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II

Last auf Last den Berg hinan, den ganzen Winter hindurch, Karawanen mit Lasten, mit Transporten für den Bau des Sanatoriums. Alle Pferde des Kirchspiels waren im Gebrauch, ja, viele kauften Pferde für diese Arbeit und verkauften sie wieder, als Winter und Transporte vorbei waren.

Manche Leute schüttelten den Kopf über diesen gewaltigen Aufwand, aber das waren Leute, die nichts verstanden. Wußten die, was dazu gehörte, um ein Schloß zu bauen? Wieviel Balken und Bohlen, Zement, Nägel, alle Röhren, alle Farbe, alle Dachziegel? Zweihundert Fenster hatte allein das Hauptgebäude, und dazu gab es noch fünf kleinere und größere Häuser: wie viele Lasten Fensterglas gehörten allein dazu! Zu alledem an fünfzig Öfen; wie viele Lasten machten die aus? Und die Einrichtung! Da gab es alle Arten Möbel, Teppiche, Lampen, Bettzeug, Tapeten, Tischzeug, Glaswaren, tausend Dinge, viele tausend Dinge. Zuletzt die Nahrungsmittel; die kamen mit einer neuen Karawane, in Fässern und Kisten, es kamen lebende Tiere, ein ganzer Stall voll Kühe, Schafe und Federvieh. Nun fehlten nur noch Gäste, Patienten; und nach den Eröffnungsfeierlichkeiten kamen auch die.

Was hatte es aber auch gekostet, bis alles fertig war, das Schloß mit Inhalt, all die andern Häuser, die sogenannten Dependancen, und die Wege und Terrassen rings! Man staunte mit offenem Munde, wenn man an all die Kostbarkeit dachte. Das schien jedoch keine Rolle zu spielen, das Unternehmen war gut fundiert: tausend Aktien zu je zweihundert Kronen voll eingezahltes Kapital mit Generalversammlung und Satzungen. Nichts fehlte in dieser Vollkommenheit, und als die ganze Dienerschaft da war, begannen auch Gäste zu kommen, alle Räder fingen an zu laufen, sie liefen immer schneller, oh, so ungeheuer schnell, sie wurden blank, sie wurden wie starrende Augen davon, die Räder, so schnell liefen sie. Die Leute kamen Sonntags vom Kirchspiel herauf, sahen sich um und konnten vor Verwunderung nichts als stillstehen und starren, sie verstanden nicht alles, ihr Maßstab war zu kurz. Noch nie hatten sie so gefährliche Drachen auf dem Dache eines Menschenhauses gesehen, noch nie so viele Säulen auf einmal, und die Säulen trugen eine Galerie über der andern ganz bis zum Dachboden. Und oben auf dem höchsten Dachfirst wies eine kleine Flaggenstange gen Himmel mit ihrer schimmernden Kugel aus Silberglas. Alles in allem hatten diese Häuser, die für die Bauern eigentlich nur ein Traum waren, diese Galerien, die auf Säulen, auf Nadeln standen und sie an ein Streichhölzerspiel erinnerten, keine Schwere und zeigten keine Gesinnung, keinen Charakter. O diese Bauern! Sie legten sich unten im Grase auf den Bauch und meinten, alles, was sie sähen, sei nur ein Traum: es war doch nicht möglich, daß diese Häuser so stehenbleiben sollten? War es möglich, daß Häuser so aus dem Boden herauswuchsen, fertig waren und nachher taten, als sei nichts geschehen? Die gingen ja auf die Leute los. Der Stall hatte eine große Kuppel über dem Dach, aber keine Kirchenglocke darin, der Speicher in nordischem Stil einen Turm, aber keine Mittagsglocke. Diese Glocken waren vielleicht vorgesehen und sollten später kommen? Ach, aber später sollte ja nichts mehr kommen, die Bausumme sei bereits überschritten, hieß es, doch das schien wiederum keine größere Rolle zu spielen, das Torahus-Sanatorium war wohl gut für einige Rechnungen, die nachkamen.

