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XXIII. Israels Rückkehr aus dem Gefängnis.

So war denn Israel aus dem Kerker von Schawan befreit worden, ohne zu ahnen, um welchen Preis es geschehen. So plötzlich war der über seinem Leben hängende dunkle Schleier hinweggezogen, daß er wie kindisch vor Freude war. Wer ihn im Gefängnis gesehen hätte, dem würde die Veränderung rätselhaft erschienen sein, die mit ihm vorging, als er hinaustrat. Er lachte mit dem Kurier, der ihn bis zum Stadtthor begleitete, und scherzte mit dem Thorhüter, wie mit einem alten Bekannten. Seine Stimme klang fröhlich, sein Auge leuchtete im Schein der Laterne und sein Schritt war leicht. »Ob er sich nicht fürchte, bei Nacht zu reisen?« »Nein, nein, ich werde nichts Schlimmeres antreffen, als ich es bin. Andere mögen sich vor mir fürchten! Ha, ha! Sehr möglich, sehr möglich!« – »Dir ist ganz wohl, Bruder?« – »Ganz wohl, gelobt sei Gott!« – »Nun denn, Friede sei mit dir!« – »Mit dir sei Friede!« – »Gesegnet sei dein Morgen!« – »Gute Nacht!« – »Gute Nacht!« Und noch einmal mit der Hand winkend, verschwand er in der Dunkelheit.

Es war eine wundervolle Nacht. Der Mond im ersten Viertel stand zwar tief im Osten, aber so hell und herrlich erglänzten droben die zahllosen Sterne, daß das Blau des Himmelsdomes fast in dem Silbergefunkel verschwand. Munter plätscherten die Bäche thalwärts, in der Ferne klang der Schrei der Eulen, unsichtbares Wild lagerte hörbar wiederkäuend in nächster Nähe, und Schafe fuhren wie weiße Punkte im Düster über das Gras, wenn Israel sich näherte. Raschen Schrittes schlug er den Weg zwischen den beiden Armen des Dschebel Seschawan ein, dessen Gipfel sich klar von dem Horizont abhoben. Die Luft war kühl und feucht, und ein linder Lufthauch wehte von der See herüber. O welch ein Genuß für ihn, der monatelang im Gefängnis gelegen hatte! Israel sog die Nachtluft ein, wie ein junges Füllen den Wind.

Ob es in der Welt draußen auch Nacht war, in Israels Herzen war es heller Tag. »Ich werde glücklich sein,« sagte er bei sich selbst. »Ja, sehr glücklich, sehr glücklich!« Dabei hob er seine Augen empor und sah einen Stern, größer und heller als die übrigen, der gerade vor ihm oben über seinem Pfade stand. »Der will mich zu Naomi führen,« dachte er. Er wußte, daß es Thorheit war, aber er konnte nun einmal sein Herz nicht hindern, thöricht zu sein. Und wenigstens schlief sie unter dem Schein derselben Sterne und desselben Mondes – denn natürlich schlummerte sie jetzt. »Ich komme!« rief er. Dabei heftete er sein Auge fest auf den hellen Stern vor ihm und eilte vorwärts, rastlos, unaufhaltsam.

Der Morgen zog herauf. In lang rieselnden Wellen strömte die kühle, taufeuchte Morgenluft die Berge hinab. Das graue Licht färbte sich rosenrot. Dann ging die Sonne auf. Noch war sie nicht erschienen, aber die Westspitze des Berges flammte, und ein Rabe flog auf und wiegte sich auf dem Lichtstrahl. Israels Brust dehnte sich weit aus, und er schritt fester vorwärts. »Jetzt wird sie bald erwachen,« sagte er bei sich.

Die Welt erwachte. Von allen Zweigen sangen die Vögel ihr Morgenlied – das Weißkehlchen stimmte es an in den Felsenspalten, der Rohrsänger in den Binsen der Gewässer. Die Sonne stieg empor über die Berggipfel, und die Erde unter ihr erglänzte. Tautropfen funkelten auf den Spätblumen, und lagen wie ein weites Spinngewebe über dem Grase. Die Schafe begannen zu blöken, die Hunde zu bellen, die Kühe zu brüllen, die Pferde sich gegenseitig die schlanken Hälse zu reiben, und durch die frische Luft drang ein brenzlicher Geruch von Torf und frischen Zweigen. Israel unterbrach seinen Marsch keinen Augenblick, sondern eilte mit neuem Eifer vorwärts. »Jetzt wird sie aufgestanden sein,« sagte er bei sich. Er konnte sich fast einbilden, daß er sie sähe, wie sie die Thür öffnete und in der Frühsonne nach ihm ausspähte.

