

Bertelsen hörte sie geringschätzig an und antwortete: Ja, da Sie aber den Ring wohl nicht wiederschaffen können, dürfte alles andere gleichgültig sein.

Fräulein Ellingsen äußerte, voll heimlichen Wissens von Großfürsten und Herzogen: Ich bin nicht sicher, ob meine Angaben nicht zu etwas führen könnten. Aber ich muß stumm bleiben.

Nein, sagte Frau Ruben plötzlich, das einzige wäre, daß das Sanatorium mir die Auslagen zurückerstattete, die ich für diese Damen hier gehabt habe.

Bertelsen ein wenig verblüfft: Meinen Sie?

Das wäre das einzige.

Aber das würde wohl nicht reichen?

Immerhin? Es wäre doch ungefähr der dritte Teil. Und die übrigen zwei Drittel habe ich mir ja gesichert, ehe ich die Damen zur Tür hinausjagte.

Wieso? fragt Bertelsen.

Ich nahm die Waren wieder, die sie in Kristiania gekauft hatten.

Ausgezeichnet! Und das ließen sie sich gefallen?

Sie mußten einfach. Oh, sie waren sehr dickfellig. Denken Sie sich eine Dame, die ganz offensichtlich, ohne auch nur den Schein, sich decken zu wollen, einen Ring von meinem Nachtschrank stiehlt, eine solche Dame besitzt kein Feingefühl. Sie merkte gut, daß ich wußte, daß sie den Ring genommen hatte, aber darüber setzte sie sich hinweg. Sie stand Angesicht zu Angesicht mit mir da und sank nicht in den Boden.

Es ist das reine Märchen!

Frau Ruben fragte: Glauben Sie, daß das Sanatorium mir entgegenkommen wird?

Ja, das werde ich in Ordnung bringen, antwortete Bertelsen fest.

Wollen Sie! Frau Ruben lächelte dankbar: Ja, ich dachte mir auch, daß ich mit Ihnen sprechen wollte, wo Sie so viel hier zu sagen haben. Und, nicht wahr, wenn das Torahus-Sanatorium derartige »Prinzessinnen« aufnimmt, so dürfen die andern Gäste jedenfalls keinen Schaden dadurch leiden.

Ich werde es in Ordnung bringen, wiederholte Bertelsen. Er sah auf die Uhr, erhob sich, bat, ihn zu entschuldigen, und ging. Er müsse auf »Besichtigung«, sagte er, müsse zu den beiden Seen hinauf und die Möglichkeiten für elektrisches Licht untersuchen. Wir müssen den Ort hier ja zu etwas machen, tat er kund, es wird zwar Geld kosten, aber das hilft nichts!

Aber Bertelsen hätte ruhig bei den Damen sitzenbleiben können, es zeigte sich, daß der Rechtsanwalt, der Doktor und der Ingenieur ohne ihn fortgegangen waren – was ihn überraschte und was ihn verletzte. Er wollte es aber dem Rechtsanwalt schon bei Gelegenheit geben ...

Zur Mittagszeit wurde das Sanatorium durch die Nachricht erschreckt, daß der Selbstmörder fort sei. Er kam nicht zu Tisch, wurde aber auch nicht auf einem Boden hängend gefunden. Der Doktor, der sich die ganze Zeit darauf verlassen hatte, daß es nicht zur Katastrophe kommen würde, war jetzt nicht mehr so sicher, nach Tisch nahm er Leute mit und durchsuchte den Wald. Der verteufelte Selbstmörder hatte sich wohl etwas ganz Verzwicktes ausgedacht, er hatte sich möglicherweise erschossen und lag unter einem Schneehügel begraben.

Sie suchten und riefen, wateten im Schnee, fluchten und drohten. Bis in die Dämmerung ging es so, sie durchforschten zum zehntenmal sein Zimmer, dort standen seine Sachen, die Kleider hingen an der Wand, einige Bücher, Werke historischen Inhalts, lagen auf dem Tisch – demnach war er nicht durchgebrannt. Wo war er denn also?

Da kam Fräulein d'Espard auf den Gedanken, an den Bahnhof zu telephonieren. Oh, das merkwürdige Fräulein d'Espard, sie hatte Grütze im Kopf: Selbstmörder Magnus war wirklich mit dem Morgenzuge abgereist.