Wie aber die Kirchspielleute unten im Grase auf dem Bauche lagen und guckten, bekamen sie halbwegs den Eindruck, als ob auch die Menschen, die sich um die Häuser und auf den Wegen herumtrieben, nur gedachte Menschen seien. Du lieber Gott, viele waren Schatten, fast keiner war gesund; da gab es Männer mit blauen Nasen, obgleich es nicht kalt war, und dafür wieder ein paar Kinder mit bloßen Knien, obschon es kühl war. Was bedeutete das alles? Da gab es Damen, die hysterisch kreischten, wenn ihnen eine Ameise auf den Ärmel gekrochen war.

Oh, aber Menschen gab es wirklich genug, daran fehlte es nicht. Sie gingen umher, sie sprachen, hatten Kleider an, einige husteten, daß man es weit fort hörte. Einige waren mager wie Gespenster und durften nicht körperlich arbeiten, sondern mußten still in der Sonne sitzen, andere quälten sich mit einer Art Maschine einen Berg hinan, eine sogenannte »Kraftprobe«, um das Fett loszuwerden. Allen fehlte dieses oder jenes, aber Gott hatte es unter ihnen verteilt. Am schlimmsten waren die Nervenschwachen, die hatten alle Krankheiten zwischen Himmel und Erde auf einmal, und man mußte mit ihnen reden, als wären sie Kinder. Frau Ruben zum Beispiel war so dick, daß sie kaum durch die Tür in ihr Zimmer kommen konnte, aber sie nahm es nicht übel, wenn man ihre Korpulenz auf das gewöhnliche Maß reduzierte, ja, sie leugnete geradezu, daß sie besonders dick sei – nein, sie lächelte nur freundlich darüber; wenn aber der Doktor an ihrer Schlaflosigkeit zweifelte, einen Scherz über ihre Nerven machte, dann wurde sie wütend, und ihre Augen glühten. Eines Tages sagte der Doktor beiläufig: es ist merkwürdig, wie Sie sich hier erholt haben, Frau Rüben. Ihnen fehlt nichts mehr! Frau Rüben antwortete nicht, spie aber hinter dem Doktor aus und ging ihres Weges.

Es gab übrigens mehrere, die hinter ihm ausspuckten, die den Mann verachteten, welchen Grund sie nun auch dazu haben mochten. Er war ein Windbeutel. Für so gut wie alles gab er Tropfen und Medikamente, obwohl er wissen mußte, daß sie nicht halfen. Er tat es wohl aus Hilfsbereitschaft und Liebenswürdigkeit, wollte gar zu gern den Wünschen seiner Patienten nachkommen. Da es ja dieser Mann war, der mit Rechtsanwalt Robertson zusammen das ganze Torahus-Sanatorium aus dem Boden gestampft hatte, hätte man Würde und Autorität in seinem Auftreten erwarten sollen; aber nein, er rief schon von weitem: Guten Morgen! und entblößte den Kopf so übertrieben, als wollte er die Gegend mit seiner wehenden Hutfeder fegen. Und man darf ja nicht glauben, daß er es aus Neckerei tat, nein, es war lauter Freundlichkeit und Familiarität. Viele wandten sich schon vorher ab, um dieser aufdringlichen Höflichkeit zu entgehen, aber es half nichts, der Doktor rief hinter ihnen her. Er wollte auch so gern witzig sein und fein und ehrbar spaßen, und dabei fiel es so unbeholfen aus: nein, er war ein braver Bauernjunge, der studiert hatte. Aber kein Zweifel, er meinte es gut, das zeigte er in seiner Sorge um die Patienten. Wer war ein so seelenguter Allerweltsfreund wie er! Oft übertrieb er und machte sich selber klein, um andern zu dienen, ja, andern zuliebe konnte er sogar die Bedeutung seiner Stellung als Arzt verwischen und etwa sagen: Dies oder jenes Übel können Sie, Herr Bertelsen, bei Ihrer Bildung und Intelligenz leichter durch Massage kurieren, als ich es mit meinen Tropfen kann. Konnte ein Arzt so etwas sagen, ohne dabei zu verlieren? Die Folge war, daß Herr Bertelsen, der an die Tropfen glaubte, aufhörte, an den Arzt zu glauben. Doktor Öyens Fehler war, daß er zuviel redete, er verhielt sich nicht schweigend und geheimnisvoll: einen Doktor muß man mit Aberglauben betrachten, er soll verstehen lassen, daß er ein Teil mehr kann als sein Vaterunser, aber was ließ Doktor Öyen verstehen!