»Arme Kleine,« dachte er, »wie mag sie sich nach mir bangen! Aber ich komme, ich komme!«

Die Landschaft sah sehr schön aus und wunderbar verändert, seit er sie zuletzt gesehen hatte. Damals glich sie einer fahlen Totenmaske, jetzt einem immer lächelnden Angesicht. Und obgleich das Jahr zur Rüste ging, erschien es doch noch ganz jung. Kein herbstliches Ermatten, kein Vorzeichen des Winters, überall Frühlingsfrische und Frühlingskraft. »Ich werde mein Kind sehen und doch noch glücklich werden,« dachte Israel. Der Staub des Lebens war wie weggeblasen von seiner Seele.

Er näherte sich jetzt einem kleinen Dorfe, Namens Dár el Fakier – »das Haus des Armen«. Der Ort verdiente nicht einmal diesen Namen, denn er war ein Aschen- und Trümmerhaufen. Kein lebendes Wesen war weit und breit zu sehen. Das Dorf war von den Soldaten des Sultans geplündert und zerstört, und seine Bewohner waren ins Gebirge entflohen. Israel stand einen Augenblick still und blickte in eins der zerstörten Häuschen. Es mußte einem Juden gehört haben, das erkannte er am Geruch. Der Fußboden war mit Schutt bedeckt, – Scherben von Kannen, Kesseln, Wasserflaschen, ein weibliches Taschentuch, ein zierlicher roter Pantoffel. Auf dem zerwühlten Rasenfleck im innern Hof waren Steine in winzig kleine Vierecke aufgebaut und kleine Pflöcke regelrecht in die Erde gesteckt. In diesem Hause hatte ein junges Mädchen gewohnt; Kinder hatten da gespielt; durch die stillen leeren Höhlungen wehte noch ihr Odem. »Die armen Menschen!« dachte Israel, aber fremde Not konnte ihn heute nicht näher berühren, die jubelnde Freude seines Herzens war zu groß.

Der Tag wurde warm, aber nicht zu heiß zum Gehen, und da Israel sich nicht müde fühlte, so ging er, ohne sich auszuruhen, weiter. Er rechnete sich aus, wie weit Schawan von seinem kleinen Heim bei Semsa sein mochte. Es waren wohl an siebzehn Stunden. Zu einer solchen Entfernung brauchte ein rüstiger Fußgänger zwei Tage und zwei Nächte. Er hatte das Gefängnis am Mittwoch abend verlassen, und die Sonne des Freitags mußte sich neigen, ehe er Naomi erreichte. Es war jetzt Donnerstag morgen. Er durfte keine Zeit verlieren. »Sieh, das arme Liebchen wird warten, warten, warten,« sagte er zu sich selbst. »Solch ein süßes Geschöpf wie sie ist so ungeduldig; ja wirklich, so thöricht ungeduldig! Gott segne sie!«

Die Leute, die er unterwegs antraf, begrüßte er mit fröhlichem Zuruf. Sie beantworteten traurig seinen Gruß, und einige teilten ihm ihre Not mit. Es kam darin etwas von Ben Abu vor, der eine große Summe von ihnen verlangt hatte, die sie nicht bezahlen konnten, und vom Sultan, der ihre Häuser geplündert hatte und dann mit seiner ganzen Armee, seinen zwanzig Weibern und fünfzehn Zelten nach Tetuan gezogen war, um das Fest dort zu feiern. Aber Israel verstand kaum, was sie ihm erzählten, obwohl er sich Mühe gab zuzuhören. Er hatte sich inzwischen einen wundervollen Zukunftsplan ausgesonnen. Er wollte Marokko mit Naomi verlassen. Zusammen würden sie sich nach England einschiffen. Nach dem freien, mächtigen, schönen England! Ah, wie es in seiner Erinnerung leuchtete, das kleine weiße Meereseiland! Die Heimat seiner Mutter! England! Ja, er wollte dahin zurückkehren. Er hatte freilich dort keine Freunde mehr; aber das schadete nichts! Ach ja, er war alt, und in den Reihen seiner Verwandten fanden sich traurige Lücken. Seine Mutter! Ruth! Aber Naomi blieb ihm noch. Naomi! Er sprach ihren Namen laut mit sanfter, zärtlicher, liebkosender Betonung, als streiche seine welke Hand über ihr Haar. Dann ermannte er sich und lachte sich selbst aus ob seines kindischen Wesens.

