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VI

Eine Zeit voller Unruhe und Unfrieden.

Es war unvermeidlich, ein so trauriges Ereignis mußte wochenlang Tag und Nacht erörtert werden. Wie war das alles zugegangen? Der Doktor wurde beinahe umgebracht wegen stärkender Tropfen, der Schweizer und der Briefträger konnten sich nicht zeigen, ohne angefahren zu werden, bei Daniel wurde feierlich angefragt, ob er noch mehrere wütende Ochsen, vielleicht noch einen oder zwei dazu habe.

War das ein Zustand, sollte die Leiche nicht geschmückt und begraben, der Ochse nicht geschlachtet werden? Geschah das nicht je früher desto besser?

Rechtsanwalt Robertson mußte sein Bureau und seine Geschäfte in der Stadt im Stich lassen und als erster Mann an der Spritze wieder nach Torahus kommen. Er hatte schwere Mühe, die Unzufriedenheit zu dämpfen, die Patienten waren ganz außer sich, welche Sicherheit hatten sie hier für Leben und Glieder! Der Schweizer war ein Mörder, jawohl, aber Daniel hatte nun doch einen wütenden Ochsen gehabt, war er ganz ohne Schuld? Und der Rechtsanwalt selbst und der Doktor, die ein Sanatorium direkt in der Nähe eines wütenden Ochsen erbaut hatten! Wie war es übrigens zu verstehen, daß das Ungeheuer immer noch am Leben war, im Stall des Sanatoriums stand und Heu fraß?

Der Selbstmörder nickte und sagte prophetisch: Der zweite Todesfall!

Sonst ging es so einigermaßen nach dem Wunsch des Selbstmörders: je länger das Schlachten hinausgeschoben wurde, desto weniger frisches Rindfleisch kam auf den Schuldirektor, nach menschlicher Berechnung war bald der ganze Ochse gespart!

Aber der Rechtsanwalt störte diese Berechnung.

Er sprach mit dem Doktor und erörterte die Situation. Der Doktor war in der letzten Zeit etwas unruhig geworden: zwei Todesfälle nacheinander, und der eine davon ein großer Konsul – schön, es waren unglückliche Zufälle, aber es war keine Reklame für das Sanatorium.

Gegen den Tod ist kein Kraut gewachsen! antwortete der Rechtsanwalt.

Der neue Schub Gäste habe nach dem festen Musiker gefragt, erzählte der Doktor. Es habe in der Zeitung gestanden, sagten sie, daß das Sanatorium einen festen Pianisten habe, und wo er sei?

Der Rechtsanwalt antwortete: er solle es nur in der Zeitung stehen lassen, man könne nicht auf alles schwören, was in der Zeitung stände. Unser Musiker ist auf Urlaub, sagte er, wir haben ihn ins Ausland geschickt, um ihn noch größer zu machen. Das ist sehr einfach. Wenn er zurückkommt, hat er ausgelernt, ist ein Meister. Ich habe übrigens die ganze Zeit gesagt, daß ich diese Wanderlust bei dem jungen Mann achte. Das ist bekannt.

Dann fragten die Gäste nach der Prinzessin. Sie habe auch in der Zeitung gestanden. Wo sie sei?

Ja, wo die ist, mag der Teufel wissen. Vielleicht ist sie auch tot oder durchgebrannt oder verhaftet, was weiß ich. Sie hat jedenfalls hier gewohnt und ihre Rechnung bezahlt.

Die beiden Herren denken nach. Jedenfalls haben wir aber den Grafen, fährt der Rechtsanwalt fort.

Den Grafen! sagt der Doktor und schüttelt den Kopf. Er ist krank gewesen. Er ist keine Sehenswürdigkeit.

Der Rechtsanwalt ist nicht ratlos: Und nun haben wir ja Direktor Oliver bekommen!

Ja, allerdings.

Ein bekannter Mann, ein Gelehrter. Ich will ihn begrüßen.

Er bleibt kaum länger als eine Woche.

Ich werde mit ihm reden, antwortet der Rechtsanwalt, ihn willkommen heißen, hoffen, daß es ihm hier gut gehen möge, fragen, ob er etwas dagegen hat, daß ich ihn in die Zeitung setze. Das wird schon wirken!

Der Mut des Doktors hebt sich, und er lacht darüber, daß der Rechtsanwalt so schnell Rat weiß. Sie zerbrechen sich ja die Köpfe in aller Unschuld, es schadet keinem, geschieht nur zum Vorteil der Torahus-Heilstätte.

Ich denke darüber nach, ob der Schuldirektor und ich nicht das Abitur zusammen gemacht haben, sagt der Rechtsanwalt. Es kommt mir so vor, als wären wir gute Freunde.

Der Doktor lacht noch mehr.

Der Rechtsanwalt runzelt die Stirn und sagt ernsthaft: Wir halten ihn jedenfalls fest, bis wir einen andern haben. Da er nicht viel Geld hat, kann er umsonst hier bleiben ...

Und Schuldirektor Oliver blieb mit seinen Jungen zwei Wochen, und er blieb drei Wochen. Der Ochse wurde nun gleich geschlachtet und zu Essen verwandelt, die Konserven wurden von delikaten Braten und Beefsteaks abgelöst, und das allgemeine Wohlbefinden stieg. Ja, der Schuldirektor gedieh und nahm zu, er faulenzte, las Fräulein d'Espards französische Bücher und ging dann den Inhalt mit ihr durch, es war ein Erlebnis für ihn, eine so gebildete Dame zu treffen, in seiner eigenen Stadt gab es so gut wie gar keinen ebenbürtigen Umgang.

Aber der Selbstmörder knirschte mit den Zähnen.

Der Selbstmörder wußte sehr gut, daß man den Schuldirektor nicht hinauswerfen konnte. Die Dame, die seinetwegen das Zimmer geräumt hatte, war jetzt tot, und der Direktor verdrängte keinen Menschen mehr. Aber damit hörten Unwillen und Ärger des Selbstmörders über diesen Mann nicht auf, der hergekommen war und ein heizbares Zimmer verlangt hatte. Wer hatte nach ihm geschickt? Welchen Grund gab es, soviel Wesens von ihm zu machen? Und hatte man je einen Appetit gesehen wie den dieses Schullehrers? Der Selbstmörder sagte zu seinem Kameraden Anton Moß: Ich tue alles, um diesem Menschen aus dem Wege zu gehen, aber ich vermeide einen Zusammenstoß nicht!

Es begann damit, daß sich der Selbstmörder eines Tages ins Rauchzimmer setzte und wartete. Er wartete auf die Zeitungen, die mit der Post kommen sollten. Jawohl, die Zeitungen kamen. Nun war es zur Regel geworden, daß der Schuldirektor als der am meisten belesene und interessierte Gast die Blätter zuerst zur Durchsicht erhielt, alle Gäste fanden das natürlich, aber den Selbstmörder ärgerte es. Als die Zeitungen kamen, sorgte er in Eile dafür, daß sie über den Tisch verstreut und mit verschiedenen älteren, längst gelesenen Blättern vermischt wurden, dann setzte er sich selbst mit einer englischen Zeitung hin, auf die Myladys wegen abonniert worden war. Jetzt war alles vorbereitet.

Der Schuldirektor kam.

Auf einmal wurden die beiden Herren uneinig: der Schuldirektor mußte, um die neuen Blätter herauszufinden, erst die Nummern und Daten mit den alten vergleichen, und er fragte den Selbstmörder: Welche Nummer haben Sie?

Der Selbstmörder antwortete, als ob er nicht verstände: Ich? Welche Nummer ich habe? Ich habe keine Nummer, ich habe Buchstaben, mein Name ist Magnus.

Der Schuldirektor suchte weiter zwischen den Zeitungen und sagte immer wieder: So etwas habe ich noch nicht erlebt!

Was gibt es? fragt der Selbstmörder.

Was es gibt? bricht der Schuldirektor erbittert aus. Warum haben Sie die Zeitungen durcheinandergeworfen?

Jetzt stellt der Selbstmörder folgende verblüffende Frage: Ist Ihnen das von selber eingefallen?

Der Schuldirektor schweigt. Es muß ihm klar geworden sein, daß er es mit einem Verrückten zu tun hat. Er setzt sich und beginnt in die Blätter zu gucken, die er schon herausgefunden hat.

Aber der Verrückte scheint sitzen bleiben zu wollen, der Schuldirektor guckt die Zeitungen zwei-, dreimal durch, aber es hat kein Ende, der Verrückte hält immer noch die englische Zeitung fest zwischen den Händen, gerade als hätte er erraten, daß der Schuldirektor just auf dieses Blatt wartete. Ja, denn heute wollte Direktor Oliver doch die ausländischen Zeitungen lesen, das war seine höchste Lust, sein Steckenpferd von Jugend auf.

Würden Sie nicht so freundlich sein, die Zeitung mit mir zu tauschen? fragt er verzweifelt.

Keine Antwort.

Ich bemerke nämlich, daß Sie nicht lesen, daß Sie nicht umblättern.

Das ist deutlich, aber auch das macht keinen Eindruck auf den Verrückten.

Fräulein d'Espard kommt ins Zimmer und grüßt ehrerbietig: Guten Morgen, Herr Direktor!

Der Schuldirektor macht gleich Andeutungen, daß die Blätter in die schrecklichste Unordnung geraten seien, daß er sich nicht hindurchfinden könne.

Das Fräulein macht sich sofort daran, sie zu ordnen. Sie braucht nur ein paar Minuten, sie kann alles, ist zu allem zu gebrauchen. Dann tritt sie zum Selbstmörder und sagt leise und bittend: Wollen Sie mir Ihre Zeitung nicht ein Weilchen leihen? – Das Teufelsmädel, sie war so unbeliebt bei den Damen, aber sie revanchierte sich, sie hatte Anziehungskraft für die Herren. Da steht sie, ganz Süße, sie kommt dem Selbstmörder nahe, atmet ihn an. Aber Sie haben sie vielleicht noch nicht gelesen? sagt sie.