Eines Tages kamen ein Herr und eine Dame aus dem Walde zu Hause angelaufen, und der Herr war Herr Bertelsen, die Dame Fräulein Ellingsen, eine hübsche, hochgewachsene Dame, die sich nur ein wenig am Telegraphentisch überanstrengt hatte. Dieses Paar kam also angelaufen und suchte nach dem Doktor. Herr Bertelsen war etwas knurrig: Wenn man wirklich einmal den Doktor braucht, so ist er nicht zu finden! Herr Bertelsen schien Eile zu haben, er hielt das Taschentuch an die eine Backe, jammerte ein bißchen und war augenscheinlich ängstlich. Eine Ameise hatte ihn gebissen! sagte jemand spöttisch. Als Herr Bertelsen endlich den Doktor fand, war es nicht eine Ameise, die ihn gebissen, sondern eine Hutnadel, die ihn in die Backe gestochen hatte, Fräulein Ellingsens Hutnadel! Es sah gefährlich, tödlich aus, die Backe war auf das Doppelte angeschwollen, das Fräulein verzweifelt. Ach, es ist Blutvergiftung! jammerte sie.

Lassen Sie mich sehen! sagte der Doktor. Mit der Hutnadel, sagen Sie? Ach was, dann ist es nichts!

Doch, es ist bestimmt Blutvergiftung, behauptete die Dame.

Statt nun eine mystische Arztmiene aufzustecken und um Säuren, Pinsel und Watte nach der Apotheke zu laufen, lachte der Doktor über die Geschichte und sagte zum Patienten: Gehen Sie zum Bach hinunter, Herr Bertelsen, und spülen Sie sich Ihre Backe mit kaltem Wasser. Sie können es aber auch ebensogut lassen, die Schwellung gibt sich in einem Tage von selbst.

Das hieß nun wirklich, die Sache recht leicht nehmen, Herr Bertelsen war enttäuscht und wollte ungern umsonst Angst verraten haben; er fragte: Ist es denn ganz ausgeschlossen, daß es Blutvergiftung sein kann? Wenn es geschwollen ist? Ich meine, die Spitze der Nadel –?

Vollkommen ausgeschlossen! Und nun stach Doktor Öyen wieder der Hafer, er mußte sich produzieren und sagte: Ich glaube nicht, Fräulein Ellingsen, daß an Ihnen etwas Giftiges ist, Sie sehen nicht so aus!

Wäre er nun still gewesen, so würde vielleicht noch alles gut für ihn gegangen sein, aber er mußte seinen Geist verwässern und machte die Hutnadel zu einem von Fräulein Ellingsen abgeschossenen Amorpfeil. Es wurde immer unmöglicher, das mitanzuhören, und Herr Bertelsen wandte sich an seine Dame und sagte: Ich will doch Borwasser drauflegen.

Nein, das ist nicht nötig, sagte der Doktor. Er begann den ganzen Fall zu erklären: es wäre jedenfalls die Blutstauung, die die Schwellung verursachte, aber das Blut läge dicht unter der Haut. Wenn man das Loch ein klein wenig öffnete, käme das Blut wieder heraus und die Schwellung wäre fort, wenn das Loch sich dann aber wieder schlösse, so würde das Blut sich von neuem ansammeln. Lassen Sie die Backe in Ruhe, sagte er, dann wird das Blut von selbst wieder zurückgehen.

Gewäsch, Gewäsch. Nichts als Gewäsch.

Gehen wir? fragte Herr Bertelsen seine Dame.

Und nun schwächte der Doktor seine Autorität noch mehr, indem er dem Paare nachrief: Sie können übrigens gern Borwasser nehmen, gern. Borwasserumschläge werden gut tun.

Hat man je so was gehört! sagte Herr Bertelsen zu seiner Dame und fauchte.