Um Sonnenuntergang gelangte er an ein Duar, ein Zeltdorf, mitten in der Wildnis. Es war in weitem Kreise aufgeschlagen und öffnete sich nach innen. Das Vieh war in der Mitte angepflöckt, wo auch die Hunde und Kinder spielten, und die Stimmen von Männern und Frauen ertönten aus dem Innern der Zelte. Lustige Feuer brannten unter Kesseln, die an Triangeln aufgehängt waren – als Israel das sah, fiel ihm mit einem Mal ein, daß er seit gestern nichts gegessen hatte. »Ich muß wohl Nahrung zu mir nehmen,« dachte er, »obgleich ich nicht hungrig bin.« So blieb er stehen; und die wandernden Araber riefen ihn an: »Markababikum! Du bist willkommen! Willkommen in unserm herrlichen Lande!« – Ihr Land war die weite Welt.

Israel ging in eins der Zelte und setzte sich mit zu einem Gericht Bohnen und Schwarzbrot. Es schmeckte vortrefflich. Neben ihm saß ein Mann, der tüchtig zugriff, und eine nur halb bekleidete, unverschleierte Frau, welche an einem zwischen den beiden Zeltpfosten befestigten Webeeinschlag arbeitete und zugleich ein Kind säugte. Einige Hühner krochen zur Nacht unter den Zeltvorhang, und ein junges Mädchen butterte in einem Ziegenschlauch, den sie auf und abschüttelte, und buk Kuchen über einem Feuer aus getrockneten Disteln, das in einem Loche über drei Steinen knisterte. Alle lachten miteinander, und Israel lachte mit.

»Hast du noch einen weiten Weg, Bruder?« fragte der Mann.

»Nein, o nein, nein,« sagte Israel. »Nur bis Semsa, nicht weiter.«

»So, dann mußt du hier zur Nacht bleiben,« sagte der Araber.

»Das kann ich nicht,« entgegnete Israel.

»Nicht?«

»Nein, siehst du, ich kehre zu meinem Töchterchen zurück. Das arme Kind ist ganz allein und hat ihren alten Vater monatelang nicht gesehen. Es ist wirklich unrecht, so lange fortzubleiben. Und solch ein zärtliches Geschöpften ist dann immer so ungeduldig. Es bildet sich mancherlei ein, nicht wahr? Nun, man muß Nachsicht haben – meinst du nicht auch?«

»Aber sieh doch, die Nacht bricht herein, noch dazu eine dunkle!« sagte die Frau.

»Ei, das thut nichts, Schwester,« lachte Israel. »Nun Friede mit euch! Lebt alle wohl, lebt wohl!«

Mit der Hand winkend und lachend ging er hinweg, aber ehe er weit gegangen war, überfiel ihn die Finsternis. Sie sank wie eine dichte schwarze Wolke von den Bergen. Kein Stern am Himmel, kein Lichtschein auf der Erde, Dunkel vor ihm, Dunkel hinter ihm ringsum, alles, wie mit einem schweren Leichentuch verhangen. Dennoch arbeitete er sich noch eine Zeitlang vorwärts. Jeder Schritt bedeutete eine erneute Anstrengung. Der Boden, so schien es ihm, sank unter seinen Tritten ein; es war ihm, als wandle er auf weichem Moorboden. Er fing an zu ermatten, nervös und mutlos zu werden. Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn, und endlich, als er das Rauschen eines Flusses in der Nähe vernahm, ohne unterscheiden zu können, von welcher Seite her, hatte er keine Wahl. Er mußte anhalten. »Es ist am Ende besser so,« dachte er. »Sonderbar, wie doch alles zum Guten ausschlägt! Ich muß ja heute schlafen, denn morgen nacht werde ich kein Auge zuthun. Nein, da werde ich soviel zu erzählen, zu fragen und zu hören haben.«