Nein, antwortet er und reicht ihr das Blatt, ich lese es auch nicht. Ich kann es gar nicht lesen.

Aber jetzt wurde es dem Schuldirektor zu bunt – obgleich er das Blatt bekam: Sie können es garnicht lesen? Dann können Sie wohl kein Englisch? Aber warum haben Sie denn die Zeitung so lange behalten? Das verstehe ich nicht.

Der Selbstmörder antwortet: Wenn ich nun sagte, daß ich schlecht sähe und die Zeitung deshalb nicht lesen könnte, dann wäre es nicht wahr. Ich sehe recht gut, aber mein Kamerad Anton Moß sieht leider schlecht.

Ja, was denn? fragt der Schuldirektor verwirrt.

Ja, weiter nichts. Er hat Ausschlag im Gesicht bekommen, und der beginnt jetzt die Augen anzugreifen.

Der Schuldirektor gab es auf. Er sah einen Augenblick Fräulein d'Espard fragend an. Sie sagte: Er kann doch wohl Englisch!

Nein, das kann ich nicht, entschied er.

Der Schuldirektor und das Fräulein beginnen zu lesen. Aber jetzt war der gelehrte Mann in seinen täglichen Gewohnheiten gestört und aus dem Konzept gekommen, und er konnte seinen Ärger nicht verbergen: Denken Sie, nicht Englisch zu können! sagte er zum Fräulein. Da kann er wohl überhaupt keine Sprachen. Meine Knaben haben schon allerlei Sprachkenntnisse.

Und das Fräulein antwortet: Die haben ja auch den Vorzug, die Söhne von Direktor Oliver zu sein.

Heutzutage rechnet es wahrhaftig nicht jeder als Vorzug, ein gebildeter Mensch zu sein und Sprachen zu können.

Sie lesen wieder. Der Schuldirektor ist übrigens durch die Worte des Fräuleins milder gestimmt worden, und als er jetzt den unkundigen Mann einsam ohne Zeitung in der Ecke sitzen sieht, überkommt ihn etwas wie Mitleid mit ihm. Er ist Schuldirektor, er ist Lehrer und muß danach handeln. Natürlich sind sie alle von Natur aus gleich glücklich gestellt, seine Knaben haben es besser als andere! Er sagt ein paar Worte in dieser Richtung und liest weiter. Das Fräulein schreibt etwas, notiert etwas auf einen Zettel und reicht ihn dem Schuldirektor. Es ist vielleicht Französisch. Ach so, sagt der Schuldirektor und nickt, jawohl, sagt er. Und nun ist es, als hätte er eine Aufklärung erhalten und verstünde mehr als zuvor: etwas ist ihm aufgegangen. Er erhebt sich, setzt sich neben den Selbstmörder und beginnt freundschaftlich mit ihm zu reden: Ich habe einen Gedanken gehabt – ich bin ja Schullehrer, wie Sie wissen – wenn Sie wollen, will ich Ihnen gern etwas Sprachunterricht geben, während ich hier bin. Was meinen Sie dazu?

Der Selbstmörder sieht ihn an.

Sie dürfen mir glauben: der Schuldirektor ist kein unmöglicher Mensch. Lebten Sie in meiner Heimat, so würde ich Sie umsonst privat unterrichten.

Der Selbstmörder ist nicht überwältigt. Das meinen Sie wohl nicht buchstäblich, sagt er, es steckt wohl ein höherer Sinn dahinter.

Nein, durchaus nicht! antwortet der Schuldirektor lächelnd. Ich habe keinen Hintergedanken dabei; ich will Sie gerne lehren, was Sie nicht können.

Die Zeitungen, von denen Sie soviel Wesens machten, sagt der Selbstmörder plötzlich und grob – so durcheinandergeworfen wie heute finden wir sie jeden Tag, wenn Sie sie gehabt haben.

Der Schuldirektor geschlagen: Das ist nicht möglich! Er sieht hilflos zu Fräulein d'Espard hinüber und fragt: Ist das möglich, hinterlasse ich die Blätter so unordentlich? Wenn ich das tue, so ist es sehr unrecht von mir.

Fräulein d'Espard entschuldigt ihn bei dem Selbstmörder: Der Herr Direktor ist doch ein Gelehrter, wissen Sie, da kann er nicht so genau sein wie wir andern.

O doch, protestiert der Schuldirektor, ich werde wirklich – es soll nicht wieder vorkommen –

Die Dame, die gestorben ist, fährt der Selbstmörder stahlhart fort – wissen Sie, daß Sie sie aus ihrem Zimmer verdrängten und es ihr hier unerträglich machten? Sie hat sich mehr als einmal den Tod gewünscht.

Auch das verstehe ich nicht. Was für eine Dame?

Das Fräulein. Sie bekam ein Zimmer ohne Ofen und wünschte sich den Tod. Da hat der Ochse sie aufgespießt.

Da lachte Fräulein d'Espard laut über die Rede des Selbstmörders und nahm sie nicht buchstäblich, nein, jetzt war er zu spaßhaft, zu erfinderisch geworden! Er selbst saß noch ebenso ernst und unbarmherzig da und schien seine Angriffe noch nicht aufgeben zu wollen. Was meinte er mit seiner unliebenswürdigen Haltung? Er hatte doch nichts davon, seine Zuhörer wurden nur immer nachsichtiger mit ihm, lächelten und gaben ihm recht. Zuletzt stand er auf und ging.

Ach so, er ist ein bißchen seltsam, närrisch? Es ist gut, daß Sie es mir sagten. Denken Sie, suicidant! sagt der Schuldirektor und liest wieder den Zettel des Fräuleins. Da sieht man!

Ja, aber vielleicht ist es nur Unsinn von ihm. Der Doktor glaubt nicht daran.

Ich bin doch nett zu ihm gewesen, nicht wahr?

Sie haben wirklich liebenswürdig mit ihm gesprochen, Herr Direktor, haben ihm Unterricht angeboten und überhaupt.

Ja, aber haben Sie gehört: er hat es nicht angenommen, hat sich nicht bedankt. Nein, das kenne ich. Aber was ich sagen wollte: sehen Sie jetzt, wie gut Sprachkenntnisse sind! Hätten Sie es auf Norwegisch geschrieben, so hätte er es noch selbst gelesen.

Ja, sagt das Fräulein auch, ich habe mehr als einmal Nutzen und Freude von meinem Französisch gehabt.

Aber da haben Sie gehört, fährt der Schuldirektor niedergeschlagen fort, er machte sich nichts aus dem Unterricht. Mit solchen Leuten kommt man nicht weiter, ich habe es versucht, sie wollen nichts lernen, sie sind undankbar.

So ist es! nickt das Fräulein übertrieben, als hätte der Schuldirektor direkt ins Schwarze getroffen.

Oh, Sie können mir's glauben, ich habe es versucht, sogar bei meinen Nächsten! Ich habe zum Beispiel einen Bruder in meiner Stadt. Er ist Schmied. Ein tüchtiger Schmied und auf seine Art ein guter Kopf, aber ganz unwissend und ungebildet. Wir haben nichts miteinander gemein, Sie verstehen: unsere Interessen sind ganz verschieden, wir kommen fast nie zusammen. Ich will ihn nicht tadeln, weit gefehlt, er macht mir keine Schande, er verdient gut, hat Vermögen und ist geachtet, aber wir verkehren nicht miteinander. Als er Stadtverordneter wurde, schickte ich ihm eine Karte, aber er bedankte sich nicht. Wir haben ein paarmal ein wenig miteinander gesprochen, als er mir helfen und Geld leihen sollte. Ja, er tat es, aber genau so, wie er jedem andern auch geholfen hätte. Keine größere Bereitwilligkeit, fast das Gegenteil: er bedachte sich. Er hatte seine Kinder aus der Schule genommen, als sie konfirmiert wurden, obwohl sie begabt waren, und ich wollte, daß sie weiterlernen sollten, um sich eine Stellung in der Gesellschaft zu erringen. Nein. Und jetzt begann mein guter Bruder Abel mit mir zu sprechen, mir ganz einfach eine Rede zu halten. Eine Stellung zu erringen! höhnte er. Womit ich gearbeitet hätte? Mit etwas Kaltem und Totem, Mausetotem: die Kinder Sprachen und Fremdwörter und alles, was fein und unnatürlich war, lernen zu lassen. Was das diese Kinder an Zeit und Geisteskräften in ihrer Jugend kostete! Also genau, als wäre es fortgeworfen, verstehen Sie. Und glauben Sie ja nicht, daß es Scherz gewesen wäre, nein, es war sein Ernst. Ich arbeite in einem wilden, sinnlosen System, wie es schiene, und ich und meine Kollegen seien zwar gelehrt, aber blind; wir wunderten uns nicht einmal selber über die Leere und geistige Finsternis, in der wir hausten. Wonach ich jagte? fragte er. Nach einem Straßennamen in unserer Stadt, Oliverstraße? Oh, ich sei dazu bestimmt, mein ganzes Leben in Armut an Leib und Seele zu leben. An Seele auch, sagte er!

Das Fräulein schlägt die Hände zusammen.