Herr Bertelsen war unzufrieden mit sich und der ganzen Geschichte. Er hatte gut gehört, wie die Spötter von einer Ameise sprachen, die ihn gebissen habe, aber das hatten die Spötter aus reinem Neid gesagt, weil er der reiche junge Mann von der Holzhandlung Bertelsen & Sohn war, der erste Herr hier im Sanatorium, der Löwe, dem selbstverständlich die hübscheste Dame zufiel. Die Spötter vermochten nichts an diesem Verhältnis zu ändern, ihn konnte nichts erschüttern! In Wirklichkeit lebten die Spötter hier ja nur von seiner Gnade; ein Wink von ihm – und die ganze Gesellschaft flog. Er gab diesen Wink nicht, er übersah so etwas.

Herrn Bertelsens Verhältnis zum Sanatorium war kein Geheimnis, er machte selbst kein Hehl daraus, und an einem Ort, wo man nichts anderes zu tun hatte, als übereinander zu klatschen, wurde es gut verbreitet. Nun hätte man glauben sollen, daß die neidischen Spötter dankbar für sein korrektes, nachsichtiges Auftreten gegen sie gewesen wären, aber nein. Seht mal, krittelten sie, was hatte dieser Bertelsen so nahe an Fräulein Ellingsens Hutnadel zu suchen? Was wollte er da, zum Kuckuck? Mit der Hand, ja, das ließe sich denken, ihr Hut war vielleicht am Laube im Walde hängengeblieben; aber mit der Backe? Pfui Teufel, was für ein ekelhafter Kerl! Und was half es ihm, daß er sich mit scharfen Bügelfalten in den Hosen und weißen Gamaschen ausstaffiert hatte und das feinste Zimmer des Sanatoriums bewohnte, das kam ja alles nur daher, weil sein Vater ein großer Holzhändler war – er selbst dagegen war ja nichts als ein Laffe im Geschäft.

Na, er ist doch in die Firma aufgenommen, vermittelte einer.

Und wenn schon? fragten die andern und sahen ihn wütend an.

Ich meinte nur. Er ist also doch Mitinhaber des Geschäftes.

Ja, wenn schon? fragten sie wieder. Wenn der Alte stirbt, gehören ihm ja alle Bretter! Sie sahen nicht ein, was das mit der Frage zu tun hatte.

Der aber, der den Spöttern so widersprach, hatte vielleicht seine Absicht, seine eigenen Gedanken damit, Gott weiß. Es war ein junger Mann, der Klavier spielte, Eyde, mit Vornamen Selmer, also Selmer Eyde, ein wirklich netter Bursche, aber blauhäutig und fein, fast zum Fortblasen. Wenn er am Klavier saß und man nur seinen schmalen Rücken sah, machte er einen kränklichen Eindruck. Aber er war Feuer und Flamme am Klavier und war den Patienten unentbehrlich, wenn sie sich abends im Salon versammelten und Musik hören wollten. Frau Ruben bat um Tschaikowski, und er spielte, Fräulein d'Espard bat um Sibelius, er spielte. Er war allen zu Diensten und wohnte dafür zum halben Preis im Sanatorium.

Dieses Fräulein d'Espard war erst kürzlich gekommen, sie hatte jetzt Ferien; sie war nicht Patientin, sondern eine lebhafte, lustige Dame mit Grübchen in den Backen und braunen Augen. Was wollte sie hier? Man erzählte, daß ihre Familie bessere Tage gesehen habe, jetzt aber in Unbeachtetsein gesunken sei. Das war vermutlich richtig. Ein Einwanderer war wohl eines Tages in dies Land gekommen, wo das Fremde feiner ist als das Nationale, er brauchte nichts als seinen Namen auf einer Visitenkarte, um hier etwas zu werden. Von dem mystischen Herrn d'Espard wußte man nichts, als daß er sich irgendwie heraufgearbeitet hatte, meistens als französischer Lehrer, wodurch er Zutritt zu guten Häusern bekam, Ansehen gewann, gut verdiente und alle in Respekt setzte, nur weil er Ausländer war. Dann verlobte er sich, alles hätte gutgehen, er hätte sich auch verheiraten können, aber hiergegen protestierte seine Frau in der Heimat, und darauf mußte er verschwinden.

