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Brüderchen und Schwesterchen

In alten Zeiten machten sich die Kinder kleine Häuser und spielten darin. Eines Tages kamen die Knaben und Mädchen eines Dorfes wieder zusammen, spielten, lärmten, tobten umher. Zum Schluß haschte jeder Knabe ein Mädchen; die beiden schliefen zusammen.

Unter den Kindern befand sich auch ein Geschwisterpaar, Bruder und Schwester; beide waren sehr schön. Gern hätte der Knabe einmal mit seiner hübschen Schwester geschlafen; doch das durfte er nicht – sie gehörten derselben Sippe an, und die Ahnengeister würden das Vergehen streng gestraft haben.

Einmal wollte es der Zufall, daß beim Spielen jeder Knabe sein Mädchen und jedes Mädchen seinen Knaben gefunden hatte. Nur die Geschwister waren übrig geblieben. Da nahm der Bruder kurz entschlossen seine Schwester bei der Hand, ging mit ihr in den Busch, und sie schliefen zusammen. Doch das Mädchen war damit nicht zufrieden, der Bruder war ihm viel zu artig. »Warte einen Augenblick,« sagte sie, »ich hole uns etwas zu essen. Dann gehen wir ins Kanu und spielen Reisen. Schlafenspielen ist mir zu langweilig.« Das Mädchen holte allerlei herbei, Bananen, Brotfrüchte, Kokosnüsse und Taros, einen ganzen Korb voll. Darauf zogen sie ein Kanu ins Wasser und fuhren ein wenig auf das Riff hinaus, wo sie Anker warfen.

Das Mädchen sprach: »Hier sind wir allein, niemand sieht uns, jetzt wollen wir, wie die Großen, einmal Mei machen.«

Der Bruder sprach: »Nein, das dürfen wir nicht, die Ahnengeister sehen und strafen uns schwer, wenn wir es doch tun.«

Das Mädchen sprach: »Ich will aber Mei machen!«

Der Bruder sprach: »Gut!«

Viermal machten sie Mei; da sagte das Mädchen: »O, wie ist das schön! Wir wollen damit nicht aufhören, wir wollen Mei machen bis wir sterben.« Darauf setzten sie das Spiel fort, bis sie nicht mehr konnten und vor Ermüdung einschliefen.

Die Strafe folgte.

Als sie schliefen, erhob sich ein gewaltiger Sturm, der das Kanu vom Anker losriß und es weit, weit fort in die Nähe einer Insel trieb, wo die beiden endlich erwachten. Der Knabe wollte ans Land rudern; doch das Mädchen hatte dazu keine Lust. Es sagte: »Laß das Rudern! Laß uns lieber Mei machen«. Das taten sie, bis sie wieder nicht mehr konnten, und der Knabe rief: »Ich mag nicht mehr, mein Dal tut mir sehr weh!«

Vor Ermüdung schliefen sie wieder ein und trieben auf dem Meere weiter nach der fernen Insel Kuschaie.

Als sie erwachten, war das Kanu auf den Strand gelaufen. Die Leute des Landes, voran der Häuptling, standen und saßen voll Erwartung herum, daß sie die Augen aufschlugen. Sie waren sehr freundlich mit ihnen. Der Häuptling nahm sie als seine Kinder ins Haus. – Ein Weilchen lebten sie in Frieden, dann gab es Zank und Streit. Die jungen Männer wollten alle mit dem schönen Mädchen spielen und schickten einen Boten, um es zu holen; doch der Bruder war eifersüchtig und ließ es nicht von seiner Seite; er wollte nicht, daß ein anderer mit ihm Mei machte. Auch die jungen Mädchen waren unzufrieden; einmal hätten sie gern mit dem hübschen Knaben gespielt, der jedoch von ihnen nichts wissen wollte, dann mißfiel es ihnen, daß ihre Gefährten sich von ihnen abwandten und nur Augen für das fremde Mädchen zu haben schienen.

Und weil sie gar so eifersüchtig waren, taten sie sich eines Tages zusammen, schlugen die Fremde tot und schnitten sie in ganz kleine Stücke. Der Bruder war darüber sehr traurig; er weinte bitterliche Tränen; in seinem Kummer suchte er alle Stücke zusammen und fügte sie aneinander. So wollte er seine Schwester begraben. Nur die Tavol behielt er für sich und steckte sie an der Hüfte in den Gürtel.

Darüber war es Nacht geworden; als von ungefähr ein Gespenst erschien, eine Bulunguol. Sie bat: »Laß mich deine Schwester fressen.« Er sträubte sich dagegen, bis sie sagte: »Laß mich deine Schwester fressen, dann wird sie wieder lebendig.« Da gab er sie her; und die Bulunguol fraß alle Stücke auf. Als sie fertig war, sprach sie: »Ein kleines Stückchen, das schönste, das am besten und süßesten schmeckt, fehlt noch. Du mußt danach suchen, sonst ist alle Mühe vergeblich gewesen.« Wie sie sich aber umsah, bemerkte sie die Tavol in seinem Gürtel. »Paß auf,« sagte sie, »fürchte dich nicht vor mir,« – dabei nahm sie ihm die Tavol weg –, »wenn ich sie herunterschlucke, mußt du mich umarmen, dann wird deine Schwester wieder lebendig.«

So geschah es. Die Bulunguol fraß die Tavol, der Knabe umarmte das Gespenst, und es flog mit ihm in die Lüfte, hoch, hoch empor, bis sie in den Himmel kamen. Dort gingen sie in das Haus des Gespenstes.

»Wo ist meine Schwester?« fragte der Knabe.

»Warte, wenn wir morgen ganz früh aufstehen, dann ist deine Schwester da.«

Und als am andern Morgen die Sonne an der Tür vorüberrollte, kam die Schwester. Der Bruder rief sie an, doch sie hörte nicht. Es war nur die Seele der Schwester gewesen.

»Gib mir meine Schwester wieder!« rief der Knabe und fing an zu weinen.

»Die Seelen werden jetzt im Himmelsbrunnen, in Ngidengid, baden; wenn sie wieder zurückkommen, wird deine Schwester die letzte sein. Dann werde ich sie rufen.«

Richtig, nach einer Weile kamen die Seelen zurück. Als die Bulunguol das Mädchen erblickte, sprach sie einen Zauber, wodurch es seine körperliche Gestalt wiedergewann. Es sah den Bruder, ging auf ihn zu, und sie blieben fortan beieinander. Sie wohnten im Hause des Gespenstes, und die Bulunguol sagte: »Von nun an dürft ihr nicht wieder Mei machen, sonst verliert ihr euch auf immer.«

Die beiden schickten sich darein.

Eines Tages bat der Knabe die Bulunguol, sie doch wieder nach Yap zu ihren Eltern gehen zu lassen, denn im Himmel gefiel es ihnen nicht mehr. Das Gespenst sagte ja, machte einen neuen Zauber und schickte sie auf einen hohen Berg, der im Himmel emporragte. Als sie oben angekommen waren, meinte der Knabe: »Ich möchte doch noch einmal Mei machen.« Sprach's, nahm seiner Schwester den Schurz ab, und wie er den Gürtel lockerte, um den Dal hervorzuholen, löste sich die Schwester in einem Nebel auf und war verschwunden.

Da lief er nach dem Hause der Bulunguol zurück und erzählte ihr, wie er ihr Verbot habe übertreten wollen. Das Gespenst wußte aber schon alles, und weil der Knabe sein Vergehen ehrlich eingestand, sprach sie: »Einmal will ich euch noch helfen.« Sie rief die Schwester herbei, und beide gingen wieder auf den Berg. Dort befand sich eine Quelle; in die stiegen sie hinein und glitten schnell nach Yap hinab.

Sie gingen zu den Eltern, die sich freuten, ihre lange vermißten Kinder wieder bei sich zu haben.

Die Bulunguol hatte aber gesagt: »Niemals darf deine Schwester wieder zum Wasserholen gehen. Tut sie es, dann muß sie sterben.«

Eines Tages befahl ihr nun die Mutter, die von dem Verbot nichts ahnte, Wasser zu holen. Das Mädchen nahm die Schalen und ging zum Brunnen; als es sich über den Rand des Loches beugte, erblickte es sein Spiegelbild, seine andere Seele, und fiel tot um.

Lange wartete man im Hause vergeblich auf seine Heimkehr. Und als sie es suchten und zum Brunnen kamen, fanden sie das Mädchen dort tot am Boden liegen. Sie trugen es nach Hause und begruben es noch am selben Tage.

Schon längst hatten die spärlichen Dorfhähne ihren zweiten Schrei verhallen lassen; heute schien man hier im Hause ausnehmend wach zu sein. Niemand war beiseite geschlichen, hatte sich aus der Runde des Häuptlings gedrückt. Das reiche – auch wohl schwere – Essen vom gestrigen Abend hielt die Leute wach. Trotzdem wunderte ich mich doch, als ein Mann, der die ganze Zeit hindurch still am Feuer gesessen und redlich für dessen Ernährung gesorgt hatte, nun zu mir herrückte und mich im Flüstertone fragte, ob er mir auch eine Geschichte erzählen dürfte; sie wäre allerdings nicht aus Faraulip, sondern er hätte sie, als er im vorigen Jahre auf dem japanischen Schuner in Ponape gewesen wäre, von einer Frau erfahren.

Und Sau Butog erzählte.


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