Ja, sagt der Schuldirektor lächelnd. Glauben Sie mir, ich habe mein Päckchen zu tragen. Und das ist ein Stadtverordneter, den die Leute anhören; in der Gemeindeverwaltung hat er sich auszudrücken gelernt, und die Leute finden, daß gesunder Menschenverstand in dem ist, was er sagt. Nun, das nächste Mal, daß ich mit ihm sprach, war, als ich meinen Doktor machen sollte und wieder ein wenig Hilfe brauchte. Er wußte wieder nicht das geringste. Doktor, was ist das? fragte er, das ist wohl wieder so was Totes, was du vorhast. Nein, antwortete ich, es ist lebendig genug, es ist Forschung, Wissenschaft, etwas, das nie stirbt! Ja, was es denn sei, ob etwas, das man früher nicht gewußt habe? Und dann begann er aufzuzählen: sei es etwas von Fleisch und Blut, Kunstdünger, Sternenkunde, Tiefseefische, Musik, ein Mittel gegen Blattläuse – er freut sich an Blumen und hat einen Garten – kurz, sei es irgend etwas mit Liebe und roten Wangen? – die Art Sprache hatte er zu gebrauchen gelernt. Nein, sagte ich vollkommen hilflos und stand wie ein Schuljunge vor meinem Bruder, dem Schmied, nein, so etwas sei es nicht, sondern eine philosophische Abhandlung über die Batrachomyomachie, das sei Sprachforschung, Entdeckung, etwas von beidem, Margites, Homonymie usw. Aber warum? sagte er. Warum? sagte ich, wer kann auf so etwas antworten? Aber meinst du nicht, wenn Homer diese alte Schrift nicht verfaßt hat, so könnte es gut Pigres von Karien sein? Nein, das meinte er nicht. Du machst dir wieder mit etwas zu schaffen, das mausetot ist, sagte er. Ach, für ihn war alles der lächerlichste Unsinn, fortgeworfenes Geld, sagte er, als er es mir gab. Ja, darauf gab ich ihm keine Antwort, ich habe es mir zur Regel gemacht, nicht mit ihm zu diskutieren, es ist doch hoffnungslos. Er kam sogar nochmals darauf zurück, daß eine Straße in der Stadt nach mir genannt werden sollte, aber da antwortete ich ihm, das sei nicht nötig, ich bekäme vielleicht noch einmal ein Denkmal in Kristiania selbst.

Ja, das bekommen Sie sicher! ruft Fräulein d'Espard.

Nun, das muß die Zukunft zeigen, von der Gegenwart erhoffe ich nicht viel. Aber das waren die beiden Male, die ich mit meinem Bruder Abel gesprochen habe. Dann war einmal ein Türschloß bei uns zu Hause in Unordnung geraten, und ich telephonierte meinem Bruder, er möchte kommen und es in Ordnung bringen. Ich erklärte ihm, daß es sicher ein schwieriger Fall sei, der Schlüssel ginge nicht hinein. Glauben Sie, er sei selbst gekommen? Er schickte einen von seinen Jungen, und nicht einmal den ältesten! Nun, der Junge wurde damit fertig, er schraubte das Schloß los, nahm es auseinander und setzte es instand; ihre Hände zu gebrauchen, das lernen diese Jungen ja. Aber da sollten meine eigenen Jungen, die Sprachen und Mathematik gelernt haben, dabeistehen und zugucken! Nein, auf Feingefühl darf man nicht rechnen. Es ist in diesem Fall zu beachten, daß die ganze Stadt auf seiten meines Bruders steht, auf seiten des Schmiedes gegen den Schuldirektor! Wenn die Leute von uns sprechen, so heißt es: Was für ein Unterschied zwischen den beiden Brüdern! Der eine ist verständig, der andere gelehrt! Und Gelehrtsein ist natürlich das Geringere! fügt der Schuldirektor hinzu und lächelt.

Ja, das ist klar! lächelt Fräulein d'Espard auch.

Ach ja, viel Verständnis findet man nicht zu Hause in seiner guten Stadt, es ist manchmal niederschlagend! Plötzlich nickt der Schuldirektor mehrmals und sagt: Er soll sein Geld natürlich so bald als möglich wiederbekommen.

Natürlich.

Das soll er wirklich. Es muß den hohen Herren von der Wissenschaft wohl endlich aufgehen, daß ich ein Stipendium verdiene.

Der arme Schuldirektor Oliver, er war auch nicht auf Rosen gebettet, ihm war viel Unrecht geschehen und übel mitgespielt worden. Es war ja sonnenklar, daß er recht hatte, aber sein Recht wurde von dem ungebildeten Pöbel mit Füßen getreten. Sollte er kapitulieren? Er war darauf angewiesen, den Kopf hochzuhalten und für sich und seine Sache einzustehen, es war sogar entschuldbar, wenn er übertrieb, was seine Jungen in Sprachen und Mathematik konnten, in Wirklichkeit war es sehr wenig, sie wollten nicht lernen, sondern gingen zum Onkel in die Schmiede oder waren auf Abenteuer aus. Das war nicht gut für den Schuldirektor, seine Mühe trug nicht die rechten Früchte.

 

Herr Fleming trat ein, müde und hohlbrüstig, aber lächelnd und grüßend, ein Lungenkranker, ein Patient, als Kavalier gekleidet: Guten Morgen, gnädiges Fräulein! Er verbeugte sich auch vor dem Schuldirektor.

Wir unterhalten uns ein bißchen, sagt das Fräulein. Der Herr Direktor war so liebenswürdig, mir von den Verhältnissen seiner Vaterstadt zu erzählen.

Herr Fleming setzt sich und fragt mit einem Blick auf den Tisch: Etwas Neues in den Zeitungen heute?

Der Schuldirektor antwortet: Nichts Neues, glaube ich. Ich habe übrigens noch nicht alles gelesen.

Der Herr Direktor ist nämlich heute von unserem Selbstmörder gestört worden, erklärt das Fräulein. Er saß hier und beschuldigte den Herrn Direktor, gemeinsam mit dem Ochsen die Dame ermordet zu haben.

Sie lächeln und reden weiter darüber, kommen auf das große Unglück selbst zu sprechen, und der Schuldirektor wundert sich, daß der Ochse, ein vierbeiniges Tier, den Felsblock stürmen konnte. Herr Fleming versteht soviel wie ein Bauer und erklärt es: das Tier hat Hornklauen, es konnte sich sozusagen einhaken, und da es wild und in so toller Fahrt war, enterte es den Felsen in ein paar Sekunden.

Waren Sie auch auf dem Felsen?

Nein, antwortete Herr Fleming, Fräulein d'Espard hatte mich schon vorher nach Hause gejagt.

Sie waren damals ja noch nicht gesund, murmelt das Fräulein.

Ich ängstigte mich so um meine Jungen, sagt der Schuldirektor, aber was konnte ich machen? Hinterher haben sie zwar die verdiente Strafe erhalten, aber ... Ich hoffe nur, daß sie von jetzt an Gefahren aus dem Wege gehen werden, sich soviel wie möglich von ihnen fernhalten.

Es sind tüchtige Jungen, antwortete das Fräulein, sie kletterten zuerst auf den Felsen und zeigten uns andern den Weg. Sonst hätte es noch schlimmer kommen können. Jetzt gingen ja nur ein Menschenleben und ein Damenhut verloren.

Ein Schatten zieht über Herrn Flemings Gesicht bei der Frivolität des Fräuleins, und er fragt:

Wollen wir jetzt gehen?

Das Fräulein sagt im Aufstehen: Denken Sie sich, Herr Fleming hat mir einen neuen Hut versprochen! Ich bin sehr gespannt darauf. Jawohl, lassen Sie uns gehen! Und sie erklärt dem Schuldirektor: Wir wollen wieder nach Daniels Sennhütte hinüber. Herr Fleming will seine saure Milch essen. Dann gehen sie.

Sie hatten die Umgebung des Sanatoriums noch nicht überschritten, als sie auch schon den Ton wechselten. Der neue Ton war, daß sie schwiegen. Die Menschen können nicht stets auf derselben Saite spielen, manche Saiten reißen, zuweilen spielt man auf der letzten. Fräulein d'Espard hatte stets über alles mögliche zu reden gepflegt, warum sagte sie jetzt nichts? Das mußte Herrn Fleming wundern. Er selbst war nie sehr gesprächig, kein Wasserfall, kein Sturzbad, aber er ließ sich gern unterhalten. Hin und wieder konnte er mit einigen feinen, treffenden Worten einfallen und dann den andern den Rest überlassen, das war nun mal seine Art. Aber Fräulein d'Espard!

Endlich sagt sie denn auch etwas, das nicht länger ungesagt bleiben kann: ja, nun begleite sie ihn wohl das letztemal nach der Sennhütte!

Das traf. So? Wie? sagte Herr Fleming. Welche Überraschung! Er war ganz unvorbereitet. Reisen Sie ab? fragte er.

Ja, denn sie sei zum zweitenmal vom Kontor zurückgerufen.

So. Herr Fleming wurde sehr nachdenklich. Ich habe nicht mal von einem erstenmal gewußt, sagte er.

Nein, warum sollte ich – Sie waren damals noch nicht wieder gesund – wozu es Ihnen auch sagen –

Herr Fleming wurde noch nachdenklicher, beide schwiegen.

So gehen sie im schönsten Wetter, im Altweibersommer, mit der Aussicht auf ein weites Tal tief unter ihnen, beide sind jung, beide lieben das Leben, und beide schweigen. Fräulein d'Espard hat eine ernste Schickung mit Gemütsruhe ertragen, sie war ja schon vor vierzehn Tagen benachrichtigt worden, daß sie zurückkehren und ihren Posten wieder übernehmen müßte, aber sie reiste nicht, sie konnte doch einen Kranken, der ihre Unterhaltung brauchte, nicht verlassen. Und vor ein paar Tagen hatte sie ihre Entlassung erhalten. Ihre Entlassung. Sie hatte es mit Haltung getragen, hatte aus irgendeinem mystischen Grunde Herrn Fleming nichts gesagt, und sogar heute morgen hatte sie ihre Verdrießlichkeiten vergessen und Schuldirektor Oliver aufmerksam zugehört, als er ihr von seinen berichtete. Sie war ein tüchtiges Mädchen, sie winselte nicht! Aber jetzt begann ihr das Geld auszugehen, und so mußte sie schließlich mit der Sprache heraus.