Das war der Stammvater.

Aber seine norwegische Braut saß mit der Schande und ihren wachsenden Beschwerden da: sie sollte Mutter werden.

Das Kind wurde d'Espard Nummer zwei, ein Mädchen; sie erbte den unverlierbaren Namen und sonst nichts von ihrem prächtigen Vater, nur den Namen. Ihre Mutter mußte sich drei Stufen hinunter bequemen, um überhaupt verheiratet zu werden, aber ach, die kleine Julie d'Espard trägt noch seinen Namen, der sie ein paar Stufen hinaufhebt. Sie sitzt in einem Kontor in Kristiania, weil sie d'Espard heißt, fort gewesen ist und Französisch gelernt hat. Sie weiß nichts Besonderes, spricht das nicht nuancierte Norwegisch der Mittelklasse, sie singt nicht besser als alle andern, hat keine Haushaltung gelernt, kann keine Alltagsarbeit verrichten, sich nicht einmal eine Bluse nähen, aber sie kann auf einer Schreibmaschine tippen, und sie hat Französisch gelernt.

Arme Julie d'Espard!

Aber sie ist so hübsch, braunäugig und lebhaft, und vielleicht sieht sie es auch ein wenig darauf ab, feuriger zu sein, als sie ist, wie könnte sie sonst zeigen, welcher Rasse sie angehört! Sie ist Französin, und nicht Französin schlechthin, sondern Südfranzösin von Abstammung, und mochte es nun mit ihrem unregelmäßigen Ursprung sein, wie es wollte, so war sie doch jedenfalls ein Kind der Liebe. Glückliche Julie d'Espard! Und so wunderlich kann es zugehen: von dem Tage an, als sie ins Sanatorium kam, erhielt sie ihre Bedeutung, Fräulein Ellingsen war nicht mehr die einzige Perle, das einzige Perlhuhn zu Torahus.

Fräulein d'Espard konnte Dinge, die andere nicht konnten, sie konnte sich gut über den Salat bei Tische äußern, daß er nicht wie in Frankreich sei, oh, es wäre ein großer Unterschied! Wenn die Damen dasaßen und Musik hörten, überließen sie es dem Pianisten selbst, zu wählen, was er spielen wollte, oder sie sahen es Frau Rüben nach, wenn sie um Tschaikowski bat, weil sie nervös und reich war. Fräulein d'Espard aber bat um Sibelius, obwohl sie gesund und arm war. Ein Teufelsmädel, aber was verstand sie von Sibelius! Sollten wir Herrn Selmer Eyde nicht lieber bitten, zu spielen, was er will? fragte ein altes verschnupftes Fräulein. Ja, ja, sagten andere. Und dann schwatzten sie halblaut weiter darüber. Aber allen war klar, weshalb Fräulein d'Espard um Sibelius gebeten hatte: weil sie auf dem Sofa zusammen mit ihrem Kavalier, einem Finnen, saß, einem Aristokraten mit einem alten Namen, Fleming: ihm wollte sie eine Aufmerksamkeit erweisen.

Teufelsmädel die d'Espard! Nach der Musik war eigentlich Schlafenszeit, aber Fräulein d'Espard ging aus. Sie ging nicht einmal allein aus, sondern nahm den Finnen Fleming mit, dem es verboten war, sich mit seiner Brustkrankheit in der kalten Abendluft aufzuhalten. Sie gingen zu dem Wetteranzeiger, der in einem Kasten mit Glastür hing. Soweit sie in der Dämmerung sehen konnten, zeigte er ein Dreieck: Trockenes Wetter.

Ja, aber es ist kalt, sagte Herr Fleming und schlug den Rockkragen hoch.

Das Fräulein meinte, sie sollten nur etwas schneller gehen. Sie selbst hatte so lächerlich wenig an und um den Hals gar nichts.

Aber Herr Fleming fragte, ob im Gange nicht ein Plakat hinge, das die Gäste anwies, um zehn Uhr im Bett zu sein?