Als Fräulein d'Espard auf diese Art wieder Ruhe geschaffen hatte, dankten ihr alle aus Herzensgrund, und selbst die Damen, die sie früher isoliert hatten, begannen jetzt ein wenig Reue zu spüren. Jedenfalls hatte sie doch alle Patienten vor einer schlaflosen Nacht gerettet. Schuldirektor Oliver sagte ganz offen, daß seine Nerven nicht einen Erhängten in einem Walde so nahe beim Sanatorium ertragen hätten. Wir Intellektuellen sind ja nicht wie jeder x-beliebige, sagte er, wir haben unsere Nerven, die andern ihre. Unsere vielen und langen Studienjahre haben ihre Wirkung auf uns getan, unsere Nerven haben sich sehr veredelt und sind daher wenig robust.

Sie sehen aber gut aus, Herr Direktor, komplimentierte das Fräulein.

Ich bin nicht krank, antwortete er, nur »geschwächt« – wie mein Bruder, der Schmied, sagt. Andere würden es vielleicht »verfeinert« nennen, aber mein Bruder sagt »geschwächt«. Er hat nun mal seine eigene Sprache.

Und wie geht es zu Hause in Ihrer Stadt, Herr Direktor?

Nun, es geht. Das heißt, eben so, wie es in einer Kleinstadt gehen kann. Es sind keine angenehmen Verhältnisse für uns, die wir, so gut wir können, das Niveau hochhalten sollen. Höhere Interessen gibt es ja nicht; ich habe übrigens durchgesetzt, daß der Klub ein paar ausländische Zeitungen hält, das ist aber auch alles.

Fräulein d'Espard mußte sich verändert haben, Leben und Erlebnisse des Schuldirektors in seiner Heimat fesselten sie nicht mehr so stark wie das letztemal, nein, es schien sie ganz kalt zu lassen, daß sein Klub ausländische Zeitungen hielt. Hatte sie der verrückte Selbstmörder Magnus damals im Winter mit seinem respektlosen Gerede über Sprachstudium und Bildung angesteckt? Sie war nicht mehr dieselbe wie früher, sie war wohl gesunken, sie sollte Frau in einer Sennhütte werden.

Aber der Schuldirektor hatte nun einmal ihr williges Ohr besessen, sie hatte ihn verwöhnt, und er fuhr daher fort, sie in alles, was in seiner Stadt vorging, einzuweihen. Lächelnd und nachsichtig erzählte er von der Fia, dem Dampfschiff der Stadt: Wenn die Fia an die Brücke kommt mit der Flagge auf Halbmast, weil ein Matrose über Bord gespült ist, gibt es einen Aufstand in der ganzen Gemeinde; wenn aber der größte Gelehrte der Welt ins Grab geht, dann macht es keinen Eindruck. Nun hat allerdings der Matrose Angehörige in der Stadt, und Gott weiß, daß es keinen Gelehrten in unserer Stadt gibt: die Voraussetzungen fehlen. Gebt den Leuten einen Italiener mit Drehorgel und Affen oder gebt ihnen am liebsten ein Karussell draußen auf der Gemeindewiese! Es ist schwer, unter solchen Verhältnissen zu arbeiten, passiver Widerstand überall. Als ich im Herbst von meinen Ferien heimkam, lagen einige von unsern Kanonenbooten auf Wacht, und es sollte ein Essen mit Ball für die Offiziere geben. Eigentlich hätte ja der Stadtverordnetenvorsteher dies Essen geben müssen, aber der Vorsteher, mein guter Bruder Abel, fühlte doch wohl, daß ihm einiges von dem fehlte, was wir andern haben, und so gab Scheldrup Johnsen, der Konsul, das Essen. Diese Schande und der Skandal hätten vermieden werden können. Ich rief meinen Bruder an und stellte meine eigene große Wohnung zur Verfügung, meine Frau wollte das Essen übernehmen, und ich erbot mich, die Rede zu halten. Die Antwort meines Bruders war, daß er sich am Telephon kranklachte. Du bist und bleibst derselbe! sagte er. Die Sprache führte er. Da hängte ich an. Wie finden Sie das, gnädiges Fräulein, ich bot meine Dienste an und dann begegnete man mir auf diese Weise! Na, sagte der Schuldirektor und nickte, die Sache hatte ein Nachspiel, bei den Wahlen schlug die Stimmung um, und mein guter Bruder, der Schmied, hatte Mühe, wieder zum Vorsteher gewählt zu werden. Noch so ein kleiner Zufall – und Scheldrup Johnsen hat seinen Posten!