Wie oft? fragt Herr Fleming. Er hofft vielleicht auf einen Aufschub und ratet: Dreimal, drei Briefe?

Nein, antwortet sie lächelnd, nichts mehr zu machen. Sofort.

Na, dann hilft es nichts. Reisen Sie morgen?

Ja, morgen.

Sie schweigen wieder. Herr Fleming bleibt stehen, ihm scheint, als hätte es jetzt keinen Wert mehr für ihn, weiterzugehen.

Das Fräulein kommt ihm zu Hilfe. Was ist das für ein Haus? sagt sie. Das Haus hat früher nicht hier gestanden. Lassen Sie uns sehen.

Sie kommen an eine kleine Scheune auf dem Felde, einen Schuppen, den Daniel sich gerade für das Heu von seinen Bergwiesen gezimmert hat, und da er so neu und voll von frischem Heu ist, gehen sie hinein, um sich auszuruhen. Das Haus hat keine Tür, die Sonne scheint durch die breite Öffnung zu ihnen herein, kleine Sperlinge fliegen auf der Mückenjagd ein und aus. In Herrn Flemings Geist tauchen vielleicht Erinnerungen auf, er wird weich und traurig und beginnt von seinem Heim zu sprechen. Es ist nicht groß, kein eigentliches Gut, kein Schloß im Grunde, nein, nur ein kleines Landhaus, also kein Reichtum, weit entfernt –

Jetzt sehen Sie es sicher zu schwarz an, tröstet sie.

Nun, vielleicht sähe er etwas zu schwarz, jedenfalls gäbe es Bäume und Wald, es duftete nach Heu, ein Bach rieselte, über den Bach wäre eine Planke gelegt, und auf der Planke hätte er mehr als einmal gelegen und mit einer Stecknadel als Angelhaken gefischt. Kindheitserinnerungen und Wehmut, Trauer und Poesie bei einem jungen Manne, der mit wunden Lungen von einem Lande nach dem andern gereist war. Er läßt verlauten, daß er heimreisen müsse, aber erst eine Zeitlang hier in den Bergen bleiben und versuchen wolle, gesund zu werden. Zuweilen ist er niedergeschlagen gewesen und hat an seiner Heilung gezweifelt, aber da hat Fräulein d'Espard ihn ermutigt und Hoffnung in ihm entzündet. Doch, sie soll nicht widersprechen, soll es nicht verkleinern, er ist ihr dankbar für alles, was sie getan hat, und weiß nicht, wie er die Zeit ohne sie totschlagen soll.

Darüber spricht er.

Sie hört ihn mit Freude an, der Ton zwischen ihnen wird intim und zärtlich, sie eröffnen sich einander, lächeln und nicken zu allem, was sie sagen. Als er wieder daran denkt, daß sie morgen scheiden sollen, erblaßt er und läßt die Mundwinkel hängen; da sagt sie: Wollen wir nicht zur sauren Milch?

Nein. Offen gestanden: jetzt ist alles einerlei.

Ach, was für ein Unsinn! Ich kenne Sie ja gar nicht wieder!

Ja, jetzt sei alles einerlei, wiederholt er.

Schweigen. Jeder hängt seinen Gedanken nach – vielleicht denken sie dasselbe. Plötzlich sagt Fräulein d'Espard hilfreich: Machen Sie sich meinetwegen Sorgen? Kümmern Sie sich nicht darum. Ich habe Geld genug, um von hier wegzukommen.

Er antwortet verblüfft: Herrgott, so stehe es! Aber was dann? Nein, Geld? Das könne sie von ihm bekommen. Aber wie solle es ihm allein ergehen?

Schweigen. Sie sitzt da und betrachtet seine dünnen Finger, der Ring scheint von ihnen abgleiten zu wollen. Diese Finger sind zu nichts zu gebrauchen, denkt sie vielleicht, sie können keinen Schlag schlagen, keinen Griff tun, nein, sie sind ganz hilflos und brauchen eher Streicheln und Liebkosungen. Sie sieht wieder die Seidenstrümpfe an seinen Füßen und erinnert sich von seinem Krankenlager des feinen Nachthemdes, das er am nächsten Tage gewechselt hat, wenn ein Kaffeefleck so groß wie ein Stecknadelkopf daraufgekommen ist. So waren die Grafen wohl. Er war zweimal ein bißchen zudringlich gewesen und hatte angefangen, ihr mehr Freundlichkeiten zu erweisen, als sie annehmen konnte, jawohl, und seine Augen hatten dabei einen saugenden Schimmer bekommen. Sehr richtig. Aber das war die Krankheit, sie konnte es jetzt eher entschuldigen, und überhaupt hatte sie sich seitdem immer mehr zu ihm hingezogen gefühlt.

Ich weiß nicht, was wir tun sollen, sagt sie. Ich könnte vielleicht hier bleiben –

Das war hübsch und vertraulich gesagt. Er fragt rein heraus: Könnten Sie Ihren Posten in der Stadt verlassen?

Ja, antwortet sie.

Dann tun Sie es! Ich werde alles andere ordnen.

Diese Entscheidung belebt sie beide, er schiebt alle Rücksicht beiseite und wird sehr freundlich, pflückt ihr die Strohhalme von der Brust, streicht ihr das Heu von den Knien, streichelt sie, legt die Arme um sie. Manche nennen es freien Willen –

Hinterher gehen sie zu Daniel. Merkwürdig, wie still ihre Freude geworden ist, sie sprechen gedämpft, scherzen nicht miteinander, sondern sehen zu Boden. Es wird besser, als sie nach der Sennhütte kommen, willkommen geheißen werden und saure Milch erhalten. Die alte Haushälterin lehnt die reiche Bezahlung ab, nimmt sie aber schließlich doch an und gibt ihnen zum Dank die Hand. Herrn Flemings Gesicht drückt Zufriedenheit aus.

Auf dem Heimwege kommen sie wieder an den kleinen Heuschober auf dem Felde, und Herr Fleming sagt: Wir wollen hineingehen und uns ausruhen! Das Fräulein blickt zu Boden und folgt ihm ...

Und von jetzt an gehen sie wieder täglich zur Sennhütte und erhalten saure Milch und Heilung für kranke Lungen. Alles ist wieder gut. Mit Herrn Fleming geht es so offensichtlich vorwärts, daß er anfängt, seine gute Laune und natürliche Gesichtsfarbe wiederzubekommen. Gleichzeitig äußert er mehr Interesse für seine ganze Umgebung, fragt begierig nach Neuigkeiten in den Zeitungen und stürzt sich selbst über die Telegramme. Der Doktor tritt jetzt wieder mit neugewonnener Autorität ihm gegenüber auf, grüßt von weitem und fegt die Erde mit seiner Hutfeder. Da der Doktor auch nichts dagegen hat, daß der Kranke mit Maßen Wein trinkt, so trinkt er also fleißig und manchmal ein wenig übers Maß. Das tut übrigens nichts, er lärmt nicht, sondern benimmt sich gut, nur sein Blick wird starr, als folge er einem Kreidestrich. Fräulein d'Espard leistet ihm Gesellschaft.

Aber jetzt ereignet sich das Merkwürdige, daß Herr Fleming plötzlich eines Tages um Fräulein d'Espards Ruf besorgt wird. Er bittet sie, Fräulein Ellingsen mitzunehmen, so daß sie drei werden und die säuerlichen alten Pfarrerstöchter nichts zu reden haben.

Das war vielleicht klug ausgedacht von Herrn Fleming, vielleicht war es gar nicht ausgedacht, sondern nur ein augenblicklicher Abwechslungsdrang. Dies Zusammenleben, diese Unzertrennlichkeit begann ihn wohl zu bedrücken, je mehr er sich erholte und je weniger er der Pflege des Fräuleins bedurfte. Zuletzt schien ihm das Fräulein auch lästig zu werden mit ihrem Französisch. Natürlich konnte er die Sprache und verstand alles, was sie sagte, etwas anderes wäre undenkbar gewesen; aber es kam vor, daß er gereizt wurde, wenn sie im besten Sprechen war, und besonders, wenn sie ihn etwas in der hohen Sprache fragte und auf Antwort wartete. Dann unterließ er es ganz, auf die Frage zu antworten, unter dem Vorwand, daß er kein Französisch verstände – worüber alle als über einen Scherz lächelten.

Fräulein d'Espard hatte sich immer mehr daran gewöhnt, sich zu fügen, und faßte auch den Vorwand mit dem Dritten danach auf. Sie stutzte zwar ein wenig, das tat sie, grübelte darüber nach, was es zu bedeuten hätte – warum gerade Fräulein Ellingsen? Sie war groß und hübsch, nun ja, hatte aber schiefliegende Augen, und war das so reizend? Und überhaupt ein Dritter, warum das? Fräulein d'Espard erhob keinen Einwand, sie holte die andere, machte sich aber ihre Gedanken darüber: sie war ja nicht flatterhaft, sie war dem einen treu, flirtete nicht, trank nicht, sondern saß fast die ganze Zeit bei einem Manne und sah zu, wie der trank – welches Ärgernis konnte er wohl daran nehmen? Aber das mußte ein Graf wohl wissen. Fräulein Ellingsen wollte jetzt auch nicht mehr lange im Sanatorium bleiben, vielleicht nur noch die Woche zu Ende. Also, Fräulein Ellingsen wurde in die Gesellschaft aufgenommen, bitte sehr! Ein Glas Wein? Konfekt? Das gern. Aber daß du eine Schönheit wärst, auch nur die Spur hübscher als ich selber – nein. Außerdem weinst du alle Augenblicke, wenn du dasitzt, machst dich interessant, erzählst Geschichten und lügst dich fest.