Ja, das stimmte schon, hier gäbe es ja Plakate über alles mögliche.

Nun lachte Herr Fleming und sagte, sie ginge so schnell, daß sie ihn zu Tode jage. Er atmete mühsam, drückte die Hand auf die Brust und hüstelte leise.

Sie setzten sich und ruhten aus.

Dies sei auch eins von den verbotenen Dingen, erklärte er.

Dies auch?

Ja, sowohl so schnell zu gehen, daß er husten müßte, wie zu sitzen und auszuruhen.

Alles ist verboten, sagte sie wie für sich. Hinterher erklärte sie, das Plakat im Gange sei nur der schlaflosen Alten wegen hingehängt. Für sie, für die Jugend habe es keine Gültigkeit.

Sie erhob sich, und sie gingen weiter. Sie schritten in der Richtung der Torahus-Sennhütte und sahen Daniels kleinen Hof mit den kleinen Häusern vor sich. Hier war es so still, kein Hund, kein Rauch aus dem Schornstein, die Leute schliefen wohl, und die Tiere im Stall wohl auch.

Daß auch hier Menschen leben! äußerte das Fräulein sinnend.

Ja, und wer wüßte, ob die nicht sogar glücklich hier lebten, wunderte Herr Fleming sich.

Das Fräulein ging im Halbdunkel weiter, um genauer zu sehen: ungestrichene Balkenwände, keine Gardinen vor den Fenstern, alle Häuser mit Torf gedeckt. Weshalb hatten sie nicht einmal weiße Gardinen in der neuen Stube aufgehängt? Sonst sah sie doch hübsch aus mit ihren drei Fenstern. Diese Art Leute verstanden es nicht, es sich gemütlich zu machen.

Die hätten es auf ihre Weise schon gemütlich, meinte Herr Fleming. Und Gott weiß, ob es nicht gerade die rechte Weise war: die Gemütlichkeit der geringen Bedürfnisse.

Sie sprachen auf dem Heimwege darüber. Herr Fleming war ruhig und mild, ohne Illusionen, wie Kranke im ersten Stadium es sind; später erholen sie sich und kämpfen gegen das Sterben an, aber im ersten Stadium sind sie mutlos und von ihrem Schicksal zerbrochen. Um ihn zu erheitern, bat das Fräulein ihn, von seinem Heim, dem großen Hof in Finnland, zu erzählen, einem Gut mit steinernem Schloß und Meilen von Wald und Feldern. Gegen Mitternacht kamen sie nach Hause, es war ein weiter Weg gewesen, und Herr Fleming hüstelte. Die Tür war verschlossen, aber Herr Fleming klopfte leise mit seinem Diamantring an die Scheibe, und da wurde geöffnet.

Alles hätte gut gehen können, sie hätten nicht die schlaflosen Alten zu beunruhigen brauchen, aber Fräulein d'Espard mußte ein Buch haben, es lag gewiß im Salon oder anderswo. Sie begann durch knarrende Türen zu wandern, fand eines ihrer Bücher, aber es war nicht das, welches sie suchte, und sie ging weiter, fand noch eines, aber auch das war es nicht, und so mußte sie umkehren und sich mit dem ersten Buche begnügen.

Ach, die Bücher Fräulein d'Espards, sie blieben liegen, wo sie zuletzt gesessen und gelesen hatte, ausschließlich französische Bücher, Romane, gelbe Hefte aus billigem Papier. All diese literarische Mittelmäßigkeit war das wichtigste vom Gepäck des Fräuleins, die Bücher waren es, die es schwer machten, die schuld daran waren, daß der Kutscher sich am Koffer verhob. In jedes Buch war der Name des Fräuleins, Julie d'Espard, geschrieben, damit niemand sich irrte, wer im Sanatorium Französisch konnte. Sie fragten sie anzüglich, ob sie mehrere Bücher auf einmal läse, weil so viele herumlagen. – Nein, das tat sie nicht. Und sie sagte in ihrem Norwegisch: Aber ich dachte, wenn vielleicht jemand ein französisches Buch leihen wollte, so stände es zu Diensten. – Ich habe noch nicht einmal ein Zwanzigstel von unseren norwegischen Büchern gelesen, lautete die Antwort. – Nein, norwegisch! sagte Fräulein d'Espard.

Es war dumm, aber mehrere waren verschnupft über das Fräulein; sie war so ausländisch und überlegen, setzte sich über die Verhältnisse hinweg. Alte Pfarrerstöchter meinten, es genügte, an Gott zu glauben und ehrbar gekleidet unter die Leute zu gehen, aber nein. Sie fuhren nachts nicht herum und knarrten mit den Türen, aber das tat Fräulein d'Espard. Am Morgen beklagten sie sich beim Inspektor, der Inspektor hatte eine Unterredung mit der Wirtschafterin, die Wirtschafterin ging zum Doktor. Ja, der Doktor war nach einigem Nachdenken ganz ihrer Meinung, daß das Unwesen gedämpft werden müßte. Er nahm es wie gewöhnlich auf die leichte Achsel, scherzte mit den Alten und lobte sie, weil sie sich trotz allem so gut auf Torahus erholt hätten, Fräulein d'Espard drohte er mit dem Zeigefinger und brachte sie zum Lachen. Oh, mit ihr wurde er nicht fertig, sie wußte die Männer zu behandeln. So ging er denn zu Herrn Fleming, ein Brustkranker hätte nachts im Bett zu sein.

Sie sollten lieber am Tage ausgehen, sagte der Doktor zu Herrn Fleming.

Ja.

Am Tage in der Sonne.

Ach ja, aber wozu das alles, wozu läßt man mich so lange zappeln? fragte Herr Fleming, bleich vor Morgenkälte und Traurigkeit. Sehen Sie meine Nägel an, wie blau die geworden sind!

Die Nägel? Ach was! Sie sollten Forellen angeln gehen in den Gewässern hier oben.

In der Sonne kann man nicht Forellen angeln.

O doch, mit der Fliege. Andere angeln auch mit der Fliege, Daniel von der Sennhütte zum Beispiel. Wir finden schon einige gute Stellen. Ich werde mit Ihnen gehen.

Sehen Sie, Herr Doktor, ich habe heute nacht wieder meinen Brustkasten beobachtet: die linke Seite ist eingesunken.

Haha, lachte der Doktor. Es gibt niemand, bei dem der Brustkasten auf beiden Seiten gleich ist, niemand! Nein, kümmern Sie sich bloß nicht darum. Sie spucken doch nicht Blut?

Tief eingesunken, wiederholte Herr Fleming. Ich schwitze auch nachts.

Aber Sie spucken doch nicht Blut?

Ich huste aber. Ich hustete heute nacht, als ich draußen war.

Sehen Sie! rief der Doktor. Ist Fräulein d'Espard schuld an Ihrem Leichtsinn?

Nein, nein, ich wollte es selber, ich suchte ihre Gesellschaft.

Schön, suchen Sie sie nach Herzenslust am Tage.

Da Sie Fräulein d'Espard erwähnen, sagte Herr Fleming, ich bin so dankbar, daß sie mir Gesellschaft leistet. Sie ist so heiter und tapfer, ich habe einen Halt an ihr. Wir sprechen über so vieles, ich erzähle ihr von meinem Heim.

Hören Sie, sagte der Doktor, um das Gespräch zu beendigen, Sie werden sich um zehn Uhr abends hinlegen und wieder gesund werden.

Herr Fleming wiederholte mit einem zweifelnden Lächeln: Wieder gesund?

Wieder gesund, sagte der Doktor bestimmt und nickte. Jetzt bekommen Sie Hustentropfen von mir.

Eine Hoffnung entzündete sich in Herrn Flemings Augen, sein Mund bebte, als er fragte: Sie glauben doch nicht, daß ich wieder gesund werde?

Der Doktor starrte ihn an: Sie nicht wieder gesund werden? Sind Sie verrückt!

Das wäre zu schön – zu schön –

So kommen Sie jetzt mit, dann sollen Sie Ihre Tropfen haben.

Unterwegs begann Herr Fleming der Meinung des Doktors zuzuneigen, daß er möglicherweise wieder gesund würde. Nein, ich spucke jetzt wirklich kein Blut mehr, sagte er, da haben Sie recht. Woher mag das nur kommen? Vor einem Monat spuckte ich Blut, nicht viel übrigens, einige Mundvoll, aber wir haben ja mehrere Liter Blut in uns, was ist da schon ein Mundvoll! Und seit ich hergekommen bin, habe ich nicht mehr gespuckt. Glauben Sie, daß es ganz aufgehört hat?

Der Doktor hielt Herrn Fleming an, bat ihn, gerade zu stehen und ihm in die Augen zu sehen. Es war ein ärztlicher Einfall, oder er wollte einen starken Eindruck machen. Plötzlich lachte er lustig und sagte: Sie mit Ihrer starken Konstitution, ein Riese, alte zähe Rasse! Ich kenne niemand, der von der Hand der Natur besser ausgestattet wäre. Wir müssen nur Ihre linke Lungenspitze übertünchen, dann sind Sie wieder gesund.

Herr Fleming lächelte vor Verwunderung und Dankbarkeit. Danke, danke, sagte er.

Aber keine nächtlichen Wanderungen in der rauhen Luft, denken Sie daran!

Dann holten sie die Tropfen.

Ja, das war schon richtig, Herr Fleming war von der Natur gut ausgestattet, aber die Natur schien ihr Wort, ihre ihm gemachten Versprechungen zurückgenommen zu haben. Es war ein Jammer, einen jungen Mann so hinwelken zu sehen. Der Trost des Doktors war ihm sehr willkommen, er brauchte ihn und war den ganzen Tag besserer Stimmung. Das wäre ein Streich, wenn er das Schicksal betröge, wirklich ein prachtvoller Streich! Er setzte sich hin und schrieb einen heiteren Brief nach Hause: Ein merkwürdiger Platz dieses Torahus in Norwegen, kranke Leute würden hier gesund, einer nach dem andern. Aber hier sei auch ein Doktor, der seine Sache verstehe, welche Hustentropfen er gebe, welch eine Sicherheit, welch ein Wissen in ihm stecke! schrieb er.

Als Herr Fleming sich am Abend niederlegte, schien sein Brustkasten deutlich noch mehr eingesunken zu sein; woher kam das? Sollte es doch etwas Ernstes mit der Brust sein? Er untersuchte sich im Spiegel, maß sich genau mit den Augen, drückte die rechte Seite hinunter, um sie der linken gleichzumachen, aber die linke war und blieb tiefer. Nicht nennenswert, nur ganz wenig, eine Senkung von der Lungenspitze abwärts, aber genug, um Herrn Fleming wieder mißtrauisch zu machen. Er legte sich nieder, konnte aber lange vor Gedanken nicht einschlafen. Er bekam die hübsche Idee, daß Fräulein d'Espard ihn schon kuriert haben würde, wenn sie Ärztin wäre; er hätte sie heiraten sollen, dann würde sie ihn schon kuriert haben! Seine Gedanken führten ihn weiter und wurden wie gewöhnlich, wenn er sich abends niedergelegt hatte, immer heißer, sie wurden gefährlich und unkeusch, unerträglich; er wand sich stundenlang, ehe er einschlief. Als er in der Nacht aufwachte, war er naß von Schweiß.

Der Morgen kam. War er eines der Geschöpfe, die nicht die Augen aufschlagen konnten, ohne zu lachen und zu singen? Nein, nein, welchen Grund hatte er dazu! Er nahm seinen Platz am Frühstückstisch befangen und ohne den geringsten Appetit ein. Er sah auf Fräulein d'Espards Teller, sie hatte noch nicht gegessen. Was wollte er von ihr? Nichts, sie hörte ihn an und ging nicht achtlos an ihm vorüber, sie ließ ihn nicht allein mit seinen Gedanken, sie war hübsch und gesund, ein allerliebstes Früchtchen. Als sie kam, war er ihrer schon müde und grüßte widerwillig.

Gut geschlafen? fragte sie.

Er schüttelte nur den Kopf.

Wir wollen ein bißchen ausgehen, sagte sie.


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