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XV

Die Flagge hing auf Halbmast, es herrschte großer Lärm im Sanatorium, viele Leute waren seit Beginn der Ferien da, ja, und die schossen hierhin und dorthin und huschten durcheinander. Der Rechtsanwalt traf das Fräulein schon im Gange, er war überall, war beschäftigt und sehr traurig.

Guten Tag, Fräulein d'Espard! Sie hätten zu glücklicherer Stunde kommen können, hier ist alles Trauer und Verzweiflung heute.

Ich höre. Zwei Todesfälle.

Es ist nicht zu sagen. Er war ein außerordentlich netter Mensch, wir hatten uns jetzt so an ihn gewöhnt, daß er uns unentbehrlich geworden war. Erdachte jeden Abend etwas Lustiges für die Gäste, war Hansdampf in allen Gassen, Ingenieur hier und Ingenieur da, nach Ansicht aller Kundigen ist ein großes schauspielerisches Talent an ihm verlorengegangen. Und sollte so enden!

Was soll ich sagen –

Sie wollten mit Herrn Fleming sprechen, er ist gewiß in seinem Zimmer, ich werde nach ihm schicken.

Und die amerikanische Familie?

Welche?

Die amerikanische Familie, die Französisch sprechen wollte?

Ja, ach so. Ja, die kommt, wir erwarten sie in einiger Zeit, vielleicht mehr als eine Familie, viele Familien, ganze Gesellschaften. Das Leben und die Kur wollen ja ihren gewohnten Gang gehen, obwohl ein Todesfall, wie der des Ingenieurs – ich will gerade nach einem neuen Arbeitsleiter telephonieren.

Ja, da ist die Familie also noch nicht gekommen?

Luise! rief der Rechtsanwalt, wollen Sie zum Herrn Grafen gehen und ihm sagen, daß das gnädige Fräulein schon hier ist und auf ihn wartet. Bitte, gnädiges Fräulein, wollen Sie solange in den Lesesaal gehen! Entschuldigen Sie mich, ich bin so beschäftigt!

Herr Fleming kam, und sie gingen in den Wald, um allein zu sein. Selbst er war von dem Tod des Ingenieurs in Anspruch genommen und begann darüber zu reden; es war das Fräulein, das sagte: Jawohl, aber nun wir!

Ja, wir! Wir müssen einen Weg finden.

Sie dürfen nie wieder zur Sennhütte kommen, sagte sie, ich fürchte mich Ihretwegen.

Hat er das gesagt?

Ja.

Ich komme doch wirklich nicht seinetwegen, sagte Herr Fleming überlegen, ich gehe gerade an ihm vorbei zu Ihnen. Versteht er das nicht?

Das ist es ja gerade, was er versteht, und jetzt will er es nicht mehr haben.

Was sollen wir denn tun?

Er verlangt, daß Sie abreisen.

Herr Fleming mit Haltung: Ich reise nicht ab.

Ich sagte, daß Sie schon abgereist seien.

Schweigen. Beide sitzen mit dem Gefühl da, eingesperrt zu sein.

Wir müssen durchgehen, sagte er.

Das Fräulein war tüchtiger, sie sah die Unmöglichkeit dieses Planes ein und sagte: Daran habe ich wohl gedacht, aber er würde uns einholen, ehe wir halbwegs zur Station gekommen wären. Das Kind –

Das Kind, selbstverständlich, nehmen Sie das Kind mit!

Es muß getragen werden, es ist zu klein, man kann es nicht einen Augenblick allein lassen. Nein, lassen Sie uns im Ernst reden: kann es nicht rückgängig gemacht werden – ordentlich–?

Ja, meinte er, der Schulze war sehr wohlwollend, er würde uns vielleicht helfen –

Sie unterbrach ihn: Nein, nicht der Schulze. Sehen Sie, Sie müßten zum Pastor gehen. Der Schulze, was sollte der? Aber der Pastor. Ich habe bestimmt schon gehört, daß es geht, Sie müssen Einspruch dagegen erheben, daß ich einen andern heirate, Sie sind der Vater des Kindes, ich die Mutter. Das will ich unterschreiben.

Ich werde gehen, sagte er.

Sie war wieder tüchtig und fühlte sich doch nicht ganz sicher, ob es gefahrlos war, auf diese Weise vorzugehen. Das Gesetz würde Ihnen vielleicht recht geben, aber der andere, Daniel, was würde er tun?

Herr Fleming war schwach an Kräften, aber er war kein Angsthase, es schreckte ihn nicht, was Daniel vielleicht tun mochte. Man kann wohl mit ihm reden und ihn zur Vernunft bringen, sagte er.

Daran zweifelte das Fräulein, sie hätte es schon versucht.

Nun, so soll er tun, was er will!

Sind Sie nicht bange? fragte sie. Aber er ist einer verzweifelten Tat fähig.

Er wies das mit leichtem Kopfschütteln ab, ohne sich zu brüsten, ohne zu prahlen, und seine gemessene, gute Haltung machte sie zuversichtlich. Und als er ihre Hand nahm und sagte: Die Hauptsache ist, daß Sie wollen – daß Sie mich haben wollen! da war das Los gefallen, sie schwankte nicht mehr, sie konnte nie die Frau in der Sennhütte werden.

Sie gingen ins Sanatorium zurück und setzten sich ins Rauchzimmer, sie sollte zum Mittagessen bleiben, Daniel hatte sich ja liberal gezeigt und ihr so viel Zeit gelassen, wie sie wollte. Indessen: sie war vielleicht nicht ganz unberühmt selbst unter den neuen Gästen, man steckte, als sie kam, die Köpfe zusammen, betrachtete sie und maß sie mit Blicken, Gott weiß, sie war vielleicht nicht einmal unbescholten. Kein Zweifel, daß Herr Fleming, der Graf, die größte Achtung genoß und sie oben hielt, und daß man sie ohne ihn als ein Nichts angesehen oder vielleicht fortgewiesen hätte.

Fräulein d'Espard rächte sich, indem sie ein bißchen auf Bekannte und Unbekannte hinabsah: das konnte sie gut, wenn sie wollte. Wozu waren diese dicken Menschen hier, die Bierfässer, diese Mißgestalten? Sie waren Kranke, lauter Patienten, das Fräulein brauchte nicht das Wasser von Torahus, um in Form zu bleiben. Da Herr Fleming sich geweigert hatte, Französisch zu sprechen, konnte sie nicht zeigen, wer sie eigentlich war, aber Direktor Oliver suchte sie ja vor allen andern auf, und so wurde ihr Tisch zu einem Mittelpunkt. Es saßen mehrere Gäste an den andern kleinen Tischchen, aber sie vergaßen das Zeitunglesen, saßen nur da und lauschten.