So wurden sie drei, und da Fräulein Ellingsens Kavalier Bertelsen sich ihnen anschloß, wurden sie vier. Es war eine Béziquepartie. Jetzt konnte die Gesellschaft, ohne Unwillen von irgendeiner Seite zu erregen, eine Ecke des Rauchsalons einnehmen.

Es ging gut. Sie ärgerten sich alle darüber, daß sie den Einfall nicht früher gehabt hatten, stießen miteinander an und fühlten sich wohl. Bertelsen, der Holzhändler, war zwar nicht gerade adlig, das nicht, aber er war ein reicher Mann, im Auslande, sowohl in Southampton wie in Le Havre, ausgebildet, und dazu gehörte ihm ja fast das ganze Torahus-Sanatorium, und er konnte sich, wenn er wollte, geltend machen. Und wie war das: hatte er nicht auch einen Stipendiaten, einen Musiker, der in Paris war! Bertelsen machte der Gesellschaft keine Schande. Er verlangte auch, daß er den Wein bezahlte, wenn er an der Reihe war.

Zuweilen beehrte Schuldirektor Oliver die Gesellschaft mit seiner Anwesenheit und trank ein Glas Wein, obwohl er der vollkommene Mann der Ordnung war. Dann wurden die Karten hingelegt, der Schuldirektor nahm sich einen Stuhl, setzte sich und erhielt das Wort. Oh, Schuldirektor Oliver war kein gewöhnlicher Philologe, er war Spezialist, er wußte seltene Dinge. Dieser durch und durch studierte Mann lachte nie, er besaß etwas, das manche Unnatur genannt haben würden, und er war blind geworden für die Welt, die das Gemüt erheitert und das Auge erfreut. Aber er hatte seine Verdienste, war sein ganzes Leben lang fleißig und anspruchslos gewesen, hatte sich nie Ausschweifungen ergeben, nie getrunken oder gespielt. Seine Kinder erzog er in derselben Genügsamkeit: am Morgen schnitt er mit seinem Taschenmesser vier gleich große Stücke von einer Zeitung zu einem gewissen Gebrauch. Die Kinder hatten ihn einmal gefragt, warum es gerade vier sein müßten, und der Vater antwortete: Ich brauche nicht mehr, vier sind genug, macht euch das auch zur Regel!

Nein, ausschweifend und verschwenderisch war er nicht, sondern immer zufrieden mit seinem billigen Tabak, mit der Hausmannskost, die seine Frau ihm vorsetzte, und mit blankgeschlissenen Kleidern auf dem Leibe. Er hatte genug an dem Respekt, in dem sein Name stand. Neidische Kollegen waren mit beträchtlicher Beredsamkeit über seine Doktordissertation hergefallen, und als der gewissenhafte Mann, der er war, hatte er damals seine ganzen Verhältnisse einer genauen Untersuchung unterzogen. Er wankte, blieb aber stehen, er konnte sich sagen: ich war im Zweifel, ob ich gelehrt bin, aber meine vielen Bücher deuten darauf hin, daß ich es bin. Seht auch meine Doktordissertation, die hat zwei ganze Seiten Quellenangaben! Sein Zweifel wurde überwunden.

Kam Schuldirektor Oliver in eine Gesellschaft, so war er anfangs vor Sicherheit und Besserwissen zugeknöpft. Er konnte sich fast mit jedem messen, und wenn er den Mund öffnete, mußten die andern schweigen. Er machte sich gleich verständlich, kannte die Erklärung der Worte durch das Lexikon auswendig und sprach nie verkehrt, gebrauchte nie ein Fremdwort unrichtig. Schon das war viel, unter zufällig zusammengewürfelten Sanatoriengästen war das viel, aber es war nicht alles. In zweifelhaften Fällen konnte man zu ihm gehen und eine autoritative Entscheidung erhalten, das war der Gipfel. Und er antwortete so gern, er war glücklich, wenn er in »Sprachen« unterweisen konnte, er glänzte vor Zufriedenheit. Dabei hatte er auch Gelegenheit, von sich zu sprechen, immer aber auf eine unschuldige, anziehende Art und Weise; anspruchsvoll war er nur in bezug auf Vernünftigkeit.

Nun hatte er seine Zweifel bezüglich des Selbstmörders gefaßt: der Mann dürfte doch wohl Englisch können. Der Schuldirektor hatte ihn ganz allein drinnen beim Inspektor mit einer alten Nummer der englischen Zeitung gefunden, und welchen Grund hatte er dazu?

Es war etwas Mystisches an dem Selbstmörder, das konnte jeder merken. Ja, sagte Fräulein d'Espard, der Mann ist zu vielem fähig! Und da alle hierin mit ihr einig waren, mußte Bertelsen sie ja überbieten und übertreiben: Er kann sicher mehr, als wir glauben, er ist nur ein bißchen seltsam. Ich zweifle nicht, daß er auch Französisch und andere Sprachen kann!

Der Schuldirektor erschrickt, es tut ihm leid, daß er dem Selbstmörder Unterricht angeboten hat, und er weiß nicht, wie er es wieder gutmachen soll. Der Schuldirektor ist ganz nervös, die andern müssen ihn beruhigen und ihn überzeugen, daß er nichts Böses getan hat. Sie wollen ihn davon abbringen, und es entsteht eine allgemeine Unterhaltung über Tagesneuigkeiten, Bücher, Bildung, ausländische Mädcheninstitute. Der Schuldirektor ist wieder in seinem Element, er spricht sich aus: Ob wir vorwärtsgehen? Gewiß gehen wir vorwärts! Kein Vergleich mit früher! Was hatten wir in meiner Kindheit für Sanatorien und Gasthäuser auf dem Lande? Jetzt steht fast auf jedem Berge eines. Ich habe das Gefühl, daß wir ein ganzes Jahrhundert weitergekommen sind, daß wir anfangen, uns der Schweiz zu nähern. Was hatten wir an Schulen, an Aufklärung? Was haben wir jetzt? Kein Wunder, daß wir für eines der fortgeschrittensten Völker der Erde gelten. Wir haben Ärzte, Geistliche, Juristen und Professoren, nach denen manch anderes Land seufzen muß, unsere Wissenschaft macht sich sofort alles, was bei den großen Nationen herauskommt, zunutze, wir kommen gut mit. Ja, wir gehen vorwärts. Hier sitzen zum Beispiel zwei junge Damen, die beide von der allgemeinen Steigerung im literarischen Unterricht profitiert haben. Mit das Erfreulichste an unserer Entwickelung ist wohl die Verbesserung der Verhältnisse der Frau. Sie kann sich jetzt in der Gesellschaft ebenbürtig mit dem Manne behaupten und sich ihren Lebensweg ebensogut wählen wie er. Es ist nicht richtig, daß ich ein Mann von unfreier Denkart, ein Pedant bin, der sich nur mit der Vergangenheit beschäftigt, wie ein paar Neider behauptet haben. Ja, Sie lachen, aber das haben sie wirklich getan. Besonders ein gewisser Reinert, der Sohn des Küsters unserer Stadt, der mir meinen Doktortitel nicht verzeihen konnte. Er und ich, wir waren Schulkameraden und Kommilitonen auf der Universität gewesen, aber ich war ihm ja immer etwas überlegen, und das kränkte ihn. Er war ein teurer Bursche, ruinierte seinen Vater, und zuletzt mußte der alte Küster eine Anleihe auf das künftige Weihnachtsgeld machen, damit dem flotten Sohne nichts abginge. Um es kurz zu machen: der Bursche arbeitete nicht, wie er sollte, er brauchte zwei Jahre länger als ich, um sein Examen zu machen, obgleich er doch mein Beispiel als Ansporn hatte. Jetzt sitzt er als Hilfslehrer in einer kleinen Stadt im Westen und wird es wohl nie weiterbringen. Aber er besaß doch Neid und Galle genug, um mich zu überfallen. Er schrieb, daß ich in meiner Doktordissertation zwei Seiten Quellenangaben einzig und allein deshalb angeführt hätte, um gelehrt zu erscheinen, daß aber die meisten dieser Quellen gar nichts mit dem Stoff zu tun hätten. Ich antwortete ruhig und sachlich und fügte hinzu, daß er von persönlichem Groll gegen mich verblendet sei. Da kam ihm ein Kollege zu Hilfe. Mit dem war auch nicht viel Staat zu machen, ein Radikaler und Bruder Lustig, und dieser neue Mann beschuldigte mich nun veralteter Stöberei in der Wissenschaft und unzeitgemäßen Denkens. Mich! Der ich nichts anderes tue, als all und jedem die höhere Entwickelung leichter zugänglich zu machen. Ich darf wohl sagen, daß ich in dieser Beziehung das reinste Gewissen habe. Ich fing sogar an, meinen Mitbürgern Vorträge zu halten. Es ging zwar nicht, aber das war nicht meine Schuld. Stellen Sie sich vor: ich rede über einen Gegenstand aus der Geschichte der Hellenen und erwähnte Thukydides. Da unterbricht mich ein verrückter Kerl unten auf einer Bank mit Lachen und fragt, ob ich den dicken Dides meine! Ach – da war ja nichts mehr für mich zu machen, das ganze Auditorium fing zu lachen an, ich stieg vom Katheder und gab es auf, weitere Vorträge zu halten. Es war ja doch hoffnungslos. Aber nicht wahr, das hätte vermieden werden können, wenn meine Zuhörer mehr in der Schule gelernt hätten. Mehr Schule, mehr Schule! Darum habe ich die ganze Zeit, ja mein ganzes Leben für Volksaufklärung geeifert. Ich würde es jedem Dienstmädchen gönnen, das Abiturium zu machen und ein gebildeter Mensch zu werden. Ich huldige den fortschrittlichsten Ansichten. Zum Beispiel auf dem Gebiet der Frau: laßt sie sich entwickeln, laßt sie ihren Anteil an den Rechten im Leben erhalten, das heißt, wie ein großer Engländer sagt, die Menschheit verdoppeln! Und so müßte es überall sein: Schulen und Kurse für groß und klein, für Mann und Frau, Schulen, Lehranstalten aller Art. Und so wird es werden. Die Frau kann jetzt alles werden, was sie will, es wimmelt von weiblichen Studenten, sie können Richterinnen, Ärztinnen und Lehrerinnen werden; wir haben Schulen für alles, Industrieschulen, Zeichenschulen, Handelsschulen, Sprachkurse, Seminarien, Schulen für geistig Anormale, in denen sogar Blödsinnige buchstabieren lernen, Anstalten, in denen Krüppel ohne Hände ein Handwerk mit den Zehen erlernen können, Schulen, Schulen –