Indem er sich so tröstete, überwältigte ihn der Schlummer in der Finsternis, und viele Meilen tief dunkler Nacht zwischen sich und seinem Heim plauderte und schwatzte er sich in Schlaf, wie ein kleines Kind, um sein Herzweh zu lindern. »Ja, ich muß schlafen – schlafen – morgen muß sie schlafen, und ich muß bei ihr wachen, wie ich zu thun pflegte – wie weich und schön – schön – schlafen – ach!«

Als er erwachte, war die Sonne bereits aufgegangen. Vor ihm in der Ferne lag die See – das blaue Mittelmeer, das sich am fernen Horizonte dem blauen Himmel vermählte. Er befand sich an der Grenze des Landes von Beni Hassan, und nachdem er den Fluß, dessen Rauschen er in der Nacht gehört, durchwatet hatte, begann er seine Reise von neuem. Es war jetzt Freitag morgen, und um Sonnenuntergang dieses Tages wollte er in seiner Hütte bei Semsa sein. Schon konnte er Tetuan von ferne am Berghang liegen sehen, umgürtet von seinen weißen Mauern. Da lag es im Sonnenlicht mit den schneebedeckten Höhen darüber, blendend weiß im Kranze seiner Orangengärten.

Aber wie schwindlig ihm war! Die ganze Welt drehte sich mit ihm im Kreise. Und wie der Boden unter ihm zitterte! Brannte die Sonne heute morgen so arg, oder wurden seine Augen trübe? Blind? Wurde er blind? Nun, mochte es sein, er wollte nicht klagen, Naomi konnte ja nun sehen. Sie konnte auch für ihn sehen. Wie süß, durch Naomis Augen zu sehen! Naomi war jung und fröhlich, heiter und glückselig. Die ganze Welt war für sie neu, wunderbar und wunderschön. Es würde für ihn eine zweite und weit süßere Jugend sein!

Naomi – Naomi – immerfort Naomi! Bisher hatte er an sie gedacht, wie sie ihm in den glücklichen Tagen ihres Beisammenseins in Semsa erschienen war. Jetzt aber begann er sich zu fragen, ob in der Zeit seitdem nicht eine Veränderung mit ihr vorgegangen sein mochte. Zwei und ein halber Monat – das kam ihm sehr lang vor! Er sah Naomi vor sich, wie sie aus einem holden Mädchen zum süßen Weibe erblüht war. Eine hohe Seele leuchtete aus ihren klaren, stillen Augen, er selbst nahte ihr demutsvoll, ehrerbietig. Trotzdem war er doch ihr Vater geblieben – ihr alter, müder, kurzsichtiger Vater, und sie führte ihn hierhin und dorthin und beschrieb ihm alles. Er konnte alles sehen und hören. Zuerst Naomis Stimme: »Ein Bogen in den Wolken – rot, blau und grün – o!« Dann seine eigene tiefere Stimme aus der lichten Dunkelheit: »Ein Regenbogen, Kind!« Ach wie schön waren diese Träume!

Er bemühte sich, den Klang von Naomis Stimme sich in die Erinnerung zu rufen – die Stimme seiner teuren verstorbenen Ruth – und das Lied, das sie oft gesungen hatte – das Lied, das sie damals im Patio sang in jener unvergeßlichen Mondnacht, als er vom Bab Ramus heimkehrte und sie von der Straße aus singen hörte:

»Nun klingt's aus meines Herzens Reich:
O Erd' und Himmel, freuet euch!«

Er sang das Lied vor sich hin, während er sich mühsam weiter schleppte. Er lispelte dabei ein wenig, um sich in den Glauben hinein zu täuschen, daß es Naomis Stimme sei, und nicht seine eigene.

Gegen Mittag gelangte Israel unter die Mauern von Tetuan, wo er zwischen den Sultansgärten und den von Schleusenwerken getriebenen Kornmühlen eine Anzahl Juden antraf. Es war eine Deputation, welche ihm aus der Stadt entgegengesandt worden war. Sie entsetzten sich zuerst, als sie ihm ins Gesicht sahen. Es ist wahr, er hatte Tetuan als ein geschlagener Mann verlassen, aber doch noch kräftig und aufrecht, ein rüstiger Fünfziger. Sechs Monate waren vergangen, und er kehrte zurück, ein schwacher, gebrochener, wankender, siecher Greis! