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IX

So bekam der Doktor etwas mehr zu tun und nähte das Fräulein zusammen.

Er hatte auch Antwort vom Krankenhaus erhalten, daß Moß kommen könne. Der Doktor fühlte sich daher unentbehrlich und hatte wichtige Geschäfte.

Er war im übrigen kein harter Mensch, Moß tat ihm leid, und er hatte ihn länger behalten, als er eigentlich sollte. Mochte es nun gut oder schlecht sein, jedenfalls wies Doktor Öyen keinen fort, er war ein netter Mensch, dem es schwer fiel, scharf aufzutreten und jemand unglücklich zu machen. Außerdem brauchte das Sanatorium ja alle die Gäste, die es hatte.

Er bemächtigt sich des Mannes und bereitet ihn vor: mein lieber Moß, nun habe ich endlich eine gute Nachricht für Sie.

Moß' wundes Gesicht erblaßt und senkt sich: So. Jaja.

Ja, es ist in Ordnung. Meine letzte Eingabe war ja auch sehr dringend.

Moß scheint die Neuigkeit wie einen Schlag zu spüren, er sagt: Jaja, ich danke Ihnen! Aber er ist ganz gebrochen.

Der Doktor, um ihn zu erfreuen: Es ist das allerbeste für Sie, Sie bekommen gutes Essen und Trinken, Pflege, Kameraden, ganz wie hier. Und über kurz oder lang sind Sie wieder gesund, man findet ein Mittel, ein Serum, die Wissenschaft schreitet heutzutage im Sturmschritt.

Wann muß ich fort? fragt der Unglückliche.

Wenn Sie fertig sind. Lieber Freund, es kommt nicht auf die Stunde an, lassen Sie sich nur Zeit. Und wie gesagt: die Wissenschaft verrichtet Wunderdinge in unseren Tagen, sie entdeckt ein Serum, und Sie werden dem Leben wiedergegeben!

Moß sucht seinen Kameraden, den Selbstmörder, auf, setzt sich zu ihm und tut, als sei nichts geschehen. Sie haben sich jeden Tag, jede Stunde seit dem Unglück auf der Rodelbahn gezankt und gestritten, sie fangen auch jetzt wieder an, und merkwürdigerweise ist es Moß, der den Unfrieden einleitet. Es war, als brauche er ihn.

Haben Sie nasse Füße bekommen? fragt er.

Wie meinen Sie das?

Damals auf der Rodelbahn.

Schweigen Sie! antwortet der Selbstmörder.

Sie müssen einräumen, daß es feige von Ihnen war, uns mit dem Schlitten allein zu lassen.

Der Selbstmörder beißt an: Ich ging, weil Sie gekost werden wollten. Es war widerlich anzusehen!

Hahaha! sagt Moß. Und gestern meinten Sie, ich hätte das Fräulein totrodeln wollen.

Ja, wollen Sie mir sagen, wie es tatsächlich war. Sie kam halbtot nach Hause, Sie trugen sie. Sie liegt noch.

Nein, jetzt ist sie wieder auf und bald wieder ganz in Ordnung, tröstet Moß.

Sie haben sie jedenfalls fürs ganze Leben entstellt, jetzt läuft sie mit diesem roten Strich im Gesicht herum. Nicht allen ist der Zustand ihres Gesichts so gleichgültig wie gewissen Leuten.

Moß schweigt.

Es ist nicht einmal ein gerader Strich, es ist ein häßlicher, schiefer Strich, weil Sie nicht sehen und aufpassen konnten. Das ist alles so jämmerlich.

Kindereien und Gewäsch. Die Kameraden waren schlaff, Moß konnte sich heute nicht zu dem kleinsten Gefecht aufschwingen, er sagte nur – er bat: Machen Sie nur weiter, ich komme auch schon noch dran!

So ging es bis in den Nachmittag hinein, und an diesen kurzen Tagen begann es ja gegen vier zu dämmern. Der Selbstmörder wollte, daß Moß die gewohnte Wanderung in den Bergen mitmachte, sie hatten durch ihre vielen Ausgänge einen Weg im Schnee geschaffen, und jetzt war er gefroren und gut zu gehen.

Sie schreiten einer hinter dem andern, der Selbstmörder voran, Moß mit dem Stock hinterher, er scheint nichts zu sehen. Es ist ein klarer Nachmittag, der Vollmond liegt oben auf seiner blauen Seide wie ein goldenes Hundertkronenstück, aber im Westen sind einige Wolken. Unsicher! meldet der Wetteranzeiger, Dreieck über Viereck.

Es ist kein Kunststück für den Selbstmörder, den »Fels« zu ersteigen, er hat sich täglich durch mäßige Übung gekräftigt und gestählt, fängt an, sinnlos gesund zu werden. Er verhöhnt Moß, der mit dem Stock tastet und zurückbleibt. Und dabei tragen Sie heute eine Pelzmütze, sagt er. Der andere unterrichtet ihn, daß er die Pelzmütze vom Inspektor gekauft hat, weil sie die Ohren wärmer hält als der Hut. Was geht das übrigens Sie an? fragt er.

Was haben Sie dafür gegeben?

Nichts. Ich bekam sie für sechzig Öre. Sie ist gut genug für mich.

Ich würde nicht damit gehen.

Nein, antwortet Moß, Sie wollen sich wohl mit bloßem Kopf aufhängen – um den Mord nicht zu entehren.

Galle haben Sie noch, obgleich Ihr Gesicht schon halb aufgefressen ist!

Moß bleibt zurück, und der Selbstmörder ist schon weit voraus, ehe er merkt, daß er allein ist. Er sieht, daß Moß mit dem Stock tappt, und ruft ihm deshalb zu: Es ist nichts, nur der kleine Spalt, setzen Sie herüber!

Ich bin schneeblind, antwortet Moß. Wo sind Sie?

Der Selbstmörder muß umkehren und ruft ungeduldig: Was ist das nun wieder für ein Einfall? Sie sind doch jeden Tag über den kleinen Spalt gegangen.

Helfen Sie mir ein bißchen, reichen Sie mir die Hand!

Der Selbstmörder antwortet: Es ist nicht angenehm, Sie anzufassen, das müssen Sie einräumen. Sie sind überall wund! – Mit großem Widerwillen hilft er seinem Kameraden über den Spalt.

Ich verstehe es nicht, sagt Moß, es ist, als ob kein Gegenstand mehr klar ist, es wird alles so undeutlich um mich her. Ist dies nicht ein Stein? fragt er und schlägt mit dem Stock darauf.

Natürlich.

Und er scheint mir von grauer Farbe zu sein. Soviel sehe ich doch.

Der Selbstmörder mag ungern das Schlimmste glauben, er sagt: Sie sind also blind auf irgendeine spaßige Art. Kommen Sie nun und lassen Sie uns weitergehen!

Sie klettern höher. Aber der Selbstmörder sieht, daß sein Kamerad nicht die Richtung finden kann, er tritt oft neben den Weg und fällt, erhebt sich wieder und tappt weiter.

Es ist merkwürdig, sagt Moß, ich blieb unten zurück, weil ich gleichsam nicht sehen konnte.

Sehen Sie jetzt besser?

Viel besser, bedeutend besser, ich war ein wenig schneeblind. – Aber Moß tritt so oft fehl, und jetzt fällt er der Länge nach hin. Er entschuldigt sich gleich: Ich bin nur über etwas gestolpert. Natürlich sehe ich ebenso gut wie zuvor, daran fehlt es nicht. Dieser Busch, ist das nicht eine Birke, eine kleine Birke? Das sehe ich doch.

Das heißt, es ist eine Erle, ein Erlenbusch.

Hahaha! sagt Moß verlegen, ich meinte auch eine Erle.

Sie waren nun so hoch auf dem »Fels«, wie sie zu kommen pflegten, setzten sich jeder auf einen Stein und verschnauften sich. Es ging eine Wolke über den Mond.

Ich weiß nicht wozu ich diese Ausflüge mache, sagt Moß.

Wohl aus demselben Grunde wie ich, antwortet der Selbstmörder. Aus gesundheitlichen Gründen.

Gesundheitlichen – ich bin gesund genug für meinen Bedarf.

Man sagt das Gegenteil: daß es nicht schön mit Ihnen steht, daß Sie etwas Gefährliches mit sich herumtragen.

Moß setzt sich mit einem lauten Hohngelächter und antwortet: Unsinn, Doktorengeschwätz!

Er hielt sich noch gut, als aber eine Weile vergangen war, lachte er nicht mehr so tollkühn. Aus der Art, wie Moß jetzt umhertastete, um seinen Stock, den er beiseitegestellt hatte, wiederzufinden, schöpfte der Selbstmörder Verdacht.

Es ist am besten, daß wir nach Hause kommen, sagt er und erhebt sich.

Moß bleibt sitzen und antwortet: Es ist ja heller Mondschein.

Augenblicklich ist der Mond fort.

Ja, das sehe ich wohl. Gehen Sie voraus, ich will ein bißchen warten.

Nein, dann warte ich auch.

Sie sitzen noch eine Weile, und der Selbstmörder sagt: Kommen Sie nun!

Was wollen Sie? fragt Moß.

Was ich will? Heimgehen natürlich.

Gehen Sie voraus, hören Sie! Daß Sie ein solcher Narr sein können, Sie meinen wohl, ich könnte nicht gehen.

Der Selbstmörder überlegt: Jaja, jetzt gehe ich. Aber Sie sollen mitkommen.

Moß antwortet: Ihre Phantasie ist stärker als die meine, wie ich höre.

Schweigen Sie! ruft der Selbstmörder und faßt ihn an der Schulter. Ich muß Sie mitnehmen, ich bin dazu gezwungen.

Das brauchen Sie nicht. Wenn Sie Lust haben, gehen Sie. Jetzt ist es einfach rabenschwarz für mich.

Unsinn! unterbricht ihn der Selbstmörder. Das heißt, für mich ist es auch dunkel, auch rabenschwarz für mich.

Das glaube ich nicht.

Das glauben Sie nicht? Wenn wir jetzt gehen, will ich es Ihnen genau erklären.

Er kriegt den Kameraden auf die Beine, faßt ihn unten am Ärmel, und so beginnen sie die Heimwanderung. Es geht langsam, endlich sind sie wieder am Spalt, und da tritt Moß fehl und versinkt ganz. Es dauert eine gute Weile, ihn wieder heraufzuholen. Hierauf setzen sie sich und schöpfen Luft.

Sagen Sie jetzt nicht, daß ich Ihnen allzusehr mißfalle und daß Sie sich vor mir ekeln, spricht Moß, aber ich sage ganz offen, daß ich nichts sehe. Es muß Nacht sein.

Nein, dann müssen Sie wohl blind sein, sagt der Selbstmörder.

Gerade, was ich selber dachte! stimmt Moß zu und nickt. Es zeigt sich, daß ich recht habe.

Der Selbstmörder: Das ist nun wirklich nichts, womit man prahlt.

Ja, antwortet Moß, ich hatte völlig recht, und da gibt es auch nichts zu leugnen, Recht muß Recht bleiben.

Weiß der Doktor, was Ihnen fehlt?

Natürlich. Er hat längst gesagt, daß ich abreisen soll. Er hat einen Platz im Spital für mich bekommen.

Längst? Warum sind Sie denn nicht abgereist? Moß schweigt.

Ich verstehe nicht, daß Sie nicht abgereist sind.

Moß allmählich erbittert: Sie sind unglaublich lächerlich! Warum reisen Sie nicht selbst ab? Was fehlt Ihnen. Sie müssen ja selbst in eine Anstalt, Sie sind geisteskrank.

Durchaus nicht!

Doch. Und was geht meine Krankheit Sie an, was schnüffeln Sie?

Ich bin nicht geisteskrank, es ist nichts als Depression, seelischer Kummer.

Hahaha, sagen Sie das noch einmal! Als ob Kummer körperlich sein könnte! Sie wollen sich aufhängen, Sie müssen in die Anstalt. Der Unterschied zwischen Ihnen und mir ist nur, daß Sie eine Aufnahmeprüfung ablegen müssen, und das brauche ich nicht. Sie müssen zeigen, daß Sie verrückt genug sind.

Schweigen.

Ich bin es müde, Sie zu ziehen, aber ich muß Sie mit nach Hause nehmen, sagt der Selbstmörder unbarmherzig und zerrt den Kameraden mit. Sie kommen hinunter ins flache Gelände und bleiben wieder stehen. Moß trocknet sich den Schweiß mit dem Rockärmel von der Stirn, er ist sehr herunter. Der Selbstmörder teilt ihm mit: Es ist das letztemal, daß ich mich mit Ihnen abschleppe, damit Sie es wissen!

Moß antwortet: Ja, denn ich reise morgen ab.

Das ist gut!

Dann gehen sie weiter. Und im Gehen fragt der Selbstmörder plötzlich: Morgen schon? Reisen Sie morgen ab?

Ja, morgen.

Da haben Sie ja mächtige Eile. Aber mir ist es gleichgültig.

Moß antwortet nicht.

Haben Sie übrigens daran gedacht, wie es mir gehen soll? Wohl nicht.

Ihnen? Was geht das mich an?

Jaja, da lernt man Ihre Religion kennen!

Sie werden jeden Tag hier herumlaufen und zeigen, daß Sie nicht lebensfähig sind. Sie halten es für wichtig, daß Sie irgendwo sitzen, blinzeln, rauchen und weder Böses noch Gutes tun, aber, lieber Gott, nein, Sie schaffen damit nichts Notwendiges, keine Verkündigung, keinen allgemeinen Wert, tägliches Brot für einen Spatzen oder ein bißchen Märchen für ein Kind –

Schweigen Sie! Das ist ja Wort für Wort etwas, das ich gesagt habe, und das Sie auswendig gelernt haben.

Ja, das stimmt. Sie haben es von mir gesagt.

Sie haben etwas Kleinliches und Jämmerliches an sich, sagt der Selbstmörder. Dinge, die Sie hören, und die ein anderer fortwirft, heben Sie auf; Sie schnappen ein paar Worte auf und leiern sie ab. Selbstmord entehrt den Mord, plappern Sie. Es ist gut, daß Sie abreisen, denn ich bin Ihrer längst müde. Natürlich kann man wohl einmal an Mord statt an Selbstmord denken. Ich habe von einem Manne gehört, der seine Frau erschießen wollte – in die er übrigens verliebt war, aber das hat Zeit bis ein andermal. Nun, und hinterher wollte er sich selbst auch erschießen.

Da war die Geschichte aus.

Nein, es war ein Kind da. Sie hatten ein Kind, wie ich hörte.

Die Kameraden gehen jetzt eine Weile schweigend weiter. Dann sagt Moß: Ja, die Menschen haben es nicht gut.

Dies kleine Entgegenkommen übermannt den Selbstmörder, aber er räuspert sich, nimmt sich zusammen und antwortet abweisend: Was wissen Sie davon! Schweigen Sie, Sie können ja nicht einmal deutlich sprechen.

Wieder schwiegen sie eine Weile. Moß fällt der Länge nach hin und bekommt sogar das Gesicht voll Schnee.

Sehen Sie gar nichts mehr? fragt der Selbstmörder.

Doch etwas. Aber ich bin sehr schneeblind.

Sind Sie unheilbar?

Ich? kreischt Moß und bleibt stehen. Und auf einmal ist es, als ob seine Festigkeit bricht, er beugt sich tief vornüber, als wolle sein ganzer Körper ja sagen. Im nächsten Augenblick richtet er sich wieder auf und antwortet: Sie wollen wohl heute abend nicht mehr nach Hause kommen!

Ehe sie das Sanatorium erreichen, fragt Moß stöhnend: Ist es noch weit?

Nein. Können Sie nicht einmal die Lichter sehen?

Doch, natürlich sehe ich die Lichter. Ich fragte nur.

Jetzt bleibt der Selbstmörder stehen und fragt mit fremder Stimme: Wenn Sie könnten – ich sage nur, wenn Sie das könnten – nämlich –

Was denn?

Was denn? äfft der Selbstmörder kurz und böse. Das könnten Sie von selber wissen. Ich will nur sagen, daß ich es nicht weiß. Es ist möglich, daß es Ihnen helfen wird, mir hat es nie geholfen, zu Gott zu beten. Ich rate weder ab noch zu.

Zu Gott zu beten? fragt Moß verwirrt.

Der Selbstmörder wütend: Was denn? Sind Sie vielleicht darüber erhaben?

Moß hört wohl, daß die Keckheit des Kameraden vorgeschützt, daß der Kamerad der Verzweiflung nahe ist. Er wird selbst von der Bewegung angesteckt und kann nicht antworten.

Der Selbstmörder fährt fort: Ich habe von Menschen gehört, die glücklicher dadurch geworden sind. Die ruhiger gestorben sind.

Halten Sie Ihren Mund! jammert Moß.

Und jetzt gilt es für den Selbstmörder, seine Schwäche zu verdecken und wieder ein ganzer Kerl zu werden. Er greift zu dem ersten besten Scherz: Er hätte Gott nie bewegen können, ein paar Minuten bei ihm zu verbringen, nein, er käme nicht durch ein Loch im Dache zu ihm herab –

 

Am Morgen geht das Gerücht, daß Moß abreist, selbst Fräulein d'Espard hört es und schickt nach ihm – was sie nun auch von ihm wollen mag. Fräulein d'Espard ist selbst herunter und entstellt, jawohl, aber sie hat aufrichtiges Mitleid mit dem unglücklichen Moß und will ihm alles Gute tun, das in ihrer Macht steht. Moß scheint schlimme Ahnungen zu haben, er tastet sich in das Zimmer des Fräuleins und steht da als der Schuldige an ihrem Unglück auf der Rodelbahn. Ihre Augen werden feucht, als sie ihn sieht, diese Monate haben sein Gesicht bis zur Unkenntlichkeit entstellt, sie nimmt seine Hand und führt ihn zu einem Stuhl. Nein, er habe keine Schuld, wie könne er etwas so Dummes denken! Im Gegenteil, sie gedächte dankbar ihres Beisammenseins im Sanatorium, und dann sagt sie: Ich habe oft an Sie gedacht, es tut mir so leid, daß Sie so viel erdulden müssen. Aber irgendwo in der Welt wird sich wohl Rat für Sie finden, glauben Sie nicht? Sie sind so jung und tapfer, Sie kommen schon darüber hinweg.

Ich hörte, Sie hätten eine schlimme Wunde bekommen, antwortete Moß.

Durchaus nicht schlimm, sehen Sie selbst!

Ja, ich sehe. Schräg übers Kinn. Ja, das ist ein großes Unglück.

Das Fräulein mochte nichts dagegen haben, daß Moß von Schuld bedrückt dasaß, und gerade deshalb machte es ihr Vergnügen, ihn zu trösten und aufzurichten: Still! Sie dürfen an nichts denken, als wieder gesund zu werden. Die kleine rosenrote Narbe tut nichts! – Hören Sie, das müssen Sie nehmen! Stecken Sie es in die Tasche! Danken Sie nicht!

Was ist das? fragt Moß. Geld?

Nein, nicht der Rede wert! ruft sie exaltiert. Sie machen mir eine große Freude –

Danke, sagt er, ich brauche kein Geld.

Es könnte Ihnen doch von Nutzen sein. Sehen Sie, es ist nicht viel –

Aber ich kann es nicht brauchen, Fräulein d'Espard!

Ich verstehe Sie nicht, sagt sie enttäuscht.

Moß mit dumpfer Stimme: Ich gehöre zu denen, die ein öffentliches Heim bekommen. Ich erhalte einen Platz von Staats wegen.

So? fragt sie treuherzig. Was für einen Platz? Eine Stellung?

Ja, eine leichte Stellung. Ich brauche nur mit einer Rassel herumzulaufen und Unrein – Unrein! zu rufen.

Das Fräulein starrt ihn entsetzt an und flüstert: Sind Sie? –? Sie hält inne.

Moß nickt, erhebt sich und tappt zum Zimmer hinaus ...

 

Wer aber am schwersten über den Abschied von Moß hinwegkam, war sicher der Selbstmörder. Auch er wollte dem Blinden heimlich Geld in die Tasche stecken, als es aber nicht glückte, schalt er ihn eine ganze Weile aus. Es waren keine Kleinigkeiten, was er an Beschuldigungen und Schimpfnamen über ihn ausschüttete: Ich verstehe nicht, was der liebe Gott mit einem solchen Menschen hier auf Erden wollte. Und wenn ich Sie einen Menschen nenne, so tue ich das nur, um nicht zu weit zu gehen, aber es drückt meine innere Meinung nicht aus.

Weiter! sagt Moß.

Nein, ich mag nicht, antwortet der Selbstmörder, fährt aber dennoch fort. Oh, er war aufgeräumt und redete drauflos, er kannte kein Maß mehr, wurde heißer und übertrieb: Wie ich die ganze Zeit gesagt habe, Galle haben Sie, Galle und Bosheit und Eigensinn. Es sollte mich nicht wundern, wenn Sie sich darüber freuten, eine Welt zu verlassen, die Sie nicht mehr sehen können, während wir dazu verdammt sind, hier in der Naturschönheit zurückzubleiben. Das würde Ihnen ähnlich sehen. Wo fahren Sie jetzt hin? Das kommt darauf an, was Sie getan haben; Gott weiß, ob Sie nicht geradeswegs ins Gefängnis fahren.

Moß barsch: Wollen Sie hiermit etwas Unvorteilhaftes über mich andeuten?

Wie Sie wollen – ganz wie Sie wollen!

Ja, dann müssen wir uns schlagen! erklärt Moß und streckt die mit vielen Lappen umwundenen Fäuste empor.

Narrenspossen! Ich will überhaupt kein Wort mehr mit Ihnen reden. An Ihnen ist ein großer Affe verlorengegangen. Aber glauben Sie nur nicht, daß ich Sie nicht verstände, Sie sind so lächerlich einfach wie ein Kind, und Ihre ganze Ziererei ist nur gemacht. Was kann es Ihnen schaden, wenn Sie beim Weggehen einen kleinen Zehrpfennig in der Tasche haben?

Ich habe alles, was ich brauche, in der Tasche.

Ja, und dann kaufen Sie sich eine abgetragene Pelzmütze für sechzig Öre –

Sie mißgönnen mir nur ein warmes Kleidungsstück, das ist die Sache!

Unsinn! Ihre Kaltblütigkeit ist erzwungen, Sie beruhigen sich selbst mit solchem eigensinnigen Quatsch, na ja, Sie sind ein großer Mann in Ihren Augen. Ich möchte Sie eher einen armen Schlucker nennen, Sie sind voll von Eitelkeit, Sie. Woher ich das weiß? Weil Sie so verwirrt, so kindisch sind, daß Sie dastehen und eifrig Ihre eigene Frechheit unterstreichen. Glauben Sie, ich verstände Sie nicht? Das ist alles Verstellung und Großsprecherei ...

Der Briefträger, der ihn hinunterfahren soll, ruft vor dem Fenster, und Moß tappt hinaus; der Selbstmörder hilft ihm. Im letzten Augenblick reicht der Selbstmörder ihm sogar die Hand, aber Moß sieht sie nicht und sagt nur Auf Wiedersehen! in die Luft. Oh, ihm fällt nichts Besseres und Kräftigeres ein, er sagt: Auf Wiedersehen, Selbstmörder Magnus! – War das nun etwas! Da war der Selbstmörder wirklich tüchtiger gewesen, als er dem Kameraden mit seinem Schimpfen so großartig über die Abschiedsstunde hinweghalf.

Auf der Treppe steht die Wirtschafterin und wünscht glückliche Reise und gute Besserung. Der Doktor ist am Schlitten, er spricht leise mit Moß und hilft ihn einpacken. Zum Abschied sagt er laut: Frischen Mut, Antonius, denken Sie an das, was ich gesagt habe! Ja, danke! antwortet Moß. Und da es etwas schneit, sind es wohl nur ein paar elende kleine Schneeflocken, die er sich aus den Augen wischt.

Dann fährt Moß ab, in der Pelzmütze des Inspektors und dem Ulster des Selbstmörders – fährt zu seinem Lebendigbegrabenwerden. Kein Wunder, daß er sich so lange gesträubt hatte, Torahus und das Leben zu verlassen ...

 

Und dann ist gewissermaßen alles wieder in Ordnung.

Aber jetzt kommt Fräulein d'Espard an die Reihe.

Sie ist wieder gesund, sie steht auf, ja, sie ist wieder auf den Beinen, ißt ein bißchen, schläft ein bißchen und spricht ab und zu mit dem Doktor. Aber sie ist durchaus nicht guter Laune, der Strich übers Kinn ziert sie nicht. Sie fragt den Doktor, ob er nicht glaubt, daß die Narbe mit der Zeit verschwindet. Der Doktor antwortet: Gewiß, das werde sie. Unterdessen massiert das Fräulein ihr Gesicht mit Vaselin und Fingerspitzen.

Aber eines Tages –

Es beginnt damit, daß sie ausgeschlafen aufwacht und sich, da es Sonntag ist, hübsch anzieht. Es ist ein klarer Tag, und gleich nach dem Frühstück wandert sie wieder auf den Wegen im Schnee hinaus und bekommt rote Backen. Später liest sie die Zeitungen und geht dann hinauf in ihr Zimmer. Alles erscheint dem jungen Mädchen lichter als seit langem.

Zum Essen geht sie hinunter, da Sonntag ist und es also etwas besseres Essen als gewöhnlich gibt: Schneehuhn und Rote Grütze. Es sind jetzt nur noch ganz wenige Gäste da, so daß alle am selben Tisch sitzen, der Doktor als Wirt zu oberst, dann alle Pfarrerswitwen und die Detaillisten mit Damen und ganz unten die Wirtschafterin.

Plötzlich springt Fräulein d'Espard von ihrem Stuhl auf.

Was gibt es? fragt der Doktor und wendet sich an die Gäste. Keine Antwort. Was gibt es, Fräulein d'Espard? Nein. Der Doktor steht auf und will zu ihr gehen, aber sie eilt an ihm vorbei, schlägt die Türen zu, läuft, hält sich die Hand vor den Mund.

Zahnschmerzen! lächelt der Doktor und veranlaßt die Gäste, sich wieder ihrem Schneehuhn zuzuwenden.

Fräulein d'Espard stürmt hinauf in ihr Zimmer. Ihre Hand zittert, findet aber das Schrotkorn in ihrem Munde und findet den Zahn, jawohl, einen abgebrochenen Zahn, einen Schneidezahn, Schönheit – ach Gott, und sie rennt zum Spiegel und sieht die schwarze Lücke, die entsetzliche Lücke. Im ersten Augenblick unternimmt sie nichts, als sie dann aber vor dem Spiegel auf verschiedene Art zu lächeln, den Mund zu öffnen und zu lachen versucht, steigt eine zügellose Wut in ihr auf und sie bricht in eine Flut von Flüchen aus. Ihre kleinen Hände werden krallenartig, und sie fährt mit ihnen durch die Luft. Du lieber Gott, was konnte sie Besseres erwarten! Welchen Nutzen hatte Fräulein d'Espard jetzt von ihrer Gesichtsmassage und ihrer Mühe mit der rosenroten Narbe am Kinn? Welchen Nutzen hatte sie überhaupt von ihrem ganzen Plan, von der Dame in der Anzeige und von der Aussicht auf eine gute Partie hinterher? Alles hin!

Sie wollte ja das Schicksal am Kragen packen und beugen! War das aber nicht auch eine teuflische Art und Weise, daß es sie immer wieder gerade im Gesicht treffen mußte! Mit ihrem verdorbenen Aussehen war sie jetzt vollkommen hoffnungslos, und was sollte sie machen? Als sie ruhiger wird, findet sie gleichsam einigen Trost in dem dicken Geldpaket, das sie auf der Brust trägt, das gibt ihr etwas Halt. Solange sie es hat, braucht sie weder zu hungern noch obdachlos zu sein. Sie untersucht den Zahn in ihrer Hand und sieht, daß er schon vorher halb zerfressen war; es war nur eine Frage der Zeit gewesen, wann er brechen mußte, und ein Schrotkorn aus Daniels Büchse war hier an die Stelle einer harten Brotrinde oder eines Knochens getreten. Als ihre hysterische Wut vorbei ist, probiert sie nachdenklich und besonnen aus, wie sie in Zukunft mit ihrem verunzierten Mund lächeln und lachen soll. Ein trostloser Versuch.

Im Laufe des Tages durchdachte sie alle Möglichkeiten: eine neue Reise nach Kristiania oder alles aufzugeben, oder eine Reise nach Finnland. Nichts brachte ihr Ruhe, alle Auswege schienen ihr versperrt, sie war der Finsternis und der Verzweiflung überlassen. Sie durchwachte eine Nacht, der Morgen aber fand sie mit zusammengebissenem, festen Gesichtsausdruck. Es waren keine großen Pläne, die sie geschmiedet hatte, oh, jetzt konnte sie weder einen Grafen noch einen reichen Mann brauchen, aber sie hatte einen Entschluß gefaßt, wußte, was sie mit sich beginnen wollte.

Sie geht ins Rauchzimmer, sammelt einige alte Zeitungen zusammen und steckt sie unter den Arm, dann schlägt sie den Weg nach dem Walde ein.

Es war vielleicht nicht so ganz richtig und angebracht, daß sie gerade jetzt nach Daniels Sennhütte hinüberzugehen gedachte, um über Zahnschmerzen und ihre vielen Sorgen zu jammern, aber sie hatte ihre Entschuldigung und hatte wohl auch ihre Absicht dabei. Es war sicher nicht verrückter als manches andere, das ihr hätte einfallen können. Daniel war ein Mann, der sich auf allerlei verstand, er hatte schon manches erlebt, hatte sowohl seinen väterlichen Hof wie seine Liebste verloren, er wußte, was gute Pflege, saure Milch und guter Mut bedeuteten. Es ist Montag heute, und Daniel wohl mitten in irgendeiner Arbeit.

Ganz richtig, sie trifft Daniel auf halbem Wege bei dem kleinen Schober im Walde. Er will wieder Heu einholen, und jetzt, wo gute Fahrbahn ist, zieht er das Heu auf dem Schlitten. Ein Glück vielleicht, ein merkwürdiger Fingerzeig des Schicksals, daß sie ihn schon hier, auf halbem Wege, trifft.

Sie grüßen und freuen sich wie gewöhnlich über die Begegnung, es sei so lange her, daß sie sich zuletzt gesehen, das Fräulein sei wie weggeblasen gewesen.

Sie macht sich mit den Zeitungen zu schaffen und reicht sie ihm, er könne vielleicht des Abends ein bißchen hineingucken.

Er dankt und tut geradezu glücklich. Lesen sei die schönste Erholung, die er kenne, er wollte selbst eine Zeitung halten, aber es sei noch nichts daraus geworden, sagt der Heuchler, und dabei kann er kaum lesen.

Er könnte täglich Zeitungen vom Sanatorium bekommen. Sie wollte sie ihm gern bringen. Wenn die Gäste sie gelesen hätten, würden sie doch immer verbrannt.

Verbrannt?

Verbrannt, nickt sie. Zeitungen in allen Sprachen!

So was hatte er noch nicht gehört! Aber sie hatten ja viel Geld drüben im Schlosse, sie waren so reich. Wie Sie mich hier sehen, sagt er, bin ich immer noch mein eigenes Pferd.

Jaja, das ist wohl nicht gerade schön, antwortete sie.

O doch, er könne nicht klagen. Ein Pferd könne er leicht haben, er habe Kredit und einen guten Ruf bei den Leuten; wenn er ins Kirchspiel ginge, könne er noch in dieser Stunde ein Pferd haben.

Das ist ja großartig.

Noch in dieser Stunde. Aber er wolle bis zum Frühjahr warten.

Das ist das Gute, Daniel, daß Sie eine so prachtvolle Laune haben.

Gott segne Sie, bricht er hingerissen aus, ich habe meine Hände, ich habe Haus und Heim und Kühe. Hin und wieder verkaufe ich einen Ochsen, schieße Hasen und Schneehühner. Zum Frühjahr habe ich ein Pferd, dann pflüge ich das Ried hier und säe.

Da ergreift sie die gute Gelegenheit, ihren Mund zu zeigen: Eines von seinen Schrotkörnern hat einen von ihren Zähnen abgebrochen, das sei reizend, ob er sich nicht schäme!

Er hebt die Arme vor Schreck und Verzweiflung, da sie sich aber so gut damit abfindet und weder weint noch ihm Vorwürfe macht, faßt er Mut: Wirklich, es sei fast gar nicht zu sehen, es tue im Grunde nichts, sie sei ebenso hübsch und lieb deswegen –

Ach Gott, hübsch? Sehen Sie! Das hab' ich auch bekommen, seit wir uns zuletzt sahen. Eine schöne Narbe, nicht wahr?

Sie muß den ganzen Vorgang auf der Rodelbahn erzählen, und Daniel nickt plötzlich und sagt: Da hätte ich steuern sollen!

Ja, das stimmte.

Das nächste Mal brauchen Sie nur nach mir zu schicken, ich komme mit meinem Schlitten.

Schon jetzt muß sie über seine Entschlossenheit und muntere Sprache lächeln und sieht getröstet aus, sie faßt vertraulich seinen Arm und fragt: Sieht es nicht furchtbar aus, wenn ich lächle?

Was? Die kleine Lücke? Ich wette, daß ich es nicht gesehen haben würde, wenn Sie es nicht selbst gesagt hätten. Das ist ja gar keine Lücke.

Hahaha!

Und außerdem bin ich sicher, daß man Sie deshalb ebensogut küssen kann, sagt er übermütig.

Oh Sie! sagt sie und schlägt nach ihm.

Sie setzen sich in den Schober, und da ist Sonne, und da ist eine ganze Wand von Staub, die sie wie ein Vorhang verbirgt, alles ist, als wäre es geradeso für sie gemacht. Als er sie küßt, schreit sie ja ein bißchen und sagt hinterher: Nein, wie schlimm Sie sind!

Ja, mit Worten konnte ich es nicht ausdrücken! antwortet er.

Sie erhebt sich und sieht nach ihm zurück; wenn er gut gewaschen wäre, so würde er ein hübscher Bursche sein, der große Mund war nicht das schlechteste. Jetzt müssen Sie mir die Halme abbürsten! sagt sie.

Ja, wenn ich noch einen Kuß bekomme.

Sie lächelt einladend und antwortet: Nachher vielleicht.

Aber er bürstet sie nicht ab, er faßt nach ihrem Arm und will sie wieder zu sich herabziehen. Es glückt nicht, nein, er übertreibt, sie muß ein wenig Zeit haben. Der Bursche schien ja ein ganz gerissener Hund, ein Teufelskerl zu sein, man mußte ihn ein wenig im Zaum halten. Obwohl ihr Aussehen soviel verloren hatte, mußte sie es doch riskieren, sich ein bißchen kostbar zu machen und ihn zu zügeln.

Sie steigt aus dem Schober und schüttelt ihr Kleid, und um seinen Lohn zu erhalten, steigt er auch herunter und bürstet sie ab. Da hört er plötzlich auf.

Nein, nein, Sie dürfen ihn sich nicht nehmen! ruft sie. So! Ja, aber das durften Sie nicht. Ich hatte ihn Ihnen versprochen, aber Sie hätten ihn sich nicht nehmen sollen, ich hätte ihn Ihnen von selber gegeben.

Es ist noch nicht zu spät, daß Sie ihn mir von selber geben.

Sie sind aber auch zu gefräßig, bitte! Aber ich komme morgen mit mehr Zeitungen wieder. O Gott, ich habe solche Zahnschmerzen, und mir ist so schlecht, Daniel!

Ja, Zahnschmerzen sind nicht schön, sagt er auch, ich hab' zweimal welche gehabt. Marta hat oft Zahnschmerzen, sie kann wochenlang damit herumlaufen, ohne etwas zu sagen. Ich für meinen Teil habe mich nie an Zahnschmerzen gewöhnen können.

Ja, und dann hätten Sie dazu so viel anderes Ungemach haben sollen wie ich.

Ach zum Donnerwetter, für alles andere gibt es Rat. Aber Zahnschmerzen –!

Das ist das Schlimmste, was Sie kennen?

Ja, das ist es.

Sie zählt andere Übel auf, Kummer, Schlaflosigkeit, Schickungen überhaupt. Darauf beißt er nicht an. Aus was für einem Stoff er gemacht sei, ob er sich nie unglücklich fühle? Doch, vor einem Jahre. Aber das Leben, der ganze Kampf, die Qualen? Nein, solche fernliegenden Dinge verstände er nicht.

Er versucht, sie wieder in den Schober zu bekommen, aber das überhört sie. Ja gewiß, er ist ein Teufelskerl, das sieht sie ihm an. Er starrt sie an und zuckt nicht mit der Wimper, sie schlägt die Augen nieder, und als sie wieder aufsieht, hält er seinen Blick noch auf sie geheftet. Er weiß in diesem Augenblick nur eines: daß sie lieb und sanft, daß sie voller Reiz ist und einen schmiegsamen Körper hat. Er genießt sie im voraus, ist erhitzt wie ein Ofen. Diese Stärke in seinem Verlangen ist im Grunde die Tugend seines Fehlers.

Sie macht ein paar Schritte und zieht sich halb ängstlich von ihm zurück. Es liegt jetzt über ihm etwas Menschenfresserhaftes, er hat so höfliche Gebärden, aber die Nasenflügel beben, die weißen Zähne leuchten, sein Bauch tritt ein wenig vor.

So, jetzt muß ich gehen, sagt sie.

Nein! protestiert er. Oh, aber es nützt nichts, das Fräulein ist schon ein gutes Stück weg, und er sieht ein, daß sie jetzt im Ernst geht. Gehen Sie nicht, gehen Sie nicht! ruft er.

Sie winkt mit der Hand zurück.

Kommen Sie nie wieder?

Doch, morgen. Ich habe Ihnen ja mehr Zeitungen versprochen ...

 

Am nächsten Morgen.

Es war vielleicht wieder nicht richtig, nach dem Schober zurückzugehen, aber es lag ein Sinn darin. Warum sollte sie sich sonst wohl gestern vorgefühlt haben? Fräulein d'Espard hat nicht die Wahl zwischen vielen Auswegen.

Da geht sie, ein Mensch auf Erden auch sie, ein Wanderer, ein kleines Mädchen, Herrgott, ein verirrtes Leben, ein Keim. Sie ist gar nicht niedergedrückt, achtet darauf, daß sie nicht neben den Weg tritt und Schnee in die Stiefel bekommt. Es ist übrigens heute ebenso schönes sonniges Wetter wie gestern, das Zeitungspaket hält sie unterm Arm, sie weiß, was ihrer beim Schober harrt, und da geht sie nun. Manche nennen es freien Willen.

Er hat heute seinen Schlitten gar nicht mitgebracht; vielleicht, weil er den Schober nicht ganz von Heu leeren wollte oder weil er sonst irgendeinen Hintergedanken dabei hatte. Er ist ein wenig besser gekleidet und hat sich besonders gut gewaschen.

Da er nicht wie gestern einen Fehlschlag riskieren will, geht er vorsichtig zu Werke. Oh, er ist so behutsam und hält sich ganz am Rande, sie sogar, und nicht er, geht zuerst in den Schober und setzt sich. Aber er könne nachkommen, sagt sie, wenn er brav sein wolle! Ja, sagt er nachdrücklich, das will er!

Sie sprechen über die Zeitungen, sie zeigt auf ein oder das andere Stück, das sie ihm empfiehlt, und ja, das wird ihm Vergnügen machen! Wirklich, er beherrscht sich gut, sie hat ihm eine Lehre erteilt. Es geht so weit, daß sie davon murmelt, nach Hause zu gehen, und noch legt er den Arm nicht um sie. Er war nicht so recht er selber, er schwatzte und redete zuviel, zeigte sich und scherzte. So macht sie denn der Sache ein Ende und stammelt: Sie taten mir leid gestern – weil ich fortging. Ich würde es jetzt tun – wenn Sie mich darum bäten, meine ich –

Der Kuß?

Ja – das, was Sie wollten. Ich habe Mitleid mit Ihnen ...

Hinterher ist alle Spannung ausgelöst, sie sinkt zusammen und weint. Sie kann es nicht ertragen, nein, das kleine Mädchen wurde seit vielen Wochen von einem heimlichen Unglück gequält, ihre Kräfte sind geschwunden. Sie bricht in Schluchzen aus, sie erhebt sich, steht in der Tür und zittert.

Er versteht es nicht und ist erschrocken, er weiß nichts von Hysterie und fragt, was ihr fehlt. Er streichelt sie und ist lieb: So, so, warum weinen Sie?

Da stehe ich nun und heule! schluchzt sie. Es endet mit einem halben Gelächter, zwischen Weinen und Lachen.

Er zieht sie wieder ins Heu, und so lange girren sie, bis seine Tollheit noch einmal erwacht und sie wiederum nachgibt.

So ein Kerl! Er redet von ihr, spricht sich über sie aus: Sie sei großartig, Herrgott, tadellos! Er sei, offengestanden, etwas anspruchsvoll in bezug auf Leibesschönheit, aber so etwas wie sie –!

Können Sie nicht schweigen! ruft sie und verbirgt das Antlitz.

Nein, er schwieg nicht, dies unerwartete Abenteuer mit einer Städterin, einer feinen Dame, hatte ihm den Kopf verdreht, der Mund ging ihm durch, und er prahlte weiter über sie. Nicht, daß er nicht auch mit sich selber zufrieden gewesen wäre; er schwoll vor Stolz.

Meinen Sie nicht, daß das schlimm werden kann? fragt sie.

Schlimm? Ja natürlich, aber nein, daran sollte sie nicht denken. Warum sollte es gerade schief gehen?

Die Folgen! sagt sie wie überwältigt. Die Folgen!

Er ist lauter Leichtsinn und will nicht recht darauf eingehen. Jetzt seien Sie lieb und beunruhigen Sie sich nicht! tröstet er. Ich versichere Ihnen, daß es keinen Sinn hat. Behüte, wenn Ihnen etwas zustoßen sollte! Da nützen meine beiden starken Hände nichts. Aber ich will Ihnen eines sagen: wir sind genau wie Flaumfedern, die durch die Luft fliegen, wie Gott es bestimmt hat. Dabei ist nichts zu machen. Ich will lieber meinen ganzen Hof verlieren, als daß Sie meinetwegen zu Schaden kämen, und deshalb sollen Sie nicht für nichts und wieder nichts dasitzen und grübeln, darum bitte ich Sie –

Torheiten und unzusammenhängendes Geplapper. Sie hätte wohl auch selbst am liebsten nicht davon geredet, aber sie fand es doch klug, es jetzt schon zu erwähnen, es auszusprechen, dann kam es später nicht unerwartet. Sie war wieder voller Umsicht. Auch war sein leeres Geschwätz nicht ohne einen gewissen Trost, das Fräulein brauchte seine Freundlichkeit, das Helle in seiner Anschauungsweise wirkte gesund, seine Schultern waren gut und breit. Er hätte sie sicher wie ein Kind auf die Arme nehmen und, heim in seine Sennhütte tragen können. Auf jeden Fall hatte sie einen Halt an ihm.

Jaja, dann will ich ruhig sein, wenn Sie es sagen! erklärt sie. Wenn Sie mir helfen wollen, sagt sie.

Oh, ich–! Aber ich will alles tun, was Sie wollen, verlassen Sie sich darauf! Es soll Ihnen nichts zustoßen, dafür stehe ich ein!

Ja, das müssen Sie auch, Daniel! Ich habe nur Sie –

Sehen Sie! Sie kommen zu mir und zu keiner lebenden Seele sonst, ob Sie nun rodeln wollen oder etwas anderes.

Nein, das ging schief, er dachte sozusagen zu gedankenlos, und so brach sie für heute ab und verabschiedete sich. Vorläufig mußte sie sich Ruhe gönnen, sie war ein Stück weitergekommen, und nun wollte sie schlafen – essen und schlafen. Was war geschehen? Die völlige Eroberung vollzogen und entschieden geglückt. In einer Woche oder in zweien einen neuen Schritt vorwärts!

Mit leichterem Sinn als sie gekommen war, ging sie heim, von einem Druck befreit, den sie so lange getragen hatte. Das kleine Mädchen, es hatte sich nicht ergeben, sondern sein Bestes getan, Pläne geschmiedet, geordnet, eingegriffen, trotz dem Schicksal. Was sie durch dieses Manöver erreichen würde, war nicht unverdient ...

Tag auf Tag verging, die Ruhe, die sie sich selber schuf, tat ihr gut; sie bekam wieder bessere Farbe, und ehe sie am Abend einschlief, lag sie da und sah ins Dunkel, die Seele im Lichte ruhend. Für ihre Verunzierung hatte Daniel keine Augen, davon konnte sie absehen. Jedesmal, wenn er sie traf, wurde er entzückter von dem, was von Julie d'Espard übrig war. Übrigens war sie auch keine Ruine, durchaus nicht, ihr Körper war noch ebenso tadellos, und was den elenden Schneidezahn betraf, so konnte sie sich einen Stiftzahn machen lassen, das hatten so viele tun müssen ...

Rechtsanwalt Rupprecht wurde im Sanatorium erwartet. Der Inspektor und die Wirtschafterin wollten sich gern ein wenig vorbereiten, wollten innen und außen schmücken, Wege ebnen und vor allem Essen schaffen, frisches Essen – ein Komplott mit dem Selbstmörder an der Spitze begann wieder über die Konserven zu klagen.

Die Wirtschafterin verlangte Fisch, frische Forellen. Der Inspektor war kein Fischer, er war alter Matrose, jetzt war er außerdem Inspektor, Vorgesetzter, und so wandte er sich deshalb an Daniel. Daniel schlug ein Loch ins Eis des Bergsees und stand den ganzen Tag mit seiner Angel da, und hier traf Fräulein d'Espard ihn und brachte ihm ihre unheimliche Nachricht: Jetzt wäre es leider schief gegangen, sie sei sicher, hätte es übrigens vom ersten Augenblick an gewußt. Wüßte er nicht mehr, daß sie es gesagt hätte?

Was sollte Daniel antworten? Hm. Jawohl. So.

Jedesmal, wenn Daniel in diesen Tagen die Schnur hochgezogen hatte, war Wasser mit heraufgekommen, und dieses Wasser war zu Eis geworden und hatte es glatt und gefährlich um das Loch herum gemacht. Er bat sie, nicht zu nahe zu kommen.

Ach Gott, was tut das! sagte sie. Es wäre am besten, wenn du mich gleich nimmst und ins Loch stopfst!

Er legte das Angelgerät beiseite, kam zu ihr herüber, nahm sie in seine Arme und setzte sie ein Stück weiterhin nieder. Gleichzeitig küßte er sie gründlich.

Gott segne dich! flüsterte sie unter Lächeln und Tränen und fiel ihm um den Hals.

Er war selbst glücklich, auf diesen Streich verfallen zu sein, der so herzlich auf sie wirkte. Er überhob sich kräftig und sagte: So machen wir's damit!

Ja, das sagst du wohl, aber ... Aber was soll ich tun!

Weine nicht, weine nicht! Wir bringen es schon in Ordnung!

Ich danke dir! Ich freue mich so, daß du mir helfen willst!

Dir helfen? Hab' ich nicht gesagt: Komm zu mir! Wir müssen wohl Rat finden, wenn wir zu zweit sind. Hier stehe ich auf dem Eise und verdiene Tag für Tag Geld und nicht so knapp –

Geld, sagt sie, das hab' ich selbst auch ein wenig.

Er stutzt. Jawohl, er hat es ja gesehen, hat vor einigen Wochen ein dickes Geldpaket bei ihr gesehen, und jetzt, da er sich dessen entsinnt, hatte er es sogar an seiner Brust gespürt, wenn er sie in seinen Armen hielt. Was hat es also zu sagen! meint er laut.

Jaja, stimmt sie ihm zu und fügt sich.

Hüte deine Gesundheit! ruft er ihr nach, als sie geht. Paß auf, daß du keinen Schnee in die Stiefel bekommst!

Das war wirklich gut gegangen. Daniel war ein Staatskerl, er war genau wie so ein feiner französischer Herr in ihren Büchern, ein Monsieur ohne Furcht und Tadel, selbst seine Sorglosigkeit war ansprechend. Sie ging oft zu ihm aufs Eis und unterhielt sich mit ihm, zuweilen fand sie ihn an einem neuen Loch, das er hatte schlagen müssen, und zuletzt zog er ganz hinauf zum höchsten Gebirgssee und fischte fleißig. Lieber Gott, er fing nicht sehr viel, aber für Daniel, der so genügsam war, machte es schon etwas aus. Seine gute Laune schwand nicht. Das sei für Kaffee für Marta, sagte er, und es sei ein guter Verdienst für einen Wintertag! Das Fräulein fragte, wieviel er für jeden Fisch erhielte, aber das konnte er nicht sagen, denn es war nicht immer gleich, es kam auf Größe und Gewicht an. Jeder Fisch reichte zu einem guten Schluck Kaffee mit Zucker, und er konnte sogar noch etwas zurücklegen. Überhaupt prahlte er scherzhaft: es käme für ihn darauf an, daß die Ausgaben einigermaßen die Einnahmen deckten und nicht umgekehrt!

 

In dieser Zeit hatten die weiblichen Gäste im Sanatorium etwas vor, sie kamen zusammen wie zu einer Krähenversammlung und diskutierten; eine der Damen saß mit einem Bleistift da und notierte etwas auf ein Stück Papier. Jedesmal, wenn Fräulein d'Espard kam, wurde es still.

Das war Fräulein Julie d'Espard gleichgültig, oh, so vollkommen gleichgültig, sie war die rechte Dame, um zu tun, als sähe sie die ganze Krähenversammlung gar nicht! Aber auf die Dauer wurde es langweilig, so ausgeschlossen zu sein. Sie machte Annäherungsversuche, bot jedem, der sie leihen wollte, französische Bücher an, kam aber damit nicht weit. Der Aufenthalt hier wurde langweilig, wurde einsam, der Mensch hält das Alleinsein so wenig aus wie die Krähe. Sie hatte zwar Daniel auf dem Eise, aber es war ein langer, kalter Weg bis zu ihm am höchsten See, der Selbstmörder war weniger unterhaltend, seit sein Kamerad abgereist war, der unglückliche Selbstmörder hatte wieder angefangen, seinen Gedanken nachzuhängen, und hatte sein Klettern in den Bergen eingestellt. Er rührte auch keine Kugeln auf der Kegelbahn mehr an.

Es verbesserte daher die Laune des Fräuleins, daß der Rechtsanwalt kam. Er war so glatt und wohlwollend, so hilfsbereit, und da Fräulein d'Espard einer der ältesten Gäste war, nahm er besondere Rücksicht auf sie, zum Neid und Ärger der andern.

Der Rechtsanwalt konnte ein wenig von Herrn Fleming erzählen, und davon war dies und jenes dem Fräulein neu: daß er schon in Kristiania festgenommen war und wegen seiner Krankheit im Krankenhaus liegen und sich erholen konnte, während die Auslieferungsfrage geordnet wurde. Er bezahlte übrigens selbst für sich und war ganz Edelmann. Das merkwürdigste war, daß die finnischen Behörden gleichsam nicht ernsthaft gegen den Fälscher vorgingen und selbst baten, dem Patienten gute Pflege angedeihen zu lassen. Gott weiß, wer er überhaupt ist und was er Böses getan hat! sagte der Rechtsanwalt. Vielleicht gar nichts, vielleicht ist es nur ein Mißverständnis, das wieder gutgemacht werden kann. Sie und ich, Fräulein d'Espard, wissen es nicht.

Nein.

Nein. Was sollten wir in einem Sanatorium von unsern Gästen wissen? Wir fragen sie nicht aus, wir nehmen sie für das, als was sie sich ausgeben. Hierher wimmeln sie aus Osten und Westen, von hier ziehen sie wieder fort, wohin, wissen wir nicht; die meisten verschwinden für uns, wenn sie ihres Weges gereist sind, das Leben schlägt über ihnen zusammen. In einem Sanatorium kommen und gehen sie, ein Aufenthalt hier ist kein Lebenslauf, wir verschaffen ihnen Ruhe und Zerstreuung, manchen verschaffen wir Gesundheit und Leben, aber sie sind alle nur eine begrenzte Zeit hier. Wir haben vielleicht ein paarmal Abenteurer beherbergt, nun ja. Wir sind keine Polizei. Zuweilen erreicht uns eine Nachricht, eine Zeitungsnotiz erinnert uns an irgendeine Person, die wir hier gesehen haben. Erinnern Sie sich an die Prinzessin?

Ja.

Die englische Ministersgattin! Ja, jetzt heißt es, sie sei weder Lady noch Prinzessin. Sie soll entschleiert sein. Das geht uns nichts an. Sie war soundso lange mit Dolmetsch und Kammerjungfer hier, wir haben keinen Schaden durch sie erlitten, unsere Rechnungen wurden bezahlt. Daß in Wirklichkeit Frau Ruben für sie bezahlen mußte, das ist ihre Sache und nicht unsere. Wenn Frau Ruben für sie bezahlte, so hatte sie wohl ihre Gründe dafür. Apropos, Frau Ruben ist viel dünner geworden.

Das habe ich gehört.

Viel dünner, viel beweglicher, bedeutend hübscher, es ist ein Vergnügen zu sehen. Es sollte mich nicht wundern, wenn das die Nachwirkung ihres Aufenthaltes auf Torahus wäre. Ich werde selbst wie neugeboren, wenn ich heraufkomme. Nicht wahr, Sie finden es auch gesund hier?

Gewiß.

Obwohl Sie eigentlich nicht abgenommen haben, das kann ich nicht sagen, Sie sind eher stärker geworden.

Fräulein d'Espard puterrot: Ich bin genau, wie ich war.

Aber vielleicht doch ein wenig stärker, nur einen Gedanken natürlich. Und gerade so soll es sein: Abmagerung für die Dicken und vermehrtes Gewicht und etwas Wohlbeleibtheit für die Mageren. Das macht gewiß das Wasser hier, ich muß es wirklich einmal analysieren lassen. Oh, es gibt so vieles, das ich tun müßte. Vor allem die Flagge. Denken Sie, wir haben die ganze Zeit keine Flagge gehabt, ich hab' sie auch diesmal vergessen. Wir haben zwei Flaggenstangen, eine auf dem Dach und eine drüben auf der Wiese, aber keine Flagge. Aber zu Weihnachten müssen wir unbedingt eine Flagge haben. Apropos, ich habe Schuldirektor Oliver zu Weihnachten eingeladen. Sie haben sich ja gut mit Direktor Oliver gestanden, nicht wahr?

Ja.

Ich habe ihn zum Weihnachtsaufenthalt eingeladen. Ich möchte ihn gern hier halten, er ist ein bekannter Mann, ein großer Name. Als er jetzt im Herbst nach Hause kam, schrieb er sehr lobend über unsern Ort, diese Heilstätte in den Bergen, und über unsere Leistungen hier. Es stand in einer lokalen Zeitung, aber jetzt möchte ich gern, daß er in einem großen Blatte darüber schreibt, ich glaube, das wird ihn auch persönlich mehr befriedigen.

Das Fräulein sagt: Wir hatten vor einiger Zeit Besuch vom Gendarmen. Er kam, um uns zu verhören.

Über Herrn Fleming, ja. Das erfuhr ich hinterher, ich war leider nicht anwesend, sonst hätte ich es verhindert. Ich hoffe, daß er rücksichtsvoll auftrat? Das fehlte nur! Ich will übrigens wieder mal beim Amtmann vorsprechen, ich verlange Frieden für unsere Gäste.

Da Sie Herrn Fleming erwähnen – er ist doch wohl nicht gestorben – er lebt doch noch?

Das hoffe ich, antwortet der Rechtsanwalt, immer mit gleichem Wohlwollen und gleicher Glätte allen, auch dem abwesenden Fälscher gegenüber. Ich habe nichts gehört, aber ich hoffe wirklich, daß Herr Fleming Nutzen von seinem Aufenthalt hier gehabt hat und daß es ihm besser geht. Herr Fleming war ein äußerst liebenswürdiger und ansprechender junger Mann, adlig und fein, mit musterhaften Manieren, kommt er wieder, so steht ihm das Torahus-Sanatorium offen. Wir haben überhaupt Glück mit all unsern Gästen gehabt, lauter nette Leute, deren Wiederkehr eine Freude für uns sein würde. Was die Prinzessin betrifft, so war sie gar keine schlechte Reklame für uns, auch sie soll gegebenenfalls wieder willkommen sein. Ein Auftreten, ein Air! Ich weiß nicht, ob so etwas Bedeutung für Sie hat, aber ich muß sagen, daß es auf mich wirkt; nennen Sie mich einen Narren, soviel Sie wollen!

Es hat auch für mich Bedeutung, sagt das Fräulein.

Natürlich. Sie sind ja Französin. Ja, die Prinzessin war schon gut. Sie sprach mit dem Doktor und mir und uns allen, als wären wir ihr Gesinde. Es schadet nichts, einmal eine kleine Lektion in Prinzessinnenwesen zu erhalten. Doktor Öyen fragte, ob er seine Besuche bei ihr in Handschuhen machen müsse, aber das hielt ich für eine Übertreibung, er hätte ihr vielleicht den Puls fühlen müssen, und dann wären sie hinderlich gewesen. Nein, man soll nicht servil sein, wir haben unsere Selbstachtung. Aber ich bereue heute noch, daß wir keine Flagge hatten, als sie kam.

Jawohl, aus Rechtsanwalt Rupprecht sprach hin und wieder ein etwas kindischer Mensch, er hatte einige Narrenspossen, etwas Snobbismus, naive Feinheiten von seinem Milieu gelernt; aber was er von früher her hatte, war von größerem Wert: seine Gutmütigkeit, seine Dienstbereitschaft, die ausgezeichneten Wirtseigenschaften. Er war auch nicht ohne natürlichen Takt, der war ihm angeboren, und so tat er, als sähe er Fräulein d'Espards entstelltes Gesicht gar nicht. Als sie ihn schließlich darauf aufmerksam machte, beugte Rechtsanwalt Rupprecht sich vor, um besser zu sehen, und sagte: Wenn Sie es sagen –!

Oh, sagte sie und lachte, welche Delikatesse!

Ja, wenn Sie es sagen! Ich sehe nicht mehr ganz so gut wie früher, aber wenn Sie mich darauf aufmerksam machen, so merke ich es natürlich. Die Narbe macht nichts, nicht die Spur, Sie haben jetzt den Vorteil, daß Sie sich keine Schönheitspflästerchen mehr aufzukleben brauchen.

Ja, sagte sie lächelnd, mit Schönheitspflästerchen muß ich jetzt wohl aufhören.

Ein Strich wie der ist keineswegs entstellend. Wie haben Sie ihn bekommen?

Als er den ganzen Vorgang auf der Rodelbahn zu hören bekam, beschäftigte er sich gleich damit, wie er Wiederholungen vorbauen könnte. Die Bahn sollte im Sommer von Baumstümpfen und Steinen gereinigt werden, schon jetzt zu Weihnachten wollte er mehr Schnee aufschütten, auf jeder Seite der Bahn Pfähle setzen lassen, alles sollte getan werden. Ja, jetzt ist es nicht mehr lange bis Weihnachten, sagte er. Sie bleiben doch hier, Fräulein d'Espard?

Ich glaube.

Aber ich hoffe es! Sie sind einer unserer liebsten Gäste. Ich komme selbst her, auch andere kommen, ich habe mit vielen gesprochen. Jetzt wollen wir auch den See vom Schnee reinigen und eine feine Eisbahn für die kommenden Gäste machen. Ich glaube, sie werden sich gut unterhalten. Überhaupt: wir wollen Torahus zu etwas Großem und einzig Dastehendem machen; solange ich Direktor des Unternehmens bin, werden wir keine Mühe scheuen. Das nächste ist elektrisches Licht. Das kommt. Zum Frühjahr werden wir alle unfertigen Räume einrichten und möblieren. Sind wir dann fertig? Nein, dann müssen wir bauen. Es hat sich gezeigt, daß das Sanatorium zu klein ist, wir müssen erweitern. Hier gilt es eine kleine Welt zu verwalten –


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