Gegen Mittag kam auch der Doktor hinzu, der neue Doktor, der sich von niemand übersehen ließ, ja, und er kam mit ausgestreckter Hand zum Fräulein herüber, grüßte und unterhielt sich eine Weile mit ihr: Es ginge gut, das gnädige Fräulein habe keine Beschwerden von dem Kreuzotterbiß? Nicht wahr? Aber das Fräulein solle sich vor Kreuzottern in acht nehmen – das nächste Mal unter ähnlichen Umständen! Der Doktor ging, aber er hatte das Seine getan, das Fräulein konnte gleichsam triumphieren. Sie war auch so hübsch, sie bekam Wein und wurde lebhaft, wurde zärtlich, entfaltete ihre Anziehungskraft. An einem Nebentisch saß eine Schar Damen, die sie zu beneiden schienen.

Der Rechtsanwalt musterte die Tische und vermißte den Selbstmörder; wo war Herr Magnus? Keiner antwortete. Eines der Mädchen wurde in sein Zimmer hinaufgeschickt, um nachzusehen, aber er war nicht da. Fräulein d'Espard konnte mitteilen, daß sie Herrn Magnus heute morgen, zur Reise gekleidet, getroffen habe; er habe von einem Ausflug nach Kristiania gesprochen.

Wie ich immer gesagt habe, ruft der Rechtsanwalt aus: Sie sind unentbehrlich hier, Fräulein d'Espard! Ihr Wohl!

Noch mehr Triumph und Neid.

Aber es war nicht viel Stimmung bei Tisch, das ganze Sanatorium war von Trauer bedrückt. Der Rechtsanwalt konnte auf den leeren Platz des Ingenieurs hinweisen und den Kopf schütteln, niemand sprach laut; als Wirt und Mann für das Ganze mußte der Rechtsanwalt hingegen dankbar sein, daß Fräulein d'Espard ein wenig Leben mitbrachte, sie ließ sich nicht von den Damen am Nebentisch ducken.

Nach Tisch setzten sie sich in ein abseits gelegenes Zimmer, wo sie ihre Erklärung schrieb. Sie war sehr forsch und erklärte geradeheraus, daß Herr Fleming der Vater ihres Kindes sei. Es war ihr auch klar, daß sie eine Bescheinigung vom Doktor brauchte, daß das Kind ausgetragen gewesen sei, und sie holte sie sich. Ja, es ging glänzend, sie war prachtvoll, tadellos, zuletzt ging sie ohne weiteres mit Herrn Fleming in sein Zimmer, es war, als erhielte sie – oder nähme sie sich – Dispens. Ein bißchen hatte wohl auch der Wein auf sie gewirkt. Herr Fleming brachte sie nach Hause.

Sie waren noch nicht weit gekommen, als sie zwei Damen vom Sanatorium trafen, die schon einen Spaziergang nach dem Mittagessen gemacht hatten. Herr Fleming grüßte höflich, und sie gingen vorbei. Fräulein d'Espard sagte, ohne Böses zu ahnen: Gott, wie die mir Sie mißgönnen!

Beim Heuschober trennte sie sich von Herrn Fleming. Sie waren einig, daß er am nächsten Tage zum Pastor gehen sollte, aber sie war immer noch forsch und erwähnte verschiedenes, das er betonen sollte. Tun Sie nun Ihr Bestes! sagte sie. Auf Wiedersehen!

Sie hatten sich einige Schritte weit entfernt. Plötzlich stürzte Daniel aus dem Schober heraus. Da soll doch der Teufel –! schrie er, und im nächsten Augenblick lag seine schwere Hand auf Herrn Flemings Schulter. Daniels Gesicht war blutleer, auch Herr Fleming erblaßte, Daniel begann zu sprechen, zu fauchen: Jetzt reisen Sie ab, machen Sie, daß Sie wegkommen! Was wollen Sie hier? Sie werden sofort abreisen und nie wieder Ihren Fuß hierhersetzen, verstehen Sie, was ich sage?

Immer ruhig –! beginnt Herr Fleming.

Daniel ist nicht ruhig, er schreit wie ein Pferd und schüttelt Herrn Fleming, das Fräulein eilt hinzu, sie hört einen Strom von Flüchen und ungeheuren Drohungen: Ich will dich zusammendrehen wie eine Angelschnur, ich will dir eine Kugel mitten ins Gehirn spucken! Hiernach hatte Herr Fleming keine Wahl, als zu gehen. Daniel blieb stehen und sah ihm nach, sprang auf, schlug die Fäuste in der Luft zusammen und rief ihm nach: Fort in dieser Stunde, an diesem Tage! Vergiß das nicht!

Er drehte sich um und sah das Fräulein, er schien stolz auf das, was er verrichtet hatte, und sagte: Der soll nur wiederkommen!

Er schlug und biß also nicht, er sprach wie ein Mensch zu ihr, und sie schöpfte Mut. Ein kranker Mann, sagte sie mißbilligend.

Du sagtest, er sei abgereist? fragte er barsch.

Und du liegst hier auf der Lauer, antwortete sie, aber sie konnte nicht anders, sie mußte ihm die Strohhalme abpflücken, sie wußte aus Erfahrung, daß sie ihn anrühren mußte.

Er schüttelte sie ab, das tat er, aber er wurde besänftigt und erklärte, daß er durchaus nicht die Absicht gehabt habe, zu lauschen; aber da habe er eine Botschaft, eine Art Bescheid erhalten –

Ja, es kamen zwei Damen und schwatzten, ich weiß schon, wir begegneten ihnen.

Es kommt noch so weit, daß ich ihm etwas antue! sagte er.

Das Fräulein rief plötzlich aus: Jaja – verzeih!

Das war etwas Merkwürdiges, etwas ganz Unerhörtes an ihr, und es verwirrte ihn so sehr, daß er nur sagte: Nein, jetzt mußt du machen, daß du zum Kinde heimkommst! Marta hat ihm Milch gegeben, aber –

Ja, verzeih! wiederholte sie, während sie gingen.

Sie schwiegen, bis sie heimkamen und wieder zusammensaßen, aber sie gab die Sache keineswegs auf: Er bat mich, dich zu fragen, ob du nicht noch mehr bauen wolltest, ein großes Haus mit vielen Zimmern?

Bauen?

Daß du auch Gäste aufnehmen und Geld verdienen könntest?

Daniel in höchster Verwirrung: Hast du das mit ihm ausgemacht?

Ja, denn dann würde er dir mit Baugeld helfen.

Ich weiß nur eines, sagte Daniel nachdenklich, daß er fort muß, abreisen.

Ja, dann würde er abreisen.

Alles war Daniel unverständlich, er riet weiter: So, das würde er für dich tun?

Ja.

Und hinterher würde er abreisen?

Und du willst, daß wir hier Gäste aufnehmen?

Ja, antwortete das Fräulein, das heißt, seine Meinung war ja, daß ich dann mit ihm gehen sollte.

Was? schrie Daniel.

Daß du auf mich verzichten solltest, verstehst du. Es hat keinen Zweck, daß du so laut schreist.

Daniel hebt die Arme hoch und läßt sie fallen: Ich glaube, ihr seid alle beide verrückt geworden!

Das weiß ich nun nicht, ob du das sagen kannst, antwortete sie störrisch. Du kannst jederzeit eine andere haben, wenn du erst ein richtiges kleines Sanatorium hier hast. Dann bist du ein großer Mann.

Er sprang auf und stand gekrümmt und rasend vor ihr. Einen Augenblick war es, als wollte er sich auf sie stürzen, dann sagte er: Ich meinte, ich hätte dich davor gewarnt, dies noch einmal zu erwähnen!

Ja, sagte sie.

Er stand noch eine Weile da und verließ dann die Stube.

Er machte einen Bogen, sie sah ihn am Fenster vorbei zum Bache hinübergehen; nach einer Weile kam er zurück und trat wieder geradeswegs in die Stube.

Wollen wir sagen, daß wir uns Dienstag nächster Woche trauen lassen? fragte er.

Sie sah wohl keinen Ausweg, und ihr war alles gleichgültig, ob er nun schlug, ob er biß, ob er sie tötete. Das können wir ja gern sagen, antwortete sie verstockt, aber es wird nichts daraus!

Er hatte Ernst und Wut, Drohungen und Flüche gebraucht und war nicht weitergekommen, jetzt wurde er ratlos und stumm. Er ließ sich auf einen Schemel fallen und schlug die Hände vors Gesicht.

Du mußt doch verstehen, sagte sie, daß es so für uns alle unmöglich wird.

Was soll ich verstehen? fragte er. Für mich ist es unmöglich.

Sie fand es nicht so schlimm; es war nicht das erstemal, daß Liebesleute einander aufgesagt hatten.

Aber hatte sie denn keinen Verstand, wußte sie gar nichts? Er war schon einmal angeführt worden, das durfte nicht nochmals geschehen, was würden die Leute dazu sagen! Er war von guter Herkunft, er verdiente es nicht, daß sie ihm auch nur einen Augenblick eine solche Schande zumutete.

Als er es auf diese Weise, mit Seufzen und Trauern, aufnahm, meinte sie, ein Haarbreit Boden gewonnen zu haben, und wollte ihn nicht noch mehr reizen, aber sie hätte ja gut darauf antworten können. Gute Herkunft, Bauernsohn – sie zeigte kein Verständnis für diese Gründe. Konnte jemand von guter Herkunft, stolzer Herkunft reden, so war es wohl in erster Linie sie, Julie, geborene d'Espard. Auch der Pastor hatte sie für die adlige Dame, die sie war, genommen.

Siehst du, sagte er, ich hatte ja etwas im Sinne mit alledem: wir können den Hof wiederbekommen, was meinst du dazu?

Was für einen Hof?

Den Hof meines Vaters. Wir können ihn wiederbekommen, wenn wir die Mittel dazu haben. Dann ziehen wir ins Kirchspiel hinunter, das ist besser für dich.

Nein, antwortete sie, das ist es nicht! Etwas in dieser Neuigkeit ließ sie übrigens aufmerken, sie fragte mit allgemeinem Interesse: Wann hast du die Mittel dazu?

Das kommt darauf an, das Allodial geht erst in zwanzig Jahren verloren, wir haben also Zeit. Und das will ich dir sagen, es geht mit jedem Tage vorwärts.

Sie: Warum in aller Welt hast du die Alp nicht ans Sanatorium verkauft? Dann hättest du auf einmal einen Batzen Geld gehabt.

Da lächelte Daniel schief: Nein, so dumm war ich nicht! Einen Batzen Geld, jawohl, aber wieviel Geld? Nicht viel. Weißt du, was Helmers Vater für seine Alp vom Sanatorium bekam? Einige hundert Kronen. Ich hätte vielleicht etwas mehr bekommen, aber was ich brauchte, waren nicht einige hundert Kronen, es war das Vielfache. Und wenn ich die Sennhütte verkaufte, wie sollte ich dann das Vielfache bekommen? Nein, danke schön, ich ließ mich nicht anführen! Hier arbeite ich mich mit der Zeit empor, ich verkaufe Tiere und Felle und Wolle, und bald werde ich auch Butter verkaufen, warte nur ein bißchen! Und die Alp, die liegt hier, die ist nicht fortgeworfen, die steigt Jahr für Jahr im Wert.

Ich verstehe mich nicht darauf und mache mir auch nichts daraus, sagte sie. Da das Fräulein aber nicht dumm war, machte sie sich ihre Gedanken: Ob er ihr Geld nicht mit in diese Berechnung zog?

Ja, wir kommen schon noch einmal ins Kirchspiel hinunter! tröstete er. Ein feiner Hof, Wald, Utby heißt er, Humus und Lehmboden, eine Wassermühle ist auch da.

Das Fräulein gereizt: Ich mache mir nichts daraus, das hörst du ja!

Doch, doch, du mußt daran denken, Julie, denk jetzt gleich mal daran! Es ist ein großer Hof, ich werde ihn hocharbeiten, du sollst es gut haben, und Julius soll den Hof bekommen, von dem er stammt.

Julius, sagte sie sinnend, nein, er stammt nicht davon!

Denk daran! bat er und streichelte ihr die Hand, sei nun froh und sag ja!

Sie rückte unruhig über seine Zärtlichkeit hin und her, ängstlich, daß es mit Gewalt enden würde. Geh weg! sagte sie.

Er erhob sich und ging zur Tür: Also Dienstag nächster Woche, das paßt gut! Sag nicht nein!