Denken Sie! meinte Fräulein d'Espard.

Ja, ich kann Ihnen versichern, sagte der Schuldirektor eindringlich, daß das die Folge sein wird. Soweit kenne ich doch die Verhältnisse! Der Direktor nickte wieder mit sicherer Miene.

Das Fräulein machte Anstalten zu gehen.

Der Schuldirektor hatte Blut geleckt, er konnte das große Ereignis nicht vergessen und fing wieder an: Nein, wäre es nach dem Kopfe meines Bruders gegangen, so hätte es kein Essen und namentlich keinen Ball gegeben. Aber das hätten sich die besseren Familien der Stadt nicht gefallen lassen. Es war daher ein Glück, daß wir einen Mann wie den Konsul in unserer Mitte hatten. Er ist nicht gerade akademisch gebildet, das nicht, aber er ist doch ein Mann mit Sprachkenntnissen und Bildung, und zudem ist er ein reicher Mann.

Ja, sagte das Fräulein.

Er hat die Gelegenheit damals beim Schopfe gepackt. Das fanden auch wohl die Wähler: ohne den Konsul würden wir vor den Offizieren zu Spott und Schande geworden sein, und alle sahen das ein. Ach, im Grunde ist die Sehnsucht im Volke, emporzusteigen, nicht gering, selbst die ganz in der Tiefe leben, seufzen nach der Höhe. Mein Bruder, der Schmied, kann die niederen Klassen wohl noch eine Weile aufhetzen, daß sie sich über uns lustig machen, die wir das ganze Leben lang all unsere Kräfte gebraucht haben, um zu studieren und etwas zu lernen, heißt es aber repräsentieren oder eine Auskunft aus einem Buche geben oder einen ausländischen Brief beantworten, dann müssen sie zu uns kommen. Ich habe mehrere solcher Fälle erlebt. Vor einiger Zeit geschah es, daß ein berühmter Professor in Schweden – ich will seinen Namen nicht nennen – tat, was er konnte, um den Respekt vor Bildung und Wissenschaft, den wir andern Generationen hindurch erarbeitet haben, auszulöschen. Welche Befriedigung er davon haben konnte, weiß ich nicht. Kinder sollten nicht vom sechsten bis zum zwanzigsten Jahr oder noch länger dasitzen und Aufgaben lernen, das brauchten sie nicht, um wirkliche Menschen zu werden, schrieb er. Ja, dann verstehe ich nicht, was sie brauchen, das fasse ich nicht. Tun Sie's?

Nein, sagte das Fräulein.

Da sehen Sie! Er fand auch die Schulbücher zu groß und zu voll von Lehrstoff, die Kinder büffelten so viel, daß sie zuletzt gar nichts könnten. Hat man je so was gehört! Ist es nicht im Gegenteil so, daß man desto mehr kann, je mehr man büffelt? Er sprach herablassend über populärwissenschaftliche Vorträge, also über die Volksakademien und damit über die allgemeine Aufklärung. Es sei der ungeheure Fortschritt auf dem Gebiet der Wissenschaft und Technik, der unsern abergläubischen Respekt vor allem, was Wissenschaft heißt, geschaffen hätte, schrieb er. Er wich nicht davor zurück, zu schreiben: unsern abergläubischen Respekt! Nein, was Kinder tun sollten, schloß der Professor, sei, zu arbeiten, statt eine Masse toten Stoffs auswendig zu lernen. Als ob das Auswendiglernen keine Arbeit wäre! O Gott, wie habe ich gearbeitet, um auswendig zu lernen! rief der Schuldirektor aus Herzensgrund. Der Professor ist in einem tiefen Irrtum befangen. Nimmt die Entwicklung nicht gerade die Richtung: mehr Schule und immer mehr Fächer in der Schule sowohl für Knaben wie für Mädchen? Sollte da dieser Mann auf der andern Seite recht haben gegen uns alle andern, die wir auf dieser Seite stehen? Er hat denn auch seine Antwort bekommen. Wollen Sie hören, wie es zuging?