Aber gerade, als der Schuldirektor so gut im Gange ist, wird er durch einen Zufall unterbrochen: vor dem Fenster sieht man die beiden Kameraden, den Selbstmörder und Anton Moß. Sie setzen sich jeder auf einen Korbstuhl und scheinen zu frieren. Der Schuldirektor wird zuerst auf sie aufmerksam, er lehnt sich zurück und sagt: Ja, da sind die beiden! Bertelsen schlägt vor, sie hereinzurufen und ihnen ein Glas Wein zu geben, und Fräulein d'Espard holt sie. Seht, Fräulein d'Espard setzt es durch! Die Gesellschaft sieht deutlich durch die Scheiben die Verwunderung der beiden Freunde über die Einladung, sieht, wie sie miteinander sprechen, als ob der eine den andern fragt, was er meine; unterdessen steht Fräulein d'Espard mit geneigtem Kopfe da und lächelt. Endlich kommen sie alle drei.

Man macht den Fremden Platz, und sie bekommen ihren Wein, man bietet ihnen Zigarren, Aschenbecher werden ihnen hingeschoben; aber die Gäste tun nichts, gar nichts. Bertelsen hat von dem Selbstmörder wohl ein bißchen Unterhaltung, eine nette kleine Plauderei, eine seiner Schrullen erwartet, aber nein. Sein Kamerad Anton Moß scheint sich in der feinen Gesellschaft höchst unbehaglich zu fühlen, er versucht, die Lappen um seine Finger zu verbergen, er sieht schlecht und wirft sein Glas um. Das tut nichts! sagt Fräulein d'Espard. Alle sind wohlwollend, nicht am wenigsten der Schuldirektor. Er will ein Gespräch einleiten und fragt: Die Herren kommen ja von draußen; Sie haben wohl nicht meine Knaben gesehen?

Doch, antwortet der Selbstmörder, sie sind angeln gegangen.

Natürlich! Oh, die Gebirgswässer sind so tückisch und gefährlich, hab' ich immer gehört. Ich habe den Jungen verboten, hinzugehen, aber ... Waren sie allein?

Nein, sie gingen mit einem Mann, der sagte, daß er der Schulze sei. Ein junger Mann.

Natürlich, sie schließen sich jedem Menschen an.

Bertelsen sagt im Spaß: Der Schulze – was will die hohe Obrigkeit hier?

Er fragte uns, wer hier wohnte, und mein Kamerad und ich haben alle aufgezählt.

Herr Fleming schnappt plötzlich nach Luft. Als alle ihn ansehen, beugt er sich vor und beschäftigt sich unter dem Tisch mit seinen Schuhen. Nein, diesmal ist es nichts! äußert er zu Fräulein d'Espard, die wohl eine neue Blutung befürchtet hatte. Und es war doch wohl etwas: Herr Fleming hatte Schmerzen bekommen, sein Lächeln war ein verlorenes Lächeln, und er versank von nun an in vollständiges Schweigen. Fräulein d'Espard sagt in munterm Ton, um ihn zu erheitern: Nun, Herr Direktor, wenn Ihre Jungen die Obrigkeit mithaben, dann können Sie sicher ganz ruhig sein!

Ich bin nicht ruhig! antwortet der Schuldirektor eigensinnig. Er erhebt sich, dankt und wiederholt, daß er es verboten, streng verboten hat!

Wie böse er auf seine Jungen war! äußerte Bertelsen, als der Schuldirektor gegangen war.

Das wundert mich nicht, entgegnete Fräulein d'Espard. Er ist sicher ein musterhafter Vater.

Ein großer Mann! erklärte Bertelsen und überbot sie. Was er alles gelernt hat und weiß!

Herr Fleming stand auf. Die beiden Kameraden nahmen das wohl für einen Wink, erhoben sich auch, dankten und gingen. Nein, im gesellschaftlichen Leben war kein Staat mit den beiden zu machen. Der Selbstmörder? Brachte er etwas Abwechslung, ein bißchen Tollheit, einen Wirbel von Feurigkeit mit? Oder saß er versunken da, wie ein ungewöhnlich ansprechender Singvogel? Der Kamerad war viel sympathischer, aber es war eine Schande, wie der Mann vor Wunden und Beulen aussah. Bertelsen sagte, er wage gar nicht, verlauten zu lassen, was für eine Krankheit Anton Moß habe. Die Augen wachsen ihm zu, der Mund wird schief. Guten Morgen, grüßte Herr Fleming und ging.

Fräulein d'Espard ging ihm nach. Sie fand Herrn Fleming auf sie wartend, sie war ihm wieder notwendig, ganz unentbehrlich geworden, er brauchte ihre Pflege. Gewiß war es etwas: Herr Fleming war offensichtlich unruhig, er, der sonst die gute Haltung hatte und Graf war, machte jetzt eine ganz andere Figur, bedurfte sehr einer Ermunterung.

Sie stiegen die Treppe hinauf und traten in Herrn Flemings Zimmer. Er sagte: Es ist nichts, nur wieder mal ein schlechter Tag.

Sie sind noch nicht wieder ganz zu Kräften gekommen, entschuldigte sie ihn.

Nein. Und Herr Fleming greift nervös nach der Brusttasche und sagt: Sehen Sie, für den Fall, daß mir etwas zustoßen sollte, irgend etwas, man kann nie wissen –

Sie sollen nur wieder gesund werden.

Es ist nicht, daß ich sterben muß. Doch, das auch. Können Sie sich denken, wie wenig Lust ich zum Sterben habe? Ich könnte mich als Sklave verdingen, um am Leben zu bleiben, ich könnte morden, um zu leben. Aber das ist es jetzt nicht. Das heißt: ja, das ist es doch. Ich spreche unzusammenhängend, aber das ist es doch. Wenn ich plötzlich eingesperrt werde, so sterbe ich.

Sie ist ein wenig verwirrt und antwortet: Aber Sie werden doch nicht eingesperrt. Was ist das für ein Unsinn!

Ich habe unten eine Warnung erhalten. Ja, die Sache ist, daß ich nicht nur Freunde habe, einige Feinde von daheim sind hinter mir her. Kann ich offen mit Ihnen reden?

Ja! antwortet sie himmelhoch und lacht.

Herr Fleming hätte nie einem Besseren sein Vertrauen schenken können, Fräulein d'Espard war kein kleines Mädchen, das sich in einem großen Walde verlaufen hatte und nicht wieder herausfinden konnte, nein, nein. Und da saß sie.

Ich bin kein unschuldiger Mensch, sagt er und lächelt kläglich.

Fräulein d'Espard antwortet hilfreich: Das bin ich auch nicht. Das ist keiner.

Es ist alles ganz klar:

Es war kein Fehltritt, durchaus nicht, es war eine ganz überlegte Handlung, und er würde dasselbe noch einmal tun. Es begann damit, daß der Tod es auf ihn abgesehen hatte. Das war so unerwartet und seltsam böse, es war geradezu unrichtig, er spuckte Blut und verfiel! Er hatte keine Aussicht zu leben, wenn er nicht einen raschen Griff tat. Ob sie das verstand?

Sie verstand es.

Er tat den Griff und zwar so schlau, daß nur eine sehr mißtrauische Revision an einer Stelle einen unschuldigen Schreibfehler finden konnte, eine Null, ein Nichts, gar nichts. Dann reiste er ab und kam hierher ins Sanatorium. War dies der rechte Ort, sollte er hier finden, was er suchte? Es war auf und ab mit ihm gegangen, wieder auf und ab, Gott weiß, vielleicht war er am falschen Ort. Und die ganze Zeit hing ja etwas über ihm, ein Druck, eine Pein. Es hatte etwas zu bedeuten, wenn er nach Neuigkeiten in den Zeitungen fragte und in den Telegrammen herumschnüffelte. Er durfte nicht zu stark schnüffeln, damit keiner es auffallend fand, keiner sein Geheimnis merkte. Er lebte auf schwankendem Boden.

Nein, Fräulein d'Espard war nicht niedergeschlagen, die tapfere kleine Seele, sie sah die Sache nicht schwarz an, im Gegenteil, sie betrachtete sie in gewissem Grade mit Sachverständnis und lachte entschuldigend. Und schon die Heiterkeit, mit der sie es aufnahm, belebte den Ärmsten, er fühlte sich nicht mehr verkauft und verraten, denn sie schirmte ihn ja.

Und er erklärte es näher: Sei seine Brust erst geheilt und er wieder zu Kräften gekommen, so wolle er sich selbst melden und seine Strafe auf sich nehmen, bei Gott, unendlich gern, mit Freude im Herzen. Laßt mir nur Zeit! brach er aus, setzt mich instand, zu leiden, schlagt mich nicht tot, ehe ich diese Kur versucht habe!

Dies und jenes war dem Fräulein ja noch nicht ganz klar, und er bekannte frischweg: Nein, gewiß, er war kein Edelmann aus Finnland, er war vom Lande, von der Scholle, von einem kleinen Hof mit Pferd und vier Kühen. Wieviel bedeutete es doch für ihn, daß er in frischer Luft war! Aber er war sechs Jahre in einer Bank gewesen, hatte nicht einen einzigen frohen Tag dort gehabt. Er war ein Bauernbursch und wußte genau, daß ein Ochse ein Tier mit Hornklauen war, seine Wurzeln hatten ihn wieder heraus aufs Land gezogen. Nicht umsonst hatte er Daniels Sennhütte aufgesucht, die kleinen Stuben, die Milchsatten, das Fellager, das war es ja, was ihn wieder gesund machen sollte, nicht wahr?

Ja.

Was ihn wieder gesund machen sollte, zum Kuckuck! Aber das konnten die Idioten nicht begreifen, die würden ihn nur bei der ersten Gelegenheit festnehmen. Nein, er hatte wirklich keine Großmannssucht, er war nicht nach einem großen Hotel in Paris gereist, hatte sich dort niedergelassen und seine Beute vergeudet, er hatte frische Luft, Gebirge und Himmel aufgesucht. Warum er denn als Graf aufgetreten sei? Das sollte nicht schwer zu verstehen sein: natürlich, weil es einen Schutz bedeutete. Man würde nicht so leicht einen Fleming wie einen Axelson beschuldigen. Er sagte: Daheim gehen wir am Morgen und am Nachmittag in den Kuhstall, zweimal am Tage, mein Vater ist tot, meine Mutter heißt Lisa. Ihre innigste Freude ist es, wenn sie hört, wie gut es ihrem Sohn hier in den Bergen geht, sie ist den andern Frauen gegenüber hoffärtig meinetwegen und war immer stolz, daß ich in eine Bank gekommen war. Wenn sie nur früh genug stürbe, daß ihr die Katastrophe erspart bliebe.

Nun wurde es Fräulein d'Espard wahrhaftig auch reichlich bunt, aber sie sagte dennoch: Na, na, nehmen Sie es nicht so!

Doch, er wäre sich ganz klar darüber, daß er eines Tages festgenommen würde, es sei nur eine Frage der Zeit, in der Gesellschaft wäre ein Wort wie ein Funken in ihn gefallen.

Herr Fleming holt jetzt im Ernst seine Brieftasche heraus und legt ein briefartiges dickes Paket hin. Ich will vorbereitet sein, sagt er. Das ist das Geld, was soll ich damit tun? Es verbrennen?

Das ist doch nicht Ihr Ernst!

Das ist es auch nicht. Aber es ist keine Zeit, es beiseite zu schaffen, in diesem Augenblick geht dort draußen vielleicht ein Mann, der mich im Verdacht hat, Sie verstehen, wen ich meine.

Ich will es aufbewahren, sagt das Fräulein.

Ja, wollen Sie das? Wagen Sie es?

Sie wirft nur freimütig den Kopf zurück und lächelt.

Ja, die Sache ist nur, daß Sie auch nicht ganz sicher sein können, das erkannte ich vor ein paar Tagen. Wir sind soviel zusammen gewesen, daß auch auf Sie ein Verdacht fallen kann. Das war es im Grunde, warum ich Sie veranlaßte, Fräulein Ellingsen und durch sie Herrn Bertelsen mit in unsern Kreis zu ziehen.

Fräulein d'Espard ergriff den dicken Brief auf dem Tische und verbarg ihn tief an ihrer bloßen Brust. Vorläufig! sagte sie.

Gut! Ja natürlich könne er das Geld verbrennen, fuhr er fort. Aber es könne ja sein, daß er nicht stürbe, daß er im Gegenteil die Strafe überlebte, sein Leiden sei eine launische Krankheit, sie hätte schon die merkwürdigsten Wendungen genommen. Wenn er das Einsperren überstände –

Fräulein d'Espard nickte, es sei nicht nötig, mehr zu sagen, sie würde selbst froh sein, wenn sie nach einer Gefängnisstrafe ein Stück Geld vorfände.

Etwas anderes möchte ich gern erwähnen, sagte er. Damit Sie hier im Sanatorium durch Ihre Bekanntschaft mit mir nicht allzuviel zusetzen, leugne ich natürlich alles. Verstehen Sie? Ich leugne jedes Tüttelchen. Ich werde verurteilt, aber ich leugne von A bis Z. Kann ich anders? In Wirklichkeit habe ich auch gar kein Verbrechen begangen, ich wollte mir nur eine Lebensmöglichkeit schaffen.

Jawohl.

Sie waren sich so einig in der Sache, so völlig eins; das Geld wurde nicht gezählt, keine Summe genannt. Als das Fräulein das Zimmer verließ, hatte sie Herrn Fleming die Hälfte der Last von seinem Herzen genommen. Das war ganz natürlich zugegangen.

Gleich darauf klopfte sie wieder an Herrn Flemings Tür, trat ein und sagte: Es ist nicht der Schulze, nur der Gendarm ist hier.

Herr Fleming wurde zwar etwas ängstlich, daß sie unten bei der Dienerschaft gewesen sei und unvorsichtige Fragen gestellt habe, aber sie beruhigte ihn mit einem schlauen Lächeln. Ich fragte nach den Jungen vom Schuldirektor, sagte sie.

Ach so, der Gendarm – nun und?

Der mit Daniels Liebster davonlief.

Herr Fleming dachte nach: Der Amtmann oder der Gendarm – gleichviel, es ist nur eine Frage der Zeit. Heute haben wir Mittwoch, ich muß fort.

 

Herr Fleming hätte für heute ruhig sein können: der Gendarm war vom Angeln zurückgekehrt, hatte schon das Sanatorium verlassen und war nach Hause gegangen; Fräulein d'Espard hatte ihn selbst gehen sehen. Was er nun auch im Sinne haben mochte, so hatte der Zufall es jedenfalls zuschanden gemacht. Unter den Gästen war großes Gerede über den Gendarm: er war im Wasser gewesen, kam von Kopf bis zu Fuß triefend an, sogar seine Mütze mit dem Goldband und dem goldenen Löwen war wie ein Waschlappen. Was ist Ihnen zugestoßen? fragten ihn einige, darunter Fräulein d'Espard. – Nicht der Rede wert, antwortete er, ein Unfall, ein Fehltritt auf einem schlüpfrigen Felsblock, ich rutschte aus, fiel hinein! Er konnte nicht verheimlichen, daß die Knaben ihn gerettet hatten.

Diese merkwürdigen Jungen! Erst hatten sie einen Stock hineingeworfen, damit er sich daran hielte, als aber der Gendarm immer noch im Bodenschlamm lag und nicht wieder hochkam, waren sie hineingesprungen und hatten ihn wieder ans Tageslicht geholt. Oh, die verteufelten Schuldirektorsjungen, unglaubliche Bengel, Abenteurer, aber die reinen Männer! Jetzt waren sie zu Bett gegangen, während ihre Kleider trockneten.

Herr Fleming und Fräulein d'Espard konnten Luft schöpfen, und das taten sie auch, tranken Wein, wurden heiter, streckten die Beine von sich und zappelten. Es war Galgenhumor.

Sie machte sich über seine Furcht vor dem Gendarmen lustig, einem Fischer, der kopfüber ins Wasser gefallen war, Gott steh uns bei!

Herr Fleming wurde für eine Weile von ihrer Sorglosigkeit angesteckt und stimmte übermütig ein: für diesmal mußte er die Nase heimwärts kehren!

Mußte sich nach Hause schleichen wie ein nasser Hund. Ich sah ihn!

Im Grunde, sagte er, lag in seinem Auftreten etwas Wohlerzogenes, Korrektes. Die nassen Handeisen hätten mir ja, wenn sie gebraucht worden wären, die Manschetten verdorben.

Hahaha! lachte das Fräulein und machte soviel wie möglich aus der Heiterkeit des todkranken Mannes. Und als sie sich erschöpft hatte, griff sie zu dem gewöhnlichen Scherz, wenn sie jemand amüsieren wollte, falsches Französisch zu sprechen: Kaffee mit avec, Lit de parade-Bett.

Sie dürfen nicht Französisch mit mir sprechen! sagte er lächelnd und machte noch mehr reinen Tisch. Aus gewissen Gründen! sagte er.

Später am Tage, in der Dämmerung, bat er sie, ihm etwas von dem Geld wiederzugeben, er brauche es. Bei dieser Gelegenheit mußte er ihr die Bluse auf dem Rücken aufhaken. Im selben Augenblick gab es eine heiße Umarmung, einen Rausch von Zärtlichkeit, mit Küssen, Tränen und halber Hysterie. Die Spannung hatte sie beide weich gemacht. Spürte sie auch vielleicht eine kleine Enttäuschung darüber, daß er weder Gutsbesitzer noch Graf war, so war sie doch klug genug, es zu verbergen. Er war ihr auch nähergekommen durch seine Enthüllungen und war immer noch ein Mann von feinem, nettem Benehmen, das war ihm angeboren, und jedenfalls hatte er einen kostbaren Ring und einen Briefumschlag mit Geld.

Bezüglich des Geldes schärfte er ihr nochmals ein, daß sie vorsichtig sein und es im Notfall verbrennen müßte.

Nie in aller Welt! antwortete sie.

Sie nahmen Abschied voneinander, feierlicher als gewöhnlich, er wollte es so. Sie liebten sich, küßten sich und gaben sich Versprechen fürs Leben. Gute Nacht! Apropos, diesen Ring hätte sie haben können, aber er würde sie kompromittieren. Neue Küsse, wieder: Gute Nacht! Und sie schieden, ohne daß er das Geldpaket geöffnet und etwas herausgenommen hätte. Es war vielleicht nur ein Vorwand gewesen.