Sie blieb sitzen und grübelte. Nein, ihr Bauprojekt hatte ihn nicht berührt, ihr tüchtiges Köpfchen hatte wieder verloren. Ach, diese Verlobung rückgängig zu machen, war sicher das letzte, was er sich denken konnte, was würde das Kirchspiel sagen! Sie kannte ihn: er hatte ein bißchen getrunken und ein bißchen geprahlt, hatte ein Wort von Geld fallen lassen, das er in der Hinterhand hätte, hatte verlauten lassen, daß Helena noch bereuen sollte, endlich hatte er das Aufgebot durch den Pastor besorgen lassen – es war unmöglich für ihn, jetzt noch zurückzutreten. Was erzählte er da? Wollte er den väterlichen Hof wieder übernehmen? Er log sicher nicht, diese Idee war es, die allen seinen fleißigen Mühen auf der Senne zugrunde gelegen hatte; er wollte sich hocharbeiten. Da hatte sie seinen Weg gekreuzt, er wußte, daß sie viel Geld verborgen hielt, dies Geld konnte vielleicht den Hof seines Vaters mit einem Schlage einlösen –

Nein, er würde wohl nicht zurücktreten.

 

Daniel wurde von Kummer und Erbitterung zerrissen, sie hielt ihn sich ganz fern, er durfte sie nicht anrühren. Wozu sollte er sich herausputzen, auf den Zehenspitzen gehen, bei ihr anklopfen, ehe er bei ihr eintrat? Warum sollte er an Feiertagen die Kleider wechseln? Er verfiel und ward uneinig mit sich. Sie waren beide gleich unwissend und unentwickelt, aber in Barbarei und Ungewaschenheit war sie ihm ja unterlegen. Er hätte fortfahren können, sich fein für sie zu machen, liebenswürdig zu sein und eine Zigarre vor ihr zu rauchen, aber das hatte keinen Zweck, seine Annäherungen begegneten wütenden Augen: Geh weg!

Der Betrieb der Senne war in der letzten Zeit zurückgegangen, Daniel konnte die Arbeit mittendrin verlassen, Kartoffel und Turnip mochten selbst für sich sorgen. Er ging ins Kirchspiel hinunter.

Jawohl, er hatte auf eigene Faust das Aufgebot besorgt, er konnte auch die Trauung bestellen!

Im Bureau des Pastors bekam er etwas anderes zu wissen: er wurde davon unterrichtet, daß eben Einspruch gegen die Trauung erhoben war, ein Herr namens Fleming hatte sein Anrecht auf die Braut geltend gemacht.

Daniel mit langem Gesicht: Ach so – so –

Und da konnte der Pastor nicht gut –

Ja, aber es ist nur Phantasie und Erfindung von den beiden!

So? ja, aber es sei nicht sehr schön, sagte der Pastor, die Verhältnisse seien jedenfalls unklar.

Nein, alles sei klar, nur die Trauung fehle noch. Lieber Gott, sagte Daniel, es war doch schon alles entschieden, bis dieser Fremde kam und anfing, sie ihm durch sein Gerede abspenstig zu machen; da wurden sie beide verrückt und wollten es rückgängig machen.

Ja, sagte der Pastor und schüttelte den Kopf.

Ja, sagte Daniel auch. Und dazu ist der Mann ein Schwächling, am Rande des Grabes, der Blut spuckt, in den Händen der Polizei gewesen ist und alles mögliche. Er soll Geld genommen haben.

Nein, es war eine Art Versehen, er zeigte mir die Papiere, die Sache ist geordnet.

So, sagte Daniel, jaja, sagte er und schwieg ein Weilchen. Aber wir sind doch nun mal aufgeboten!

Ja, sagte der Pastor wieder und schüttelte den Kopf.

Und dann haben wir doch das Kind bekommen.

Ja, das Kind, nein, damit scheine es auch nicht richtig zu sein.

Damit auch nicht richtig –?

Dieser Fleming sagt, er sei der Vater des Kindes.

Was? ruft Daniel und sitzt dann mit offenem Munde da.

Der Pastor wird von dem guten Glauben, dem unverstellten Erstaunen, dem er hier begegnet, betroffen. Es war etwas Unheimliches, durchaus nicht Schönes an der ganzen Geschichte, aber dieser Bursche, der Daniel, besaß sein Mitgefühl. Ich weiß ja nicht, wie es zusammenhängt, sagte er, aber Sie stehen jedenfalls als Vater hier im Buche! – Er schlug im Buche nach und setzte den Finger auf eine Rubrik nach der andern.

Daniel erholt sich: Ja, daß ich der Vater bin, muß doch wohl feststehen. Er war ja fort, er war gar nicht im Lande. Ich hab' noch nie so was Verrücktes gehört!

Aber er behauptet, daß das Kind gezeugt wurde, ehe er vom Sanatorium abreiste. Das könnte ja auch mit der Zeit stimmen.

Mit der Zeit, ja, das kann sein, aber das Kind kam zu früh.

Hm. Nein, ob Sie sich nicht irren? fragte der Pastor mild. Er legte mir eine Bescheinigung des Sanatoriumsarztes vor, daß das Kind voll ausgetragen war.

Das ist doch nicht möglich! Die Erklärung hat er selbst geschrieben! Sie wurde von einer Kreuzotter gebissen und kam zu früh nieder.

Ja, einen Tag, stand in der Erklärung, oder einige Tage, stand vielleicht da. Aber das Kind war ausgetragen.

Daniel sitzt eine Weile in großer Verwirrung da, dann bricht er aus: Ja, aber die Mutter muß es doch wohl wissen!

Ja, das müßte sie wohl.

Ja. Und sie sagt die ganze Zeit, ich sei der Vater. Ich habe nie etwas anderes gehört. Sie sagte es auch in der neuen Stube daheim, daß die Paten es hörten.

Der Pastor schüttelte den Kopf: Jetzt behauptet sie jedenfalls, daß dieser Fleming der Vater sei. Er hatte auch eine Erklärung von ihr mit.

Schweigen.

Ja, sie sind verrückt geworden! sagt Daniel verloren.

Der Pastor möchte ihm wohl helfen, kann aber nicht: Es ist dumm für Sie, daß die Mutter nicht dabei war, als das Kind eingetragen wurde; wenn sie in die Enge getrieben wird, kann sie ja bestreiten, was Sie angegeben haben.

Ja, aber das tut sie nicht, antwortet Daniel, das ist nicht möglich, lassen Sie mich nur mit ihr reden!

Nun ja, vielleicht kommt es wieder in Ordnung, wir wollen es hoffen. Es ist nicht schön für Sie, das verstehe ich wohl. Und auf jeden Fall stehen ja Sie und kein anderer als Vater in meinem Buch.

Daniel geht zur Tür: Dann kann der Herr Pastor uns jetzt nicht trauen?

Hm. Nein, nicht ohne weiteres, Daniel, wir müssen die Sache erst ins reine bringen. Aber versuchen Sie nun, mit ihr zu reden und am besten auch mit ihm, dann ordnet es sich vielleicht. Wir wollen es hoffen!

Aber Sie sagen den andern doch nichts?

Nein. Das habe ich ihm auch gesagt. Aber das verlangte er auch gar nicht.

Daniel ging zum Kaufmann und machte seine Einkäufe, er war sehr nachdenklich, kaufte die paar Sachen, die ihm einfielen, für den Haushalt, vergaß vielleicht ein paar Dinge, die notwendiger waren, stand wie im Schlafe da, antwortete verkehrt. Auf dem Heimwege überdachte er die Sache gründlich, zuweilen blieb er stehen und starrte zu Boden, einmal, zweimal, dann drehte er sich um und ging zum Kaufmann zurück.

Nein, mit Wut und Drohungen kam er nicht weiter, dagegen konnte er etwas tun – etwas für sie – nach Vermögen, und wie es sich gerade traf. Er wandte sich an den Ladentisch und bat, ihm Seidenband zu zeigen: was kostet das? Er besah ein breiteres: was kostet das? Nun – einen Meter!

Aber sie nahm es wohl nicht an, warf es am Ende in die Ecke. Er konnte vielleicht so schlau sein und sagen, daß es für den kleinen Julius sei?

Das Fräulein war nicht zu Hause, aber Marta meinte, sie komme bald.

Daniel ging in die neue Stube. Es war nun dumm, daß das Kind schlief, sonst hätte er es ihm um den Hals binden, es ein bißchen ausstaffieren können. Nicht sein Kind? Unsinn, darüber wollen wir uns gerade streiten! Julius! rief er. Nein, es schlief. Daniel wickelte das Seidenband aus dem Papier und hielt es in seiner ganzen Länge hoch, es war blau und sehr hübsch, er begann es über den Spiegel zu knüpfen, brachte aber keine Schleife mit langen Enden zuwege. Er hätte sich selber sagen können, daß er kein Seidenband knüpfen konnte, es war Dummheit von ihm. Und ganz recht: als er es tüchtig verknüllt hatte, mußte er Marta hereinrufen, um ihm zu helfen. Aber da hing nun blaues Gedenkzeichen.

Hat sie gesagt, daß sie das haben will? fragte Marta.

Und Daniel antwortete: Ja, ich meinte es so zu verstehen.

Sie muß wohl bald kommen, sagte Marta und ging wieder hinaus.

Aber das Fräulein kam nicht. Daniel ging aus und ein, sang Martas wegen ein bißchen vor sich hin, ging zum Holzschuppen und zum Bach und ging schließlich in seiner Verzweiflung fort und häufelte seinen kleinen Kartoffelacker. Das war bald getan, und sein Körper wurde geschmeidig und gewandt, er hätte seine ganze Familie auf dem Arm tragen können. Dann schlenderte er in den Wald, den kleinen Pfad nach dem Sanatorium.

Er war gut geduckt worden beim Pastor, er wollte nicht spionieren, ihr nur entgegengehen, und er pfiff leise vor sich hin, um seine Friedlichkeit zu zeigen, vielleicht auch, um sein Kommen anzukünden. Er konnte sich denken, warum sie draußen war: sie hatte ja einen Abgesandten beim Pastor gehabt und war jetzt gegangen, um das Ergebnis zu hören. Ach, kleine Julie, es gibt kein Ergebnis, solange noch ein Funke von Leben in Daniel ist!

Er traf sie, lange ehe er den Schober erreicht hatte. Sie waren allein. Bist du spazierengegangen? sagte er friedlich.

Ja, ins Sanatorium, antwortete sie trotzig.

So, ins Sanatorium, sagte er.

Sie glaubte wohl, es würde wieder Streit geben, und schrie: Du lieber Gott, darf ich mich nicht rühren!

Du hast schlechte Nachrichten bekommen, denke ich, meinte er noch friedlicher. Er hatte sich gut in der Gewalt.

Nein, ich habe gute Nachrichten bekommen!

Ist der Graf abgereist?

Geh und frag ihn!

Daniel schwieg eine Weile, dann sagte er: Fürchtest du nicht, daß das eines Tages bös enden kann?

Was sollte bös enden?

Alles. Ich höre, daß du mir auch das Kind nehmen willst?

Das Kind – dir? – Mit diesem zweideutigen Ausruf blieb sie stehen und wagte wohl einen Augenblick nicht, ihm reinen Bescheid zu geben, nein, denn Daniel war so tief friedlich jetzt, so unheimlich friedlich. Ist Julius wach? fragte sie.

Ich möchte dich warnen, fuhr er fort, aber ich hab' dich schon einmal gewarnt, es hat keinen Zweck, ich tue es nicht mehr. Aber du kannst dir wohl denken, daß ich nicht auf deine Verrücktheiten mit dem Finnen, dem Grafen, eingehe. Und wenn du meinst, daß du mir das Kind nehmen könntest, so will ich dir nur sagen, daß ich und kein anderer im Buch vom Pastor stehe, also damit kommst du auch nicht weiter. Und du und ich, wir sind in der Kirche aufgeboten.

Hätte Daniels Stimme jetzt nicht so merkwürdig gezittert, so würde das Fräulein wohl darauf gepfiffen und es wieder Geschwätz genannt haben. Sie hatte ja ihr Wissen und ihre Beweise und hätte ihm alles unumstößlich dartun können, aber gerade jetzt wagte sie es nicht, das mußte aufgeschoben werden. Ach so, du bist beim Pastor gewesen, sagte sie nur.

Er schloß mit der Erklärung: Ich warne dich nicht mehr. Merk dir das!

Ach! höhnte sie, ich bin dieses Geschwätzes so müde!

 

Die Tage vergingen, der zur Trauung bestimmte Dienstag war überschritten, es gab keine Veränderung, das Fräulein fuhr fort, ihr Gesicht zu massieren, sie machte auch kleine Ausflüge in den Wald, hin und wieder nahm sie Julius mit. Soviel Daniel wußte, traf sie keinen mehr im Walde.