Wenn es Ihnen keine Mühe macht, Herr Direktor –

Macht mir durchaus keine Mühe. Ja, da sollen Sie hören! Ich weiß nicht, ob Sie sich erinnern, daß vor einiger Zeit in den Zeitungen eine scharfe Diskussion über die höhere Ausbildung der Frau stattfand. Sie wissen ja, wo ich in dieser Frage stehe: auf dem humanen, freisinnigen Standpunkt, daß die Frau ebensoviel Recht auf männliche Ausbildung hat wie der Mann selbst. Es kamen Einsendungen für und wider, und ich fand, daß ich nicht länger zögern durfte, einzuschreiten, man erwartete das vielleicht von mir, ich habe ja einen Namen. Schön, so ergriff ich die Feder. Ich faßte die Leute nicht mit Handschuhen an, mein Artikel war sehr entschieden. Schule und wieder Schule! sagte ich. Es haben sich Stimmen für mehr körperliche Arbeit und weniger Schule erhoben, aber das ist nur Verirrung und Demagogie. Ich will nichts Herabsetzendes über die Arbeit sagen; so sollten die Frauen Gartenbau lernen; aber die Zeitwörter kochen, nähen, tanzen und turnen sind jetzt für die Mehrzahl von ihnen Hauptwörter geworden, und das macht sie oberflächlich und flüchtig. Ehre der Hand und der Handarbeit, aber der Geist zuerst! Ich will mich zur Zeit nicht näher über die vier Verben aussprechen, schrieb ich, aber ich meine, daß die Ausbildung der jungen Damen jetzt bedroht ist. Es ist hier nicht die Rede von denen, die sich durch die Männerschule hindurcharbeiten, ihr Abitur machen und in die verschiedenen Berufe gehen, ich denke an die andern. Was sollen diese andern denn lernen, um sich zu den Aufgaben einer Mutter und zum Leiten von Haus und Heim auszubilden? Der Geist zuerst! wiederholte ich wirkungsvoll. Sie müssen eine vollkommene Ausbildung in Sprachen, Literatur, Kunst und Kunstgeschichte und in der rhythmischen Grundlage für Musik erhalten. Warum? Ja, sonst würden sie Ausländern gegenüber ratlos dastehen. Die jungen Mädchen in unserer Zeit haben einen starken Drang, ins Ausland zu kommen, und können leicht hinauskommen, aber ihnen fehlen oft die Voraussetzungen, einen Auslandsaufenthalt genießen zu können ... Das war der Hauptinhalt meines Aufsatzes. Natürlich ist dies Resümee sehr unvollkommen, es war voll von gutgezielten Ausfällen gegen den schwedischen Professor, die ihn, wie ich hoffe, etwas zum Nachdenken brachten. Jedenfalls habe ich die Befriedigung gehabt, daß er, soviel ich weiß, bis heute nicht versucht hat, mir zu antworten.

Stille.

Ja, was finden Sie, gnädiges Fräulein?

Gewiß, sagte das Fräulein. Es ist ja schwer für mich – ich verstehe nicht viel davon –

Das ist sehr hübsch geantwortet, sagte der Schuldirektor. Wenn alle so antworteten, so würde ja die Entscheidung uns überlassen, die wir uns dreißig Jahre lang mit der Frage beschäftigt haben und sie am besten kennen sollten. Sie haben sogar die praktische Erfahrung in der Sache und wagen es doch nicht, uns zu widersprechen. Nicht wahr, in diesem Augenblick haben Sie etwas vor unsern Damen im allgemeinen voraus, Sie haben ein Prä, weil Sie die Schule besucht und Französisch gelernt haben. Würden Sie irgendeinen Nutzen von Ihrem Aufenthalt in Frankreich gehabt haben, ohne die Sprache zu kennen? Oh, man kann nie zuviel zur Schule gehen und büffeln, es ist unmöglich, so lange zu büffeln, daß man schließlich nichts kann; der schwedische Professor irrt sich.

Stille.

Sie haben Ihre Jungen diesmal nicht mitgebracht, Herr Direktor? fragte das Fräulein.