Am Morgen ging sie an seine Tür und lauschte. Seine Stiefel standen draußen, sie klopfte hübsch an und wartete wie gewöhnlich, bis er geöffnet und sich wieder hingelegt hatte. Nein. Sie klopfte wieder. Nein. Da faßte sie die Tür, sie war unverschlossen, und Fräulein d'Espard trat ein. Niemand da. Sonst alles in Ordnung, das Bett unberührt. An der Wand hingen Kleidungsstücke, auf dem Fußboden standen zwei Koffer, die Schlüssel in den Schlössern, eine Handtasche war fort.

Fräulein d'Espard ließ ihren Blick umherschweifen und verstand den Zusammenhang, sie hatte ihn vielleicht sogar erwartet. Das erste, was sie tat, war, daß sie die Tür absperrte, sich selbst einschloß, das hatte sie so oft getan, wenn Herr Fleming unpäßlich war und im Bett lag. Als das Mädchen im Laufe des Vormittags anklopfte, erklärte das Fräulein durch die Türspalte, daß Herr Fleming sich wieder erkältet habe und daß das Essen ihnen wie gewöhnlich gebracht werden sollte. Und als das Essen kam, nahm sie das Teebrett an der Tür in Empfang. Nun brauchte sie nur ein bißchen von je zwei Tellern zu essen.

Drei Tage trieb sie es so, sperrte nachts ab, um in ihrem eigenen Zimmer zu schlafen, und nahm am Tage wieder ihren Platz in Herrn Flemings Zimmer ein. Und seine Stiefel blieben vor der Tür stehen.

So sitzt sie in tausend Gedanken da, was wird das Ende sein? Sie ist nicht verzagt und genießt im Grunde das Übermaß ihres Zwanges und ihrer Furcht; merkwürdigerweise fühlt sie auch die heimliche Sicherheit des Wohlhabenden bei dem Gedanken an ein gewisses Geldscheinpaket, das sie in Verwahrung hat. Sie hat es vorläufig, bis sie hinaus kommen konnte, in einer gepolsterten Stuhllehne versteckt.

Wenn jetzt nur Herr Fleming mit dem Zuge fortkam! Wenn er nur erst mal mit dem Zuge wegkam und nicht unter seinen eigenen Händen blieb! Er war noch nicht sehr kräftig, geriet leicht in Schweiß, das einzige war, daß sein Wille zum Leben, die aufflammende Energie vor der Gefahr ihn aufrecht erhielt. Gott weiß.

Eines Tages sah sie durch das Fenster wieder den Gendarm auf dem Grund und Boden des Sanatoriums. Sein Zeug war jetzt trocken und seine Mütze wieder aufgebügelt. Kam er diesmal im Ernst, von Amts wegen? Er mußte einen gegenteiligen Bescheid erhalten haben, jedenfalls verließ er, als er Mittag gegessen hatte, das Sanatorium wieder. Ja, mochte Fräulein d'Espard denken, einen erkälteten, bettlägerigen Mann läßt man in Frieden!

Am dritten Tage geschah zweierlei: erstens, daß der Briefträger mit einer großen runden Schachtel für das Fräulein kam; es war ein Hut. Oh, es war der ihr von Herrn Fleming versprochene Hut, er hatte ihn nicht vergessen! Sie atmete tief und wurde ruhig, jetzt hatte sie den Beweis, daß er gut nach Kristiania gekommen war; daß er an eine solche Bagatelle wie einen Damenhut gedacht hatte, deutete auch darauf hin, daß seine Lage im Augenblick nicht ernst war. Und so erleichtert und sorglos fühlte sich das Fräulein, daß sie sogar auf der Stelle in diesem Zimmer, wo sie die Wacht hielt, die Schachtel öffnete und gespannt den neuen Hut vor dem Spiegel aufprobierte. Ein herrliches Geschenk, ein Kleinod, nur allzu kostbar.

Die andere wichtige Sache, die geschah, war, daß Rechtsanwalt Robertson sich auf Torahus einfand, was zur Folge hatte, daß Fräulein d'Espard von ihrer Wache abgelöst wurde. Etwas war wohl gleich von der Dienerschaft zum Rechtsanwalt durchgesickert von den wiederholten Besuchen des Gendarmen und wem sie gegolten hatten, und so stieg der Rechtsanwalt die Treppe hinauf und klopfte an Herrn Flemings Zimmer an. Schon vor der verschlossenen Tür rief er freundlich hinein, wer darum bäte, den Patienten begrüßen zu dürfen.

Fräulein d'Espard öffnete die Tür. Sie hatte ihren Entschluß gefaßt, war dreist, war frech und sehr gewandt.

Der Rechtsanwalt sah sich um, vielleicht war seine Verwunderung etwas geheuchelt. Er fragte mit gerunzelter Stirn: Aber – wo ist denn der Patient?

Das weiß ich nicht, antwortete das Fräulein und sah ihm ins Gesicht.

So. Ja, aber wer weiß es dann?

Er selbst vielleicht, antwortete sie. Bitte, wollen Sie sich nicht setzen?

Was soll das heißen, ist der Graf durchgebrannt?

Das Fräulein konnte es nicht sagen. Alles, was sie wußte, war, daß Herr Fleming, als sie heute morgen das Zimmer betreten hatte, nicht dagewesen war.

Der Rechtsanwalt fragt: Wissen Sie, was er Schlimmes getan hat?

Das weiß ich nicht! Hat er etwas Schlimmes getan?

Nicht, daß ich wüßte. Er hat seine Rechnung bezahlt und ist nicht im Sanatorium. Wo ist er? Hat er sich mit Ihnen gezankt und ist nach Daniels Sennhütte hinübergegangen?

Wir haben uns nie gezankt, antwortet sie kurz.

Und er ist sicher nicht bei Daniel.

Nehmen Sie mir meinen Scherz nicht übel, sagt Rechtsanwalt Robertson plötzlich, ich meinte nur eine kleine Unstimmigkeit.

Es gab auch keine Unstimmigkeit zwischen uns. So gut waren wir nicht bekannt, wir sprachen nur gelegentlich miteinander.

Ich bin sehr unglücklich über das Geschehene, erklärt der Rechtsanwalt. Falls er nicht etwa nur einen Ausflug macht und wiederkommt. Ein Ort wie dieser leidet durch alle Unregelmäßigkeiten, die in die Zeitung und in den Volksmund kommen, unser Ruf wird nicht besser dadurch.

Nein.

Nicht wahr, gnädiges Fräulein, Sie verstehen das?

Gewiß, Ich dachte genau ebenso, deshalb saß ich hier hinter verschlossener Tür, bis Sie kamen.

Der Rechtsanwalt wirft einen Blick auf sie. Nun, direkt unter einer Decke konnte er auch nicht mit der Dame stecken, und so sagte er denn: Es ist nicht unwahrscheinlich, daß der Amtmann herkommt und Sie verhört. Das brauchen Sie indessen nicht tragisch zu nehmen. Übrigens kehrt Herr Fleming vielleicht zurück, es ist ein gutes Zeichen, daß sein Gepäck dageblieben ist.

Ja.

Wir wollen unterdessen die Koffer abschließen und warten. Wenn etwas mit ihm nicht in Ordnung ist – ich sage nicht, daß es so ist, ich glaube es nicht einmal. Du lieber Gott, wenn ich glaubte, daß Graf Fleming auf gespanntem Fuße mit der Polizei stünde, so wäre ich der erste, der ihn anzeigte. Aber er ist in meinen Augen ein Edelmann von echtem Schrot und Korn. Andererseits kann man ja gut hinter ihm her sein, weil ein ganz unbegründeter Verdacht auf ihm ruht, und auch in diesem Fall ist das Sanatorium der leidtragende Teil. Ich möchte nicht gern, daß er hier in unserer Nähe gefaßt würde. Wir wollen abwarten.

Der Rechtsanwalt hatte Grund zur Vorsicht. Das Torahus-Sanatorium, diese funkelnagelneue Gründung, hatte schon mehrmals Pech gehabt, erst mit ein paar kompromittierenden Todesfällen, dann mit einer gewissen englischen Prinzessin und Ministersgattin, die niemand mehr kennen zu wollen schien. Das Sanatorium sehnte sich nicht nach einer neuen Erschütterung, diesmal durch einen finnischen Grafen. Der Rechtsanwalt ging nicht ins Gericht mit Fräulein d'Espard wegen des Anteils, den sie möglicherweise an Herrn Flemings Flucht hatte, eine derartige Abrechnung lag seiner Natur fern. Er war hier der Wirt, eine Art Vormund für alle, für ihn galt es nur, Wege aus der Wirrnis zu finden.

Er grübelte eine Weile darüber nach und sagte: Sie haben ihn heute morgen nicht hier gefunden, er kann also einen Vorsprung von acht Stunden haben. Das ist wenig genug, und ich möchte ihn nicht gern hierher zurückgebracht sehen – das heißt, wenn er nicht von selber kommt. Aber acht Stunden also; der Frühzug ging um 6 Uhr 15. Ich warte – alles unter der Voraussetzung, daß Herr Fleming nicht im Laufe des Tages hier auftaucht – ich warte bis morgen.

Ja, sagte das Fräulein auch.

Jawohl, ich warte bis morgen. Aber wissen Sie, gnädiges Fräulein, was ich dann tue? fragte er mit entschlossener Miene. Dann gehe ich selbst mit dem, was ich weiß, zum Schulzen. Das erspart uns, ihn hier zu sehen, und ist wirklich viel angenehmer für uns. Wenn man alles bedenkt, dürfte es nicht im Interesse des Schulzen oder des Kirchspiels liegen, uns zu schädigen; wir sind große Steuerzahler, wir verschaffen den Bauern Arbeit, wir kaufen ihre Erzeugnisse und ihr Vieh, wir werfen Glanz über die ganze Gegend.


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