Was hatte sie vor? Wartete sie darauf, daß etwas Neues auftauchen sollte, oder wollte sie Daniel müde machen? Auch für das Fräulein war es keine gute Zeit, sie war von der Sache zerquält, schlaflos und wütend. Es war Daniels Widerstand, der sie anstachelte: hätte er ihr erlaubt, zu gehen, so würde sie vielleicht nicht gegangen, wer weiß, vielleicht auch eine Weile gegangen und wiedergekommen sein, Gott weiß. Seine Unerschütterlichkeit machte sie wild, sie weinte hysterisch und knirschte mit den Zähnen. Sie war nichts weniger als an ihn gefesselt.

Daniel begann öfter ins Kirchspiel zu gehen. Nein, er kaufte kein Seidenband mehr, der Meter, mit dem er einmal nach Hause kam, hatte weder genutzt noch geschadet, er hing über dem Spiegel in der neuen Stube und war blau und hübsch, hatte aber angefangen, Fliegenflecke zu bekommen; das Fräulein sagte nichts, dankte nicht dafür.

Hingegen ging Daniel ins Kirchspiel, um Bekannte zu treffen und mit Leuten zusammenzusein. Das war, was er dort wollte. Er war gebeugt und wortkarg: was wurde aus dem Triumph über das Kirchspiel! Sogar den kleinen Julius wollten sie ihm stehlen. Oh, aber Daniel wußte sehr gut, daß er in diesem wichtigen Punkte festbleiben mußte: er war als Vater eingetragen, mit allem Einverständnis des Fräuleins in Gegenwart Martas und der Paten in der neuen Stube. Das konnte sie nicht bestreiten, nicht wahr?

Die Freunde redeten ein wenig verblümt, es mußte durchgesickert sein, daß auf der Torahus-Alp nicht alles war, wie es sein sollte, Daniel selbst war verändert.

Wann heiratest du, Daniel? konnte einer fragen. Und Daniel konnte antworten: Ja, weißt du, das kann ich nicht sagen.

So, kannst du es nicht sagen?

Es kommt immer etwas dazwischen: dann paßt die Zeit nicht, dann haben wir keine Kleider, die fein genug sind – irgend was gibt es immer.

Das ist ja merkwürdig!

Oh, das weiß ich nicht, antwortete Daniel. Es ist ja nicht so, als wenn ein anderes Mädchen Braut ist, Julie muß doch ein Extrakleid dazu haben mit vielen Seidenbändern und Perlen.

Darüber lachten die Freunde und machten sich über ihn lustig.

Ich sagte es zum Spaß, rettete Daniel sich. Frauenzimmer müssen nun mal was Besonderes haben, meinte ich. Aber ich kann doch auch wohl nicht gut zum Altar gehen, wie ich hier gehe und stehe, und das ist fast mein bester Anzug.

Hast du so wenig anzuziehen?

Ja, so wenig hab' ich anzuziehen.

Da gibt es doch Rat!

Daniel: Ich hätte mir einen Anzug anmessen lassen sollen, aber jetzt ist Pfingsten und Feiertag gewesen, und da war es um alle Welt nicht möglich, einen Anzug genäht zu bekommen.

Ja, es war nicht bös gemeint! sagen die Freunde da. Und sie sitzen im Hinterzimmer beim Kaufmann, lassen sich Bier geben und trinken sich ein wenig glücklich und lärmend, vergeben einander die Sünden, die sie im Dusel geschwätzt haben, und beheben alle Mißverständnisse. Aber es war kein Zweifel, daß die Freunde etwas von Daniels Misere gehört hatten, er begann wieder in den Volksmund zu kommen.

Ich muß mal mit dir sprechen, Helmer, sagt er.

Jawohl, sie gehen zum Zimmer hinaus und schlendern zu Helmers Heim hinüber. Und was Daniel ihm sagen wollte, war, daß er wahrscheinlich heute jemand erschießen würde.

Heh? Nein, das darfst du nicht 1 sagt Helmer und schüttelt lachend den Kopf.

Doch, wenn ich dazu gezwungen bin.

Wer sollte das sein?

Ja, das ist einerlei, aber du hast es vielleicht gehört.

Nein, was soll ich gehört haben! Nun ja, ich könnte wohl dies oder jenes gehört haben, aber – Und was meinst du, was sie hinterher mit dir machen? Dann kommen sie und holen dich.

Das ist mir gleichgültig.

Nun mußt du Vernunft annehmen und kein Dummkopf sein! sagt Helmer. Und darum will ich dich nur bitten! sagt er. Es ist nicht das erstemal, daß ich dich bitte, es gab ein Jahr, da wolltest du Helena verbrennen, und davon hab' ich dich abgebracht.

Ja, was das betrifft –

Ich will nichts mehr hören, verstehst du! Und jetzt kannst du mit hineinkommen, ein bißchen heißen Kaffee bekommen und wieder vernünftig werden.

Daniel ging mit hinein, bekam Kaffee und wurde für eine Weile etwas weniger mutlos. Als er gehen sollte, sank er wieder zusammen; Helmer begleitete ihn hinaus, und Daniel fragte: Erinnerst du dich, was sie am Tage der Taufe sagte: daß das Kind mein wäre?

Ja, daß das Kind dein wäre –?

Trag dein Kind hübsch, Daniel, sagte sie. Und drück dein Kind nicht, Daniel, sagte sie. Das war in der neuen Stube bei uns. Ja, du hörtest es?

Das will ich gern beschwören!

Ja. Und jetzt gehe ich direkt nach Hause, rede mit ihr und mach es ihr klar. Es wird Abend, ich muß mich beeilen!

Helmer ermahnte ihn nochmals, vernünftig zu sein, und ließ ihn gehen. Er sah seinen Kameraden erst ein paar Wochen später wieder, und da war alles verändert, alles in Auflösung ...

Als Daniel heimkam, ging er direkt in die neue Stube. Ich bin schon zu Spott und Schande im Kirchspiel geworden, sagte er.

So, sagte das Fräulein.

Jetzt will ich wissen, an welchem Tage du dich mit mir trauen lassen kannst.