Nein. Sie waren ja im Herbst hier, und sie sollen nicht verwöhnt werden. Sie sollen lernen und wieder lernen, tüchtige Burschen werden und in der Welt vorwärtskommen. Sie sind leider nicht so lernbegierig, wie ich es in meiner Kindheit war, aber das ändert sich wohl.

 

Die Tage waren nicht sehr schön für Fräulein d'Espard, es war Weihnachten, aber es gab wenig Freude, sie gehörte nirgends mehr hin, sie war entwurzelt. Selbst das Sanatorium war nicht mehr anheimelnd, die im vorigen Jahre gekauften Blumen standen da, ohne zu sterben, waren aber verkümmert und unheimlich, die große Phönixpalme im Salon war grau vor Staub, und ihre Spitzen waren abgeschnitten. Ihr Sinn für häusliche Gemütlichkeit war wohl nicht sehr entwickelt, aber ein wenig Instinkt hatte sie ja auch wie die andern, sie ordnete gern die Zeitungen im Rauchzimmer und hatte immer einen grünen Kiefernzweig über dem Spiegel in ihrem eigenen Zimmer befestigt. Sie hatte ja auch die gelben französischen Bücher, an den Wänden hing aber kein Schmuck außer ihren Kleidern.

In ihrem Zimmer konnte sie nicht die ganze Zeit sitzen, und wo sollte sie sonst hingehen? Zum Schuldirektor und wieder zum Schuldirektor? Ach ja, gewiß. Das war nicht schlimmer als andere langweilige Dinge. Es gab nicht viele neue Gäste, der Rechtsanwalt behielt nicht recht in seiner Annahme, daß immer mehr kommen würden. Er hatte zwar in den Zeitungen Reklame gemacht mit feinen Skihügeln, Eisbahnen und Freiluftleben, aber das hatte nur einige junge Burschen mit Kniehosen und kecken Redensarten hergelockt, übrigens auch einen jungen Journalisten, der Feuilletons über das Weihnachtsleben in den Bergen schreiben wollte. Keiner war etwas für Fräulein d'Espard, Bertelsen interessierte sich nicht für sie, an Frau Ruben hatte sie sich nie angeschlossen, Fräulein Ellingsen war entglitten. So blieb nichts übrig als die Sennhütte und Daniel.

Fräulein d'Espard hatte am Weihnachtsabend einen Sprung zu ihrem Liebsten hinüber gemacht, Daniel einen großen roten und Marta, seiner Haushälterin, einen gelben Geldschein gegeben, und sie freuten sich beide sehr, freuten sich stürmisch und wollten sich prachtvolle Andenken für das Geld kaufen. Daniels tüchtiger Kopf war sofort in Tätigkeit: Er wollte sich ein Pferd zum Andenken kaufen. Eben das wollte er. Schon am zweiten Weihnachtstage wollte er ins Kirchspiel hinuntergehen und sich ein hübsches kleines Tier bei Helmer, seinem guten Freunde, ansehen. Oh, Daniel wußte, was er tat, wenn er ein Pferd mitten im Winter kaufte, da bekam er es billig, es herrschte ja allgemein Futternot auf den Höfen, aber Daniel hatte Futter genug, da er den großen Ochsen im Herbst verkauft hatte.

Als das Fräulein mitten in der Weihnachtswoche wieder zur Sennhütte hinüberging, war Daniel richtig beim Pferdehandel. Er hatte schon mehrere Tage gehandelt und war noch nicht fertig mit Feilschen. So ging es nun mal mit allem Pferdehandel. Das Fräulein konnte nicht auf ihn warten, sie ging wieder heim ins Sanatorium und zu Direktor Oliver.

Doktor, Ingenieur und Rechtsanwalt kehrten von ihrer Expedition zurück. Der Doktor fegte den Boden mit seiner Hutfeder und war ewig aufgeräumt: Es soll Licht werden, nicht wahr, Herr Ingenieur? Licht in jedem Zimmer von Torahus, hinter jeder Scheibe. Wenn wir oben auf dem »Fels« stehen, werden wir in einen Himmel voller Sterne auf Erden hinuntersehen können!

Der Doktor war unverwüstlich.

Ich kann leider nicht so lange hier bleiben, antwortete das Fräulein. Zu meiner Zeit wird es also nichts mehr mit dem elektrischen Licht.

