Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

IV

Wenn Rechtsanwalt Robertson nach dem Sanatorium kam, hatte er vielerlei im Betrieb zu ordnen, hier mußte er erheitern, dort raten, er hatte seine Geduld und sein Wohlwollen nötig, aber er war so liebenswürdig, daß er selten seine Autorität brauchte.

Die erste, nach der er fragte, war Mylady, und: danke, es ging ihr gut. Sie war vornehm und exklusiv, las Zeitschriften, badete, machte kleine Ausflüge mit ihrem Dolmetsch, dem norwegischen Mädchen, stand gegen Mittag auf und aß ihr eigenes Mittag um acht Uhr abends. Es schien ihr gut zu bekommen. Ach, Mylady hatte wohl auch ihr Päckchen zu tragen, sie war zwar nicht krank, aber ihr Mädchen konnte erzählen, daß sie zuweilen weinte und schwermütig war. So war wohl auch für Mylady etwas in Stücke gegangen.

Sie finge an, eine große Rechnung zu machen, sagte die Wirtschafterin.

So? Das sei ja großartig! antwortete Rechtsanwalt Robertson. Je größer, desto besser! sagte er.

Diese Sache konnte er stehenden Fußes entscheiden. Andere waren verwickelter. Der Doktor sprach mit ihm über den Selbstmörder. Der verfluchte Selbstmörder hatte seine Perioden: warum sollte er noch aus dem Bett aufstehen, warum sollte er Kleider anziehen, warum essen, reden, seine Beine gebrauchen? Über kurz oder lang wäre er ja doch tot! Zu andern Zeiten war er ganz guter Laune und konnte sogar Kugeln auf der Kegelbahn rollen. Er war ein Mann der Ordnung und bezahlte seine Rechnung.

Ja, dann weiß ich nicht, was wir mehr für ihn tun könnten, sagt der Rechtsanwalt.

Der Doktor antwortet: nein, das könnten sie nicht. Andererseits drohte er ja zuweilen mit seinen dummen Streichen und wollte ein Ende mit sich machen. Man könnte nie wissen.

Ob er sich hier oder anderswo das Leben nimmt, kommt ja schließlich auf eins heraus. Das ist wenigstens meine Meinung. Aber es könnte dem Sanatorium schaden.

Eben! antwortete der Doktor. Macht er Ernst, so verursacht er Störung unter den Gästen, und der Ruf des ganzen Ortes leidet darunter.

Glauben Sie selber, daß er sich aufhängt?

Vielleicht nicht gerade, daß er sich aufhängt, das ist zweifelhaft. Es gibt ja andere Möglichkeiten. Er hat selbst die Idee, daß er eine außerordentliche, ganz ausgefallene Todesart erfinden muß.

Wieso?

Es ist nur Unsinn. Selbstmord scheint für ihn niedriger als Mord zu stehen, und daher gilt es, eine Todesart von höherem Niveau zu finden.

Sagt er das?

So ungefähr. Ein Niveau, daß sie auf gleicher Höhe wie Mord steht.

Sowohl der Doktor wie der Rechtsanwalt lachen, lachen natürlich und verständig. Ja, sagt der Rechtsanwalt, müßten wir nicht Ehrfurcht vor dem Morde haben, müßten wir uns nicht zum Mord erheben! Es ist köstlich!

Sie einigten sich dahin, daß sie diese seltsame Gestalt noch eine Weile im Sanatorium behalten und abwarten wollten.

Dann kam Anton Moß, sein guter Kamerad mit dem Ausschlag, an die Reihe. Es war nicht gerade angenehm, ihn hier zu haben, sein Gesicht schmückte weder die Veranda noch das Speisezimmer, aber er tat auch keinen Schaden, und die anderen Gäste schienen auch seinetwegen nicht ausziehen zu wollen. Inspektor Svendsen hielt viel von ihm, er half gelegentlich abends bei der Buchführung und sprang auch, wenn die Gäste es verlangten, bei einem kleinen Kartenspiel ein.

Einer nach dem andern von den Patienten des Sanatoriums wurde durchgehechelt und erörtert, und der Rechtsanwalt landete wieder bei Mylady, der englischen Ministersgattin: ihr fehlte doch wie immer nichts?

Ach doch, der Doktor gab ihr Arsenpillen zur Kräftigung und Schlafpulver. Ihr Gemüt war nicht ganz intakt. Der Doktor war mehrmals bei ihr vorgelassen worden und hatte gewisse Eindrücke von ihrem Zustand empfangen: einmal war sie erregt gewesen, weil der Briefträger vom Sanatorium mit der Mütze auf dem Kopfe vor ihr gestanden hatte, einmal hatte sie sich über etwas Wäsche geärgert, die zum Trocknen aufgehängt und von ihren Fenstern aus sichtbar war. Nun, keine dieser Bagatellen war weiter auffallend, und beides wurde geändert. Sonst war Mylady ein umgänglicher Gast, sie hielt sich für sich, ging und kam mit ihrem Mädchen und störte niemand. Wenn es Doktor Öyen Schwierigkeiten machte, mit ihr zu sprechen, so half die Dolmetscherin aus, und das ging wirklich gut, das norwegische Mädchen übersetzte seine Antworten haarscharf. Im übrigen war es ja meist Mylady, die das Wort führte. So sagte sie, daß sie von Dingen, wie diesem Unterzeug und diesen Laken, die an der Leine hingen, graue Haare bekommen könnte. Bei einer späteren Gelegenheit erklärte sie, weshalb sie bis mittags im Bett lag. Ja, weil das Morgenlicht sie anschrie, sagte sie, sie ankreischte. Ach, es war grausam! Denken Sie Sich, Herr Doktor, den Morgen nach einem Ball: Der Abend ist schön gewesen, die Nacht weich und wiegend – und dann morgens bei Tageslicht zu erwachen! – Was ihren allgemeinen Gesundheitszustand betraf, so war sie sich selbst klar darüber, daß er in Verfall geriet, sie war überanstrengt, glaubte aber keineswegs, daß sie dem Tode nahe sei, sie lächelte und sagte: Sterben würde mir nicht ähnlich sehen!

Hat sie Musik verlangt? fragte der Rechtsanwalt.

Im Gegenteil, Musik hat sie sich verbeten. Nicht, daß sie den andern Gästen die Musik verbot; als aber der Pianist Selmer Eyde fragen ließ, ob sie eine besondere Art Musik, zum Beispiel von dem Edelmann und Engländer Sullivan, wünsche, antwortete sie, daß sie überhaupt keine Musik wünsche. Insofern hätte Selmer Eyde hier ja eigentlich nichts mehr zu tun, schloß der Doktor. Besagter Eyde gehe auch herum und sei sehr unzufrieden, obgleich er nur den halben Preis bezahle.

Meiner Meinung nach, sagte der Rechtsanwalt, ist Eyde hier von großem Nutzen. Auch darin sind wir andern Sanatorien voraus, daß wir einen festen Musiker als Gast haben. Ist das nicht auch Ihre Meinung?

Ja! antwortete der Doktor zustimmend. Dazu sei er ja da.

Rechtsanwalt Robertson streckte die Beine aus und sagte: Ich habe schon Reklame gemacht mit unserm festen Musiker. Es kommt dieser Tage in die Presse.

Der Doktor lächelte, schüttelte den Kopf und gab seine Bewunderung zu erkennen. Und der Rechtsanwalt schwoll noch mehr: Wir müssen Torahus zu einem vornehmen und guten Ort machen, es ist interessant, sich damit zu beschäftigen. Nicht wahr, es ist eine Befriedigung, wenn man sieht, wie es mit einer Arbeit vorwärts und aufwärts geht? Mir fällt die praktische, Ihnen die wissenschaftliche Betätigung zu. Es wird schon gehen!

Gewiß wird es gehen!

Um auf etwas anderes zu kommen: ich kann Mylady nicht im Gothaischen Kalender finden.

Der Doktor fragt einfältig: Nun ja. Aber was tut das?

Da haben Sie recht, was tut das! Nicht die Spur! Der Rechtsanwalt entwickelt auch über diese Sache seine Ansicht: sie sei jedenfalls Ministersgattin, er habe »Prinzessin« in die Zeitung gesetzt. Man müßte Myladys Aufenthalt auf Torahus ausnutzen, sie müßte sich unbedingt lohnen. Prinzessin Soundso mit Dienerschaft. Die Zeitungen seien sehr entgegenkommend. Wenn man nur etwas für sie tun könnte, etwas Besonderes. Könnte man nicht eine Bauernhochzeit für sie zustande bringen mit Hochzeitsbitter, Geigenspieler und Nationaltrachten?

Der Doktor zweifelte, daß das Mylady hinauslocken würde. Sie machte sich nichts aus den Menschen von hier, aus unserm Land.

Ob sie nie mit jemand spräche?

Doch, mit Frau Ruben. Merkwürdigerweise mit Frau Ruben. Sie habe einmal sogar Frau Ruben auf ihrem Zimmer besucht.

Nun, meinte Rechtsanwalt Robertson, das ist nicht so seltsam. Es zieht sie dorthin, wo sowohl ihre Sprache wie sie selbst verstanden wird. Frau Ruben ist international.

Aber es gäbe ja auch andere hier. Warum spräche sie zum Beispiel nie mit Herrn Fleming?

Gott weiß. Apropos, wir haben Herrn Fleming vergessen. Erholt er sich?

Eigentlich nicht, antwortete der Doktor. Er flammt auf und erlischt gleich wieder, es ist keine anhaltende Besserung. Es wäre nicht gut, wenn dieser prominente Gast hier kränker würde, wenn die Luft vielleicht zu scharf für ihn sei und er am Ende stürbe.

Sollte man ihm raten, abzureisen? Aber mit welcher Begründung? Daß die Lage nicht gut für ihn sei? Kein Erholungsheim in der ganzen Welt würde deswegen einen lieben Gast fortschicken. Machte Herr Fleming sich nichts aus dem Leben?

Der Doktor erklärte, daß Herr Fleming sich in den letzten Tagen gebessert habe, er sei bei guter Laune und berichte selbst, daß er besser schlafe. Auf seine Art auch ein Sonderling, dieser Herr Fleming, er gehe täglich zur Nachbarsenne und trinke saure Milch. Er schlafe wohl auch manchmal drüben. Kurz: die letzten Tage hätten ihm gut getan. Die Wirtschafterin ließe sogar verlauten, daß er mit den Mädchen geschäkert habe, na ja, aber doch nur mit Fräulein d'Espard.

Na, Donnerwetter, sagte der Rechtsanwalt, dann macht er sich schon was aus dem Leben!

Sie wurden einig, ihn so lange wie möglich im Sanatorium zu behalten. Hinterher sprach der Rechtsanwalt sogar mit ihm persönlich und bekam einen ausgezeichneten Eindruck von seiner Gemütsverfassung. So konnte Herr Fleming scherzen, daß er fester Abonnent auf saure Milch auf der Nachbaralp geworden sei. Sie tue ihm gut, sagte er, erfrische ihn. Das einzige, was er bei Daniel vermisse, sei eine junge, hübsche Haushälterin.

Nichts als Heiterkeit und Lebenslust.

Und das freute den Rechtsanwalt so, daß er auch das Verhältnis mit Selmer Eyde, dem Komponisten, ordnete. Es fiel ihm leicht, er verfuhr nur auf seine natürlichste Art und Weise.

Bertelsen kam; er war blaß vor Erbitterung oder Wut, was es nun sein mochte, beantwortete nicht den Gruß des Rechtsanwaltes und war grob dazu. Ich verbitte mir, daß Sie mir Bittsteller auf den Hals schicken, sagte er.

Die beiden Herren waren gute Bekannte von Kristiania her, und der Rechtsanwalt meinte daher, daß er nicht den Mund zu halten brauche. Er fragte: Haben Sie Ihren Frühschoppen nicht bekommen?

Was geht das Sie an? antwortete Bertelsen. Aber Sie hetzen einen verhungerten Klavierspieler auf mich, der eine Auslandsreise von mir haben will.

Ach so, Eyde! sagte der Rechtsanwalt. Ich wußte nicht, wo Sie hinauswollten. Ist er bei Ihnen gewesen?

Ja. Und er sagte, er käme von Ihnen. Aber ich verbitte mir ganz einfach solche Bestellungen von Ihnen, daß Sie es wissen!

Der Rechtsanwalt gab ihm recht: Nein, das kann ich gut verstehen. Der junge Mann ist ein bißchen aufdringlich, ein hitziger Künstler, der nicht die Spur warten kann. Ich habe ihn Ihnen natürlich nicht geschickt, er erwähnte Sie selbst.

Der Kerl kommt einfach zu mir und fragt, wie es mit dem Stipendium stünde und wann er es bekommen könnte.

Hahaha! lachte der Rechtsanwalt, er ist in der Beziehung nicht ganz zurechnungsfähig. Ich habe übrigens Achtung vor diesem glühenden Drang, hinauszukommen. Und ich bin sicher, daß Sie das auch haben.

Ja, aber nicht auf meine Kosten, das weiß der Teufel! keucht Bertelsen erbittert. Ich glaube, ihr seid alle beide verrückt. Er sagte, er käme von Ihnen.

Jetzt sieht der Rechtsanwalt Fräulein Ellingsen auf sich zukommen und hinter ihr Fräulein d'Espard und Herrn Fleming. Der Rechtsanwalt sagt: Er kam natürlich nicht von mir. Als der Mann aber selbst sagte, daß er versuchen wollte, zu Ihnen zu gehen, antwortete ich wohl so etwas wie: Ja, tun Sie das nur! Es ist nicht das erstemal, daß man sich mit einem solchen Anliegen an Herrn Bertelsen wendet! Etwas Derartiges muß ich ihm geantwortet haben.

Bertelsen beruhigt sich ein wenig und sagt: Das ist doch eine unverschämte Art und Weise, mich so ohne weiteres anzurempeln.

Guten Tag, Fräulein Ellingsen! grüßt der Rechtsanwalt. Wir sprechen von Herrn Eyde.

Bertelsen dreht sich um, erblickt sie auch, grüßt aber nicht. Kurz darauf stoßen Fräulein d'Espard und Herr Fleming zu ihnen, so daß sie nun zu fünfen die Musikerfrage erörtern können. Der Rechtsanwalt tritt warm für ihn ein, welchen Grund er auch dazu haben mag, er lobt wieder den Eifer des jungen Mannes und sagt, daß er ihn achtet. Was meinen Sie, Fräulein Ellingsen?

Über den Eifer halte ich mich ja gar nicht auf, unterbricht ihn Bertelsen jetzt. Nur über seine Art und Weise. Was habe ich mit seinem Stipendium zu tun!

Na, na, machen Sie sich nicht schlimmer als Sie sind, sagt der Rechtsanwalt fein und verschlagen. Sie wissen sehr gut, es ist nicht das erstemal, daß es jemand auf Sie abgesehen hat. Und soviel ich weiß, wäre es heute auch nicht das erstemal, daß Sie einem Talent helfen. Entschuldigen Sie bitte, daß ich diese Ihre Eigentümlichkeit der Gesellschaft hier offenbare.

Bertelsen ist nun sehr besänftigt, der verteufelte Rechtsanwalt hat ihn bei der rechten Stelle gepackt und ihn zu mehr als einem gewöhnlichen Holzhändler gemacht. Er blickt verstohlen die Anwesenden an und schlägt dann die Augen nieder.

Er spielt großartig! sagt Fräulein d'Espard von Selmer Eyde. Sie versteht vielleicht am wenigsten davon, und deshalb redet sie am meisten. Nicht wahr? fragt sie und wendet sich an Fräulein Ellingsen.

Freilich.

Ja, wovon ist denn eigentlich die Rede?

Der Rechtsanwalt antwortet: Von einer Reise, gnädiges Fräulein, einem Studienaufenthalt in Paris.

Das ist keine Kleinigkeit, sagt Bertelsen.

Da fragt plötzlich Herr Fleming: Um wieviel handelt es sich?

Alle schweigen einen Augenblick, worauf der Rechtsanwalt halblaut überschlägt: ein Jahr Aufenthalt, die Reise hin und zurück, Unterricht, Verschiedenes –

Aber jetzt scheint Bertelsen Unrat zu ahnen, daß Herr Fleming eingreifen und ihm den Wind aus den Segeln nehmen will, und so sagt er fest und entscheidend: Gut, ich gebe ihm das Stipendium!

Alle sehen ihn an. Eine Röte steigt in Bertelsens Antlitz, und der Rechtsanwalt hilft ihm und murmelt: Das wußte ich, daß wußte ich ja!

Aber unter der Bedingung, daß er sofort abreist, sagt Bertelsen. Daß er gleich von hier wegkommt.

Er will sicher nichts lieber als das, antwortet der Rechtsanwalt. Aber warum?

Warum? Ich wünsche nicht, daß der Bursche mir hier nachläuft. Nein. Ich will nicht, daß er mich täglich fragt, wann er dies Stipendium bekommen kann. Das ist gerade, als ob ich es nicht bezahlen könnte. Er kann das Stipendium gleich bekommen, ich werde einen Scheck ausschreiben.

Das ist großartig, außerordentlich! Ich erlaube mir, Ihnen in seinem Namen zu danken.

Reden wir nicht darüber! schließt Bertelsen. Sagen Sie mir nur, was er zu einem einjährigen Aufenthalt in Paris braucht.

Einer blickt den andern an, und alle schweigen. Fräulein d'Espard, die in Frankreich gewesen ist, will sprechen, aber der Rechtsanwalt schlägt vor, daß sie alle zusammen hineingehen und die Frage erörtern.

Das taten sie nun und gingen in Bertelsens Zimmer, dem größten und teuersten im ganzen Hause. Da gab es einen kleinen Salon mit einem Alkoven, Gemälde in Goldrahmen an den Wänden, Vorhänge vor dem Alkoven, eine Kristallkrone aus Goldbronze über dem Tisch, faltenreiche Gardinen, die das Licht zum größten Teil abhielten; Teppich auf dem Fußboden, Diwan, Plüschstühle.

Bitte, meine Herren und Damen, nehmen Sie Platz!

Bertelsen, der Besitzer des elegantesten Zimmers im Sanatorium, ließ Wein und Kuchen kommen, er zeigte sich auch freigebig gegen den Musiker und wollte ihm ein anständiges Stipendium geben. Das wußte ich, das wußte ich ja! sagte der Rechtsanwalt, der Schlauberger.

Als alles in Ordnung und der Scheck ausgestellt war, blieb die Gesellschaft noch beisammen, es war, als hätten diese fünf Menschen sich erst jetzt gefunden. Natürlich sprach man von den andern Gästen und Patienten, und zwar nicht nur Kleinigkeiten, unschuldige Dinge. Bertelsen war sehr freimütig in seinen Äußerungen sowohl über Mylady wie über Frau Ruben; diese beiden Damen waren ihm ein Dorn im Auge, die eine wegen ihrer Vornehmheit, die andere wegen ihrer Dicklichkeit. Lieber Gott, sagte er, ist das eine Art! Wir andern sind doch auch Menschen, was soll da all die Vornehmheit und all das Fett? Fräulein d'Espard schien die einzige zu sein, die die Logik hierin verstand, sie lachte und rief: Das ist wahr, das ist wahr! Überhaupt kamen sich Bertelsen und Fräulein d'Espard in Geschmack und Sympathien immer näher, auch in bezug auf Theater, Sprache und Lebensart waren sie einig.

Es kam mehr Wein und Kuchen, Bertelsen hatte Gefallen an dieser kleinen Festlichkeit gefunden, und obwohl der Rechtsanwalt wie Herr Fleming nach der Uhr sahen, wurden sie zum Bleiben genötigt, alles unter dem Vorwand, daß Bertelsen es gemütlich fand, wie sie beieinandersaßen.

Wir sitzen ja gut hier, sagte Fräulein d'Espard auch und war wieder mit ihm einig.

Das arme Fräulein Ellingsen wurde etwas überflüssig in all dieser Einigkeit, Gott weiß, vielleicht war zwischen ihr und Bertelsen etwas vorgefallen, sonst hätte er sie wohl nicht so übersehen können. Es fiel allen auf, daß er es vermied, auf ihre Worte zu hören; er übertönte sie, machte sie zunichte, und es schien ihm nicht einmal nötig, ihr zu widersprechen. Nicht, daß Fräulein Ellingsen etwas dabei verloren hätte. Herr Fleming übernahm es, mit ihr zu sprechen, und bei seinem Taktgefühl ging alles fein und natürlich zu. Ach, aber Fräulein Ellingsen war unruhig und lange nicht so wie sonst; Fräulein d'Espard ging in Französisch über und begann sich mit dem Holzhändler zu unterhalten, und da mochte Gott wissen, was sie sagte, Fräulein Ellingsen verstand es jedenfalls nicht.

Was sagen Sie da? fragte sie und lächelte gleichgültig. Was sind das für Geheimnisse?

Herr Fleming lächelte gleichgültig zurück und erwiderte: Sie üben sich nur.

Aber der Teufel mußte seine Hand im Spiele haben, auch zwischen Herrn Fleming und seine Dame schien etwas zu kommen, es mußte ein schlechter Tag für Liebende sein, Gekränkt- und Beleidigtsein lagen in der Luft. Herr Fleming verstand zu tun, als sei nichts geschehen, konnte aber nicht ganz verbergen, daß Fräulein d'Espards Benehmen ihn interessierte. Dieses arme Fräulein d'Espard, oh, sie hatte Temperament, sie wußte den Herren zu gefallen! Sie konnte sich zu einem Sprechenden hinüberbeugen, daß er etwas dabei fühlte, sie konnte Bertelsens Hut, der auf einer Stuhllehne hing, nehmen, ihn in Gedanken ansehen und wieder hinhängen, und damit hatte sie etwas mit Bertelsen gemacht, sich zärtlich gegen ihn erwiesen. Das war ihre Anziehungskraft.

Ich kann etwas Französisch lesen, sagte Fräulein Ellingsen, um nicht zurückzustehen. Aber ich kann es leider nicht sprechen.

Natürlich können Sie Französisch, sagte der Rechtsanwalt. Sonst wären Sie ja nicht Telegraphistin geworden.

Jetzt lachten Bertelsen und Fräulein d'Espard unter sich, und Fräulein Ellingsen empfand das wie einen Schlag. Sie fragte sie direkt, warum sie lachten, weil sie gern mitlachen möchte, erhielt aber keine Antwort. Da wandte sich Fräulein Ellingsen in ihrer Verzweiflung an Herrn Fleming und flüsterte, daß sie allmählich anfinge, sich nach der Arbeit am Telegraphentisch zurückzusehnen. Er müßte nicht glauben, daß es uninteressant sei, nein, nein, sie zöge es diesem Faulenzerleben vor, der Telegraph sei das Leben im Extrakt, sie sei täglich genötigt, Mitwisserin von Wohl und Wehe vieler Menschen zu werden, oh, der Telegraphentisch sei ein Brunnen von Geheimnissen.

Ich hoffe, daß Sie nicht zuviel Schlechtes von mir wissen, gnädiges Fräulein, scherzte Herr Fleming. Aber gleichzeitig stieg ein wenig Farbe in sein welkes Gesicht.

Von mir hoffentlich auch nicht, scherzte Rechtsanwalt Robertson.

Sie ging darüber hinweg: nein, sie wüßte nichts Schlechtes von den Herren! Aber sie dürften ihr glauben, daß sie viel wüßte. Staatsgeheimnisse? Natürlich keine Staatsgeheimnisse, aber nicht wahr, es konnten trotzdem ernste Dinge sein. Es sei vorgekommen, daß es sie gegruselt habe, wenn sie die Vermittlerin, das Werkzeug zwischen einem unserer Gesandten und dem Ministerium des Äußeren darstellte.

Beide Herren lauschten.

Aber, fuhr Fräulein Ellingsen fort, das Interessanteste seien vielleicht die Telegramme zwischen der Polizei in allen Ländern, das Aufspüren von Mördern, Fälschern, Schwindlern, Diebesbanden. Es seien Damen von Welt dabei, Adelige, französische Politiker, Banken, Gift, Politik –

Jetzt lauschten die Herren verwundert. Dieses Fräulein Ellingsen, das so schlank und hübsch im Sanatorium umhergegangen war und fast nichts gesprochen hatte, schien plötzlich von einer Aureole, einem Nimbus umgeben, sie wußte darzustellen, ihre Hände wirkten diskret mit, und ihre Augen blickten nieder, als holte sie ihre Worte aus der Tiefe. Ja, sagte sie, das Leben geht seinen Gang, und Gott ist wohl mit dabei. Manche Menschen machen eine lange Reise mit einer Eisenbahnfahrkarte, andere sogar eine noch längere mit einer Revolverkugel! Sie erzählte Liebestragödien, rekonstruierte ganze Schicksale, bei denen der Telegraph Vermittler und Mitwisser gewesen. Zum Beispiel die Geschichte von den beiden Ausländern mit dem Jagdwagen:

Ja, zwei Ausländer kamen nach Norwegen, ein Herr und sein Diener. Sie wollten im Lande jagen, hatten ihren eigenen Jagdwagen mit und wollten auf eigene Faust Täler und Wälder bereisen. Einige Tage darauf alarmierte der Telegraph: Beobachten Sie Herrn und Diener! Sie befanden sich nun in irgendeinem Tale. Die Ausländer glauben, daß sie sich in unsern Tälern verstecken können, daß unser ganzes Land verborgen, jedes Tal unauffindbar sei. Schön. Aber Herr, Diener und Wagen befanden sich im Hallingtal. Eine Woche später traf ein anderer Herr aus dem Ausland ein, der hinter den beiden her war. Er erhielt durch den Telegraphen aus seinem Lande folgende Mitteilung: Lassen Sie Herrn und Diener laufen, aber verhaften Sie den Jagdwagen! Unsere Polizei half ihm, und sie fanden die Personen, aber der Jagdwagen war weg. Nun telegraphiert der Abgesandte heim: Jagdwagen verschwunden, wie behauptet, von Ungarn, Zigeunern gestohlen. Jetzt Nachforschung nach den Zigeunern, man findet sie beim Übergange nach Valdres, und der Wagen ist auch da. Ja, ganz richtig, der Jagdwagen ist da, aber die Zigeuner behaupten, ihn von dem Herrn und dem Diener bekommen zu haben. Der Abgesandte kauft nun den Wagen zurück und berichtet nach Hause, daß der Wagen, beiseite gefahren und geöffnet, ganz auseinandergenommen wurde, aber – leer war. Der Wagen war ausgeräumt worden, ehe die Zigeuner ihn bekommen hatten! Aus dem Bericht ging hervor, daß der Wagen durchaus nicht etwa Gold oder Edelsteine enthalten habe, sondern Papiere, ach, nur Papiere, denken Sie, kleine Wörter schwarz auf weiß, aber teurer als alle Kostbarkeiten, unermeßlich wichtig, ein großes Schicksal, Leben und Tod. Und jetzt waren die Papiere fort!

Hier bricht Fräulein Ellingsen ab und fragt: Wollen Sie weiter hören?

Was sie damit meinte? Selbstverständlich wollten sie weiter hören, die Spannung sei ja gerade am höchsten.

Nun ja, aber es gibt nicht viel mehr, sagt sie. Der Abgesandte und die Polizei mußten wieder nach dem Hallingtal zurück, Felder und Wälder wurden durchsucht, aber vergebens, und schließlich mußten sie sich an den Herrn und den Diener wenden, damit sie ihnen das Versteck verrieten. Dann kauften sie die Papiere zurück.

Die Zuhörer sagten ein bißchen verlegen: So, dann kauften sie die Papiere zurück?

Ja.

Eine merkwürdige Veränderung war mit dem Fräulein vorgegangen, sie hatte gleichsam den Faden verloren, es war nichts mehr mit ihr los. Woher mochte das kommen?

Da fragt Herr Fleming schonend: Aber warum verhaftete man nicht gleich den Herrn und seinen Diener?

Das weiß ich nicht, antwortet das Fräulein unsicher. Vielleicht waren sie nahe Verwandte der Bestohlenen.

Schweigen.

Aber der Diener? fragt Herr Fleming.

Das Fräulein ist wie zusammengebrochen, rafft sich aber zu einem letzten großen Schlage auf und antwortet: Der Diener – ja, das war doch eine Dame.

Das half etwas, und die Herren rufen unwillkürlich aus: Ach! Aber gleich darauf können sie wieder das Ganze nicht verstehen, und jeder stellt seine Frage: Aber die ganze Geschichte? Welchen Sinn hatte sie? Ein Jagdwagen? Und warum hat man die Leute nicht verhaftet?

Fräulein Ellingsen weiß es nicht; sie sagt, sie weiß es nicht. Sie scheint ratlos zu sein. Plötzlich ist es, als fände sie einen Ausweg, und sie sagt geheimnisvoll: Warum sie nicht verhaftet wurden? Es könnte ja sein, daß ihre Regierung ihnen Gelegenheit geben wollte, sich mit ihren eigenen Jagdflinten zu erschießen.

So. Ja, das konnte sein. Und die Herren ließen sich damit genügen. Da sitzt das Fräulein nun, sie tut ihnen leid, sie wollen sie nicht quälen. Um ihr zu helfen, beginnen sie von etwas anderem zu sprechen. Der Rechtsanwalt bringt die Rede auf Mylady und fragt Herrn Fleming, ob er als Edelmann ein Exemplar vom Gothaischen Kalender habe.

Diese Frage scheint Herrn Fleming etwas zu verwirren, und er fragt zurück: Wie? Warum?

Ob Sie den Gothaischen Kalender haben? Ich möchte Sie bitten, so freundlich zu sein und nachzusehen, ob Mylady darin steht. Ich kann sie nicht finden.

Herr Fleming lacht erleichtert und antwortet: Ich weiß nicht einmal, ob ich selber drinstehe. Nein, ich habe den Gotha nicht.

Aber das Fräulein sitzt immer noch da, als sei nichts geschehen, und Herr Fleming erzählt ihr nun von dem Ochsen von der Nachbaralp, Daniels Ochsen. Ob sie ihn je auf ihren Wanderungen getroffen habe?

Nein.

Das sei auch besser, er sei gefährlich, jedenfalls nicht ungefährlich, und es sei am besten, ihm aus dem Wege zu gehen! Ja, Daniel habe nun einmal diesen Ochsen, er sei ein wahrer Riese, fräße für drei, habe lange Hörner, ein blankes, braunes Fell und einen unnatürlich häßlichen Blick. Daniel sagte selbst, daß er bösartig sei, und daß nicht mit ihm zu spaßen sei.

Nein, das Fräulein war Gott sei Dank nicht auf ihn gestoßen, huh – sie schauderte!

Wenn das Tier eine Gefahr für die Gäste im Sanatorium bedeute, dann müsse Daniel ihn weggeben, sagte der Rechtsanwalt.

Er will den Ochsen bis zum Herbst behalten und ihn dann an den Schlachter verkaufen, erklärte Herr Fleming.

Ich werde unsern Schweizer hinüberschicken und ihn gleich kaufen, beschließt der Rechtsanwalt. Es soll kein Gast Angst vor dem Tier ausstehen. Das wäre sinnlos.

Jetzt fühlte Rechtsanwalt Robertson sich auch als eine Art Mäzen, als Wohltäter eines ganzen Sanatoriums, und als Fräulein Ellingsen ihm mit ein paar Worten dankte, meinte er wohl, eine Anerkennung sei der andern wert. Deshalb sagte er zum Fräulein: Was Sie erzählt haben – die seltsame Geschichte mit dem Jagdwagen – merkwürdig, daß Sie das nicht geschrieben haben.

Ich? Nein.

Sie sollten es aufschreiben. Es war spannend und gut erzählt. Nicht wahr? fragt er Herrn Fleming.

Ja, Herr Fleming nickt dazu.

Das Fräulein erholt sich, die Erzählung hat sie wohl nur ein bißchen angestrengt, und nun erholt sie sich. Nein, nein, sie könne nicht schreiben, lächelt sie entschuldigend; sie könne nur am Telegraphentisch sitzen und hören. Zu etwas anderem tauge sie nicht. Über das, was sie hörte, denke sie dann, wenn sie allein sei, nach. Es sei nicht ohne Bedeutung für sie, nicht ohne Nahrung für ihr Gemüt.

Na, dann schrieb sie es doch wohl nieder?

Ja, das sei nicht ganz ausgeschlossen, gab sie zu. Natürlich habe sie es versucht, und sie habe auch manches, das sie geschrieben habe, liegen, das wollte sie nicht länger leugnen. Aber wie könnten die Herren das wissen?

Das sei nicht schwer zu erraten. So gut erzählt.

Nun saß Fräulein Ellingsen plötzlich glücklich da über die Anerkennung und über diesen Scharfsinn, der sie ergründet hatte. Sie vergaß für eine Weile die beiden, die Französisch sprachen, ja brachte es sogar gleich darauf so weit, daß sie ihr zuhörten. Sie rief mit unerwarteter Überzeugung aus, als gälte es etwas: Nein, was beim Telegraphen interessiert, das sind nicht die kleinen, gewöhnlichen Verbrechen, so wenn einer den andern bei einer Partie Holz betrügt, das sind nur dumme Streiche und Geschäftskniffe. Aber dann tickt es auf dem Tische eines Tages von etwas anderem: Aus dem Wege, England will vor, die Herzogin von Somewhere ist fort, durchgebrannt oder verführt –

Wieder eine lange Erzählung. Sie endete erst, als das Fräulein wieder versagte und nicht weiter konnte.

Alle hatten gelauscht, Bertelsen und Fräulein d'Espard sprachen nicht mehr Französisch, auch sie lauschten. Der Holzhändler, Herr Bertelsen, unterbrach sie einmal im Anfang und erklärte es für ausgeschlossen, dumme Streiche zu machen und bei einer Partie Holz zu betrügen. Nein, antwortete das Fräulein auch und entschuldigte sich, sie habe es nur so gesagt, ebenso hätte sie ein anderes Geschäft, Pferdehandel zum Beispiel, nehmen können. Im Laufe der Erzählung fragte Bertelsen: Aber haben Sie denn keinen Eid abgelegt?

Eid? Doch.

Schweigepflicht?

Die Frage verwirrte sie etwas, sie stammelte: Wie? Ja, sie habe eine Erklärung unterschrieben. Nicht um alles in der Welt wolle sie ihren Eid verletzen. Habe sie das getan?

Nein, antwortete Herr Fleming.

Im übrigen, fuhr Bertelsen, immer noch aggressiv, fort, verstehe ich die ganze Geschichte nicht. War die Herzogin hier im Lande?

Hier?

Mir scheint, ich habe etwas Ähnliches in einem Detektivroman gelesen. Vielleicht fällt Ihnen der jetzt ein?

Hier protestiert Fräulein Ellingsen heftig, und eine tiefe Röte steigt ihr ins Gesicht: Durchaus nicht, sie habe nur ganz wenige Detektivromane in ihrem Leben gelesen. Aber die lägen ja in der Luft, sickerten durch ins tägliche Leben, der Telegraph sei voll von ihnen. Und was ihren Eid betreffe, so habe sie weder Namen noch Orte genannt, die Herzogin könne Gott weiß wo sein. Man habe wohl bemerkt, daß sie plötzlich abbrach und nicht weiter erzählte? Das habe sie absichtlich getan, weil sie ihres Eides wegen nicht weitergehen konnte.

Bertelsen war unbarmherzig. Merkwürdig! sagte er, in der Geschichte von dem Jagdwagen nannten Sie ohne weiteres Ortsnamen: Kristiania, Hallingtal –

Da wird es Fräulein Ellingsen zuviel, und sie bricht in Tränen aus. Sie steht nicht auf und geht, sie sinkt nur wie sprachlos und wie gebrochen unter Bertelsens Worten zusammen. Sie zittert hysterisch.

Du lieber Gott! ruft Bertelsen und eilt zu ihr, was heißt das, ist das ein Grund zum Weinen! Ich wollte nicht – aber es war natürlich dumm von mir. Teufel auch! Was weiß ich von Ihrem Eid, das müssen Sie selber wissen und nicht ich. Ich wollte, Sie machten sich nichts daraus, das wünschte ich aufrichtig. So, lassen Sie es nun gut sein!

Das macht nichts! schluchzt sie. Nein, setzen Sie sich, hören Sie, es macht nichts! Sie sollen mich nicht trösten, Sie haben recht in etwas, im meisten, vielleicht in allem, von Ihrem Standpunkt aus. Mir wurde nur schwarz vor den Augen. Ich möchte nicht stören, nur einen Augenblick, dann ist es wieder gut. Mir wurde nur ein bißchen schwarz vor den Augen –

Die Herren machen es nun so, daß das Fräulein Zeit hat, sich zu beruhigen. Der Rechtsanwalt drückt seine Bewunderung aus für Herrn Flemings gutes, gesundes Aussehen, wie er sich erholt, wie er zugenommen habe! Und Herr Fleming antwortet: Ja, Gott sei Dank, ihm fehle nun bald nichts mehr, nur eine Liebste, hehe!

Fräulein d'Espard hat der unglücklichen Szene mit Fräulein Ellingsen in einiger Entfernung mit halb verwundertem, halb höhnischem Ausdruck beigewohnt. Jetzt steht sie auf, tritt zu der gepeinigten Dame, spricht ihr flüsternd zu und streicht ihr übers Haar. Die Herren trinken aus ihren Gläsern und sprechen lauter als nötig, um die Stimmung wieder herzustellen. Das glückt auch, die Damen schließen sich allmählich an, das Fest geht weiter, es kommen mehr Getränke und Speisen. Ja, es geht gut, die Verstimmung zwischen Bertelsen und seiner Dame ist verflogen, er ist dicht an sie herangerückt und unterhält sie. Er ergreift das Wort und hält eine Rede auf das Torahus-Sanatorium, und Rechtsanwalt Robertson dankt dem Wirt. Herr Fleming wird immer lebhafter, er lehnt sich auf dem Stuhl zurück, zieht die Weste über den eingefallenen Bauch und schlägt sich auf die Brust: Sehen Sie, was er jetzt tun kann, das konnte er nicht vor einigen Wochen, hier wohnte die Gesundheit! Er bat die Gesellschaft, ein frohes Telegramm an seine Mutter mit ihm aufzusetzen.

Immer dachte er an sein Heim und seine Mutter, es kam starke Bewegung in sein Gesicht, Begeisterung, er hatte eine gute Mutter, niemand ahnte, was für eine großartige Dame sie war, sie sollten es nur wissen! Mit wogender Brust setzte er sich hin, um das Telegramm aufzusetzen, und die Gesellschaft unterschrieb. Danke! sagte er, sie sollten bezeugen, daß seine Mutter seinetwegen unbesorgt sein konnte!

Jetzt wagte er sogar wieder mit Fräulein Ellingsen zu sprechen, als sei nichts geschehen, ja, er ging direkt auf die Herzogin von Somewhere los und machte dem Fräulein Komplimente über ihre Erzählung. Er tat es so hübsch, ohne Übertreibung.

Ach, ich weiß viel mehr, antwortete sie, ich könnte sagen, wie es ihr schließlich erging, wenn ich nur dürfte. Aber ich habe ja Schweigepflicht. Haben Sie nicht bemerkt, daß ich aufhören mußte?

Doch. Und ich bewundere Ihre Selbstverleugnung, daß Sie eine gute Geschichte so abbrachen.

Man hörte Wagengerassel unten im Hofe, und Bertelsen sagte im Spaß: Jetzt müssen Sie hinunter zum Empfang, Herr Rechtsanwalt! Da aber keine Gäste erwartet wurden, lachte der Rechtsanwalt nur und blieb sitzen. Scherzen Sie nicht darüber, sagte er, ich hab' es in die Presse gebracht, daß wir einen Grafen und eine Prinzessin hier haben, das wird schon wirken!

Da geschieht etwas: der Graf macht eine nickende Bewegung, als hätte er etwas in den Hals bekommen, reißt sein Taschentuch heraus und hält es vor den Mund, dann betrachtet er es, und es ist, als glaube er nicht, was er sieht. Er erhebt sich, geht ans Fenster und sieht es sich weiter an.

Was ist? fragt Fräulein d'Espard ängstlich.

Herr Fleming antwortet nicht.

Was ist? wiederholt sie und springt auf.

Herr Fleming wischt sich den Mund ab und steckt das Taschentuch ein. Nichts! antwortet er und setzt sich wieder auf seinen Platz.

Aber alle sahen, daß es etwas war, er konnte es nicht verbergen. Herr Fleming hob sein Glas und leerte es; sein Gesicht war grau geworden.

Sie haben da einen kleinen Streifen, sagt Fräulein d'Espard und zeigt darauf.

Wo?

Dort, am Mundwinkel. Wenn Sie mir Ihr Taschentuch geben wollen –

Danke, ich kann selber! Er erhebt sich, geht zum Spiegel und bringt sich wieder in Ordnung. Fräulein d'Espard folgt ihm mit den Augen, auch die andern werden aufmerksamer.

Er ertrug es mit Anstand, seine Worte und Bewegungen waren ohne Hast, aber sein Gesicht war schlaff geworden und eingefallen. Die übrigen in der Gesellschaft ließen sich nicht merken, daß sie das Schlimmste ahnten, aber Fräulein d'Espard starrte mit entsetzten Augen auf den kranken Mann und legte in zärtlicher Gedankenlosigkeit sogar ihre Hand auf die seine. Ihre Blicke trafen sich. Danke! flüsterte er. War in dem Faden zwischen ihnen ein Knoten gewesen, so war er jetzt gelöst.

Ich laufe und hole den Doktor, sagte sie.

Den Doktor? fragte er und versuchte, verwundert auszusehen. Aber nein, es ist nichts. Aber da Sie es sagen, höchstens etwas Eis –

Sind Sie nicht wohl? fragt der Rechtsanwalt. Der Doktor soll sofort kommen! Er erhebt sich und beauftragt das Mädchen, den Doktor zu suchen.

Während sie warten, versuchen alle, ruhig und hoffnungsvoll zu sein. Herr Fleming will die Gesellschaft nicht verlassen und zu Bett gehen: warum sollte er zuerst aufbrechen! Er mußte noch einmal sein Taschentuch gebrauchen und sich vor dem Spiegel abwischen, und er tat es ebenso ruhig und selbstverständlich wie das vorige Mal, er störte nicht; aber die Heiterkeit in Bertelsens Zimmer war erloschen, das Fest war aus. –

Inspektor Svendsen klopft an, kommt herein und meldet, daß der Konsul jetzt unten säße, ob der Rechtsanwalt ihn begrüßen wollte.

Wer?

Der Konsul Ruben, Frau Rubens Mann, er ist gekommen.

Der Rechtsanwalt hat nichts davon gewußt, daß Konsul Ruben kommen wollte, aber er erhebt sich sofort und bittet die Gesellschaft, ihn zu entschuldigen. Er wendet sich zu Bertelsen und wiederholt, was er früher schon prophezeit hat: Machen Sie sich nicht darüber lustig, daß wir neue Gäste erhalten sollen; jetzt kommen schon die Konsuln.

Als der Inspektor gehen will, ruft Herr Fleming ihn zurück. Ach, Herr Fleming sieht aus wie der Tod selber, aber er lebt noch, denkt und fühlt noch. Er blinzelt mit den Augen, atmet mit dem Munde, bestimmt mit dem Kopfe. Er öffnet und schließt seine Hände, wie er will, er ist nicht tot. Jetzt übergibt er dem Inspektor das Telegramm an seine Mutter in Finnland und legt ihm ans Herz, es heute noch, sofort zur Bahn zu schicken.

Es war wohl jetzt nicht mehr ganz wahr, dieses Telegramm. Herr Fleming konnte nicht mehr mit gutem Gewissen mit seiner wiedergewonnenen Gesundheit prahlen. Und doch – er schickte seiner Mutter dies Telegramm. Sein Gewissen schien ihn gerade dazu anzuspornen.


 << zurück weiter >>