Was noch nie geschehen war, geschah jetzt, oh, sie war wohl so zerfoltert, so herunter: sie begann zu weinen. Ich will heim, rief sie aus, ich will fort von hier, heim! Was soll ich hier? Gott helfe mir, kein Mensch, nicht eine Seele, kein Laden, nicht ein Fenster, in dem man etwas sehen kann, keine Straßen, kein Schiff an der Brücke, des abends ist es dunkel, niemand fährt hier vorbei, nein nichts –

Sie weinte aus Hysterie und fragte, ob er fände, daß ein Sinn darin sei. Du hast nicht einmal den Akerselv gesehen, sagte sie, da sind viele Boote, ich habe dort mit den Knaben gerudert, wir nahmen die Boote ohne Erlaubnis, haha. Sei nun lieb, Daniel, es geht nicht hier, ich weiß nicht, aber es ist unmöglich geworden. Getraut? Höre nur, wie verrückt du bist: er wartet ja auf mich, und dann reisen wir, und da sagst du: trauen, trauen! Du siehst aus, als ob du es nicht verstehst, aber der Graf wartet ja, hörst du, ich hab' ihn lieb, ich hab' sein Geld bis jetzt aufgehoben. Aber wir wollen dir auch helfen –

Schweig nun und laß mich nur zwei Worte sagen, ruft Daniel: An welchem Tage willst du dich mit mir trauen lassen?

Trauen –?

Ja, das will ich nur wissen.

Ja, aber ich nehme das Kind und laufe fort damit! rief sie mit glänzenden Augen. Du kannst mir nicht nachlaufen, wenn ich das Kind habe, dann fallen wir und schlagen uns, dann schlägt Julius sich –

Daniel stampfte auf den Boden und schrie: Schweig!

Verzeih! sagte sie.

Daniel: Du bist ganz von Sinnen, und ich will nicht mehr mit dir reden. Und nun will ich dir nur eines ans Herz legen: daß du nicht mehr ins Sanatorium gehst, ehe wir getraut werden, verstehst du? Und du gehst keinem einzigen Menschen mehr im Walde entgegen, ehe wir getraut sind. Nein. Und das will ich dir nur sagen.

Sie schien hierüber oder über etwas anderes nachzudenken. Plötzlich wendet sie sich zärtlich und betörend zu ihm: Verzeih, Daniel, verzeih mir alles! Ich bin nicht gewesen, wie ich hätte sein sollen, das ist so wahr, wie du es sagst. Und ich hab' dich fortgejagt und nichts von dir wissen wollen. Aber jetzt weiß ich nicht – jetzt möchte ich es gern wieder, so wie du willst, gutmachen, wenn es dir recht ist. Sei nun lieb, Daniel! Und ich werde dir jetzt alles recht machen – willst du nun?

Ach, sie glaubte wohl, damit seine Erregung zu dämpfen, daß er hinterher schlaffer und umgänglicher wurde. In der Klemme war sie, in einer außerordentlichen Verwirrung war sie.

Sie schöpfte Luft und wandte den Kopf zum Fenster, vielleicht erwachte ihre Scham. Im selben Ton und ebenso ausdauernd wie zuvor fragte er sie: Wollen wir nun zum letztenmal nächsten Dienstag sagen, oder –?

Sie gab die Hoffnung auf, ihn umzustimmen, saß nur da und blickte in ihren Schoß.

Denn jetzt ist es genug mit dem Gerede über mich im Kirchspiel, erklärte er. Ich bin kein Landstreicher, ich bin von Utby, und alle Menschen kennen mich. Also was meinst du wegen Dienstag?

Sie ratlos: Ich werde hingehen und es ihm sagen.

Nein! schrie Daniel. Hab' ich nicht gerade gesagt, daß du nicht mehr hingehen sollst?

Ihm sagen, daß er abreisen soll – ich meinte nur –

Daniel: Das hab' ich schon gesagt, das ist nicht mehr nötig, er weiß es. O Gott, ich hab' ihm Bescheid gegeben!

Von jetzt an antwortet sie nicht mehr und sagt nichts. Er äußert, daß die Kleider, die sie hat, fein genug sind, und daß er selbst sich einen Anzug von Helmer leihen kann; er dringt in sie, daß sie die Papiere, die sie dem Pastor geschickt hat, zurückverlangen soll, die Erklärungen, alle diese Erfindungen. Sie antwortet nicht mehr.

 

Am nächsten Morgen.

Gewiß mußte sie mit Herrn Fleming reden, natürlich mußte sie es, ihn warnen, ihn zur Vorsicht mahnen, jetzt war nämlich die Gefahr größer als zuvor: Daniel war nichts weniger als wütend. Sie schickte sich zum Gehen an; wo Daniel war, wußte sie nicht, vielleicht im Kirchspiel unten, Marta war bei den Tieren beschäftigt, es war niemand in der Küche.

Gewiß mußte sie gehen. Sie hatte es ja schon früher gewagt, schon mehrmals, und konnte es jetzt, da es nötiger als je war, nicht lassen. Das würde schön aussehen! Was war übrigens Schlimmes dabei? Sie wollte verhindern, daß etwas geschah, ein Überfall in der Raserei, ein Unglück, was wußte sie! Ein gebildeter Mensch würde dankbar sein, daß sie eine böse Tat abwehrte, ein Mann von Herrn Flemings Schlage würde ein Verdienst darin erblicken; aber was hatte sie von Daniel zu erwarten? Oh, er war so wild, so verzweifelt; wenn er kam, erwürgte er sie vielleicht. Was tat der Ehemann in dem wundervollen französischen Roman, als er heimkam und den Geliebten seiner Frau im Schlafzimmer fand? Zuerst grüßte er, dann leuchtete er dem Geliebten mit einer Lampe die Treppe hinunter. Passen Sie auf! warnte er, die eine Stufe ist schlecht, fallen Sie nicht, mein Herr! Also das Auftreten eines Weltmannes, Grazie, Schliff. Hätte Daniel nicht ein bißchen Derartiges lernen sollen!

Sie hatte ihre gestrige furchtbare Depression überwunden und konnte denken; es war auch schönes Wetter heute, der Weg trocken, Vogelgesang und Laubduft im Walde. Sie schritt schnell und leicht dahin, aber sie durfte nicht lange von Julius fortbleiben.

Vor dem Schober traf sie Herrn Fleming; es war, als hätte er gewußt, daß sie, kommen würde. Er versuchte sie zur Umkehr zu bewegen, aber sie wollte nicht, wagte nicht: Nein, er ist vielleicht hinter Ihnen her, er hat Böses im Sinne! Statt daß Herr Fleming Daniels Gebiet zu nahe käme, wollte sie aufopfernd das Risiko auf sich nehmen, sich zu weit davon zu entfernen. Sie gingen in der Richtung des Sanatoriums und hielten sich in dessen Nähe. Sie setzten sich ins Heidekraut.

Sie erzählte, was sie wußte: Daniel war beim Pastor gewesen. Er kam gestern aus dem Kirchspiel zurück und war wütend und entschlossen; die Leute hatten wieder über ihn zu reden begonnen, und das wollte er nicht dulden! Sie fragte plötzlich Herrn Fleming: Können Sie verstehen, warum er solchen Wert darauf legt, was das Kirchspiel meint?

O ja, das konnte Herr Fleming verstehen, das war so in einem Kirchspiel, da kannten sich alle.

Und daß er Bauernsohn ist?

Jawohl, ja, darauf legen sie viel Wert, sie sind stolz darauf, ich weiß es von daheim. Ein Bauernsohn muß auf das Urteil der Leute mehr achten als andere.

Ganz als wäre es Adel! sagte sie lächelnd.

Herr Fleming nickt: Wenn ein Bauernsohn ausschweifend lebt, so kann das ehrenhafte Eltern ins Grab bringen – leider.

Warum sagen Sie leider? Nun, sagte sie abbrechend, was sollen wir tun? Er will sich Dienstag trauen lassen.

Das kann nicht geschehen nach meinem Einspruch.

Nein, aber diesmal ist es mehr als bloßes Gerede von Daniels Seite. Ich fürchte mich vor ihm.

Herr Fleming schlug vor, daß sie fliehen und vielleicht das Kind eine Zeitlang dalassen sollten.

Nein, sagte sie und schüttelte den Kopf.

Nur eine kurze Weile, nur bis sie alles geordnet und einen Beruf angefangen hätten.

Nein, das geht nicht. Sie können Julius nicht richtig gesehen haben, wie?

Ein prachtvolles Kind!

Was war das? fragte sie auf einmal. Mir war, als hörte ich etwas.

Sie sahen sich beide um – nein, nichts. Kurz darauf sagte sie: Ich habe gedacht, ob ich mich nicht eines Tages mit dem Kind auf dem Arm ganz bis ins Sanatorium schleichen könnte?

Ins Sanatorium, so –?

Und dableiben. Daß wir also alle drei dablieben?

Herr Fleming überlegte: Direktor Rupprecht war ja ein prächtiger Mensch, er würde es möglicherweise erlauben. Gewiß würde er es.

Dort müßten wir wohl sicher sein, sagte sie, niemand sollte uns dort wegbekommen. Wir könnten eine Zeitlang dableiben.

Aber es wäre furchtbar für Sie, die Dienerschaft, die Gäste, furchtbar für Sie mit dem Kinde, meine ich –

Ach ja, ich habe daran gedacht. Aber das müßte ich ertragen.

Herr Fleming lebhaft: Ich will mit dem Direktor reden!

Sie erörtern es weiter: das war die Möglichkeit mitten in aller Unmöglichkeit, aber sie jammerte ihn wegen des Kreuzes, das sie auf sich nehmen mußte.

Jetzt muß ich gehen, sagte sie und erhob sich. Ich bin ohne Erlaubnis gekommen.

Er erhob sich ebenfalls: Ich begleite Sie!

Im selben Augenblick erbleicht das Fräulein und steht wie erstarrt: dort sitzt ja Daniel, oben am Wege, auf einer kleinen Anhöhe, halb versteckt vom Gebüsch. Auch Herr Fleming sieht ihn jetzt, und sein Gesicht erhält einen gespannten Ausdruck.

Plötzlich ruft das Fräulein: Daniel, ich bin nur hier gewesen, um es zu sagen, jetzt laufe ich nach Hause!

Keine Antwort. Daniel hockt da und starrt, er ist zusammengekauert wie ein Raubtier zum Sprunge. Jetzt kann das Fräulein sich nicht mehr halten, und sie bekommt wieder einen Anfall. Oh, bist du da, Daniel, ruft sie weinend und exaltiert. Ich hab' ihm gesagt, daß er abreisen muß, aber er will nicht, ihr seid beide so toll nach mir, er will mich nicht verlassen, hörst du.

Und nun will ich – nun will ich eines Tages, wenn du es nicht siehst – dann will ich Julius mitnehmen – Julius mitnehmen –

Es war, als begänne sie zu buchstabieren.

Ich begleite Sie zurück! sagte Herr Fleming.

Nein, nein! rief sie, sorgen Sie lieber für sich selber! Daniel wendet die Augen nicht von ihnen ab, unmerklich und gleitend ändert er seine Stellung, er läßt sich auf sein rechtes Knie nieder, dann tastet seine Hand nach etwas auf dem Boden, im nächsten Augenblick hat er die Büchse an der Backe.

Das Fräulein wirft sich mit einem Schrei ins Heidekraut.

Soso – Liebste, nicht so! tröstet Herr Fleming.

Werfen Sie sich nieder! hört er das Fräulein sagen. Aber er vergaß seine Haltung nicht und fürchtete sich nicht, übereilte sich nicht, sprang nicht beiseite. Oh, Daniel hätte wohl auch vielleicht nichts getan, hätte vielleicht nicht getan, was er tat, aber ihn reizte wohl die Ruhe des Burschen: da wurde der nun bei dieser Begegnung ertappt, stand als der ärgste Lügner da und war noch vornehm obendrein.

Als der Schuß knallte, vergingen sogar noch einige Sekunden, ehe Herr Fleming zu Boden taumelte. Er bewegte die Finger ein wenig, zog das eine Knie ein bißchen hoch und lag dann still.

Das nächste, was das Fräulein merkte, war, daß Daniel von der Höhe herunter und auf sie zugeschritten kam, sie hörte ihn mehr, als daß sie ihn sah, das Heidekraut streifte seine Stiefel. Ein Schrecken durchfährt sie, sie wirft sich hoch auf den Ellbogen und fragt: Was willst du? Sie sieht, wie seine Augen abwechselnd sie und die Leiche suchen, sein Gesicht ist unkenntlich, sie sieht, daß er den Mund bewegt und vielleicht etwas sagt. Was willst du mit mir machen, hörst du? fragt sie jammernd. Als er nicht antwortet, springt sie auf und beginnt zu laufen. Das letzte, was sie von ihm sah, war, daß er dastand und den Toten beobachtete, ob er sich etwa bewege.

Sie war in der Richtung des Sanatoriums gelaufen. Als sie zu sich kam, blieb sie stehen und überlegte einen Augenblick, dann machte sie einen großen Bogen durch den Wald und ging heim nach der Sennhütte.

Daniel blieb zurück und betrachtete sein Werk, vielleicht mit ein wenig Neugier, ein wenig Verwunderung. Auch er war Mensch, er hatte vergessen, auf allen vieren zu gehen und seinen Feind zu zerreißen, dafür aber gelernt, zu schießen. Nein, er war keine Größe, kein Held, er war, wie Menschen sind.


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