Wie – wollen Sie uns verlassen? fragte der Rechtsanwalt. Das täte mir leid.

Das täte uns allen leid, sagte der Doktor.

Direktor Oliver nickte und stimmte mit ein.

Hier wird es auf die Dauer zu teuer für mich, erklärte das Fräulein, nach Neujahr ziehe ich.

Zurück nach Kristiania oder –?

Nein zu Daniel. In die Sennhütte.

Stummheit über allen.

Können Sie dort wohnen? fragte der Doktor.

Warum nicht? antwortete sie. Ich bekomme seine ganze neue Stube und Essen im Überfluß.

Der Rechtsanwalt faßte sich zuerst: Jaja, gnädiges Fräulein, dann behalten wir Sie doch jedenfalls hier in den Bergen. Und wenn Sie Veränderung haben wollen, sind Sie uns willkommen!

Bertelsen war hinzugetreten. In einer Ecke saß Kleinhändler Ruud und blickte in eine Zeitung; vielleicht kümmerte er sich nicht um das, was in der Gesellschaft gesprochen wurde, vielleicht hörte er jedes Wort. Ruud war so nachdenklich und wortkarg. Bertelsen war schlechter Laune, weil die Herren ohne ihn nach den Bergseen gegangen waren, er hatte doch Interessen hier zu wahren. Wo sie das Geld für das elektrische Licht hernehmen wollten? fragte er unheilverkündend.

Es wird sich schon Rat finden, meinte der Rechtsanwalt. Sie werden helfen, andere ebenfalls. Es kann ja nicht an dem bißchen Geld scheitern.

Ich helfe nicht mehr, sagte Bertelsen, ich habe genug davon. Hier ist mir ein Stipendiat aufgedrängt worden, der mich viel Geld kostet, und hier habe ich eine große Menge Aktien übernehmen müssen. Weiter gehe ich nicht.

Der Rechtsanwalt freundlich und zurückhaltend: Das ist schade. Aber wollen Sie Ihre Aktien denn nicht verkaufen?

Ja, das möchte ich weiß Gott! Schaffen Sie mir einen Käufer!

Der Rechtsanwalt fragte langsam: Haben Sie die Aktien hier?

Hier? Nein, antwortete Bertelsen etwas verwundert über den Ton des Rechtsanwalts. Aber hier ist wohl auch kein Käufer.

Das sollten Sie nicht so ohne weiteres annehmen.

So, sagte Bertelsen sehr betreten. Na ja, sagte er. Aber ich habe die Aktien natürlich nicht hier. Mein feuerfester Schrank ist voll von Papieren, die ich nicht bei mir tragen kann.

Aber Sie können sich doch die Aktien schicken lassen.

O ja, sagte Bertelsen, das kann ich. Aber das eilt ja nicht so, ich bin nämlich hier, um Weihnachten zu feiern.

Während dieses kleinen Gesprächs hat Ruud, hinter seiner Zeitung versteckt, in der Ecke gesessen. Jetzt hüstelt er ein wenig, legt die Zeitung hübsch zusammen und verläßt das Rauchzimmer.

Will der die Aktien übernehmen? fragte Bertelsen und wies mit dem Kopfe hin. Haben Sie ein Gebot von ihm?

Der Rechtsanwalt antwortete freundlich und ausweichend, daß er gegebenenfalls – gegebenenfalls, sagte er – die Aktien als Kommissionär kaufen sollte. Mehr sagte er nicht darüber, leugnete also auch nicht, daß er für diesen kleinen Detaillisten Ruud kaufte, der so nichtssagend, so still und dick von erspartem Gelde in seiner Ecke gesessen hatte.

Aber Bertelsen war nicht weiter gekommen. Das schlimmste war, daß er auch nicht mehr das Sanatorium und den Rechtsanwalt in der Hand hatte und daher keinen Druck mehr in der Ersatzangelegenheit von Frau Ruben ausüben konnte. Er erwischte den Rechtsanwalt unter vier Augen, legte ihm die Frage in aller Freundlichkeit, in herabgestimmtem Ton vor und bat, Frau Ruben Entgegenkommen zu zeigen. Der Rechtsanwalt hörte ihn an, war die ganze Zeit Wirt, die ganze Zeit alter Bekannter, fast Freund: Sollte er Hochstapeleien für die Gäste bezahlen? Er fürchtete, daß es nicht anginge, ein Sanatorium auf diese Weise zu leiten. Nein, Herr Bertelsen, da müssen Sie entschuldigen!

Bertelsen merkte, daß alles verloren war, er mußte sich der Dame als ein Mann vorstellen, der hier nichts zu sagen hatte. Dies schien ihm gerade jetzt sehr in die Quere zu kommen, es war, als würden alle seine Pläne dadurch über den Haufen geworfen.

Der Rechtsanwalt saß da, dachte nach und ließ seine Absage wirken, dachte lange nach und blinzelte mit den Augen. Dann sprach er wieder: Nein, das Sanatorium auf diese Weise zu leiten, wo würde das hinführen! Etwas anderes sei es, wenn die Dame in irgendeiner Form Kompensationen leisten könnte, darüber lohnte sich schon nachzudenken. War es der gnädigen Frau sehr darum zu tun, ihre Auslagen zurückzuerhalten?

Bertelsen antwortete, Frau Konsul Ruben sei ja eine steinreiche Dame, auf die paar Groschen käme es ihr nicht an. Er könnte jedoch gut verstehen, daß sie sich über den Verlust des Ringes ärgerte, und durch die Erstattung ihrer Auslagen wollte sie den Status quo ante bei sich, in ihrem Herzen, wieder herstellen, sich in den Augenblick zurückversetzen, ehe sie je den Ring vor Augen gehabt hatte.

Das ist eine sehr feine Analyse, sagte der Rechtsanwalt; was Sie da sagen, verdient erwogen zu werden. Könnten Sie sich denken, daß die Dame bereit wäre, sich interviewen zu lassen?

Interviewen –?

Sie ist so hübsch und schlank, eine Lilie, eine Schönheit geworden. Könnten Sie sich denken, daß sie diese Veränderung ihrem vorigen Aufenthalt im Torahus-Sanatorium verdanke?

Bertelsen saß stumm da.

Ich meine, ob sie das der Nachwirkung ihres Aufenthaltes hier verdanken könnte? Daß der die Abmagerung bei ihr bewirkt, sie wieder zu einem jungen Mädchen gemacht hat?

Ich weiß nicht, sagte Bertelsen.

Nein. Aber ich halte es nicht für unmöglich.

Bertelsen sah undeutlich einen Weg zur Rettung und sagte: Ich werde sie fragen.

Tun Sie das. Sagen Sie ihr gleich, daß es das Wasser hier sein soll, das die Wirkung hat – das Wasser in Verbindung mit der Luft und dem Leben hier, unsere Kur überhaupt, die auf diese segensreiche Weise wirkt. Sagen Sie der Dame das, sie ist eine kluge Frau und wird es vernünftig finden.

Aber wenn es nun nicht der Fall ist? Wenn sie sich zum Beispiel geradezu mager gehungert hat?

Sie meinen, dann fehlte die Grundlage für ein Interview? Aber wenn die gnädige Frau sich mager gehungert hat, so können ja auch andere zu diesem Hilfsmittel greifen neben dem Wasser hier. Ich sehe nicht ein, daß das etwas mit der Sache zu tun hat. Und selbst wenn das Sanatorium nicht den geringsten Anteil an der Erneuerung der gnädigen Frau hätte, so würde ihr Interview immerhin für eine schöne Heilstätte hier in den Bergen Reklame machen. Das ist schon an und für sich verdienstvoll. Aber wir können ja tatsächlich Wunderkuren aufweisen: Schuldirektor Olivers Nerven, Selbstmörder Magnus' Gemütszustand, Graf Flemings Lungen und so weiter; kommt jetzt noch Frau Rubens Abmagerung dazu, so kann es andern leidenden Menschen zugute kommen.

Wer sollte sie denn interviewen?

Hier ist zur Zeit ein Herr, der für drei Blätter schreibt, eines in Kristiania, eines in Stockholm und eines in Kopenhagen, drei große Blätter.

Ich werde mit der Dame reden, sagte Bertelsen.

Sagen Sie, daß es in diesem Falle dem Sanatorium ein Vergnügen sein wird, der gnädigen Frau entgegenzukommen und sie die geradezu empörende Geschichte mit der Schwindlerin vergessen zu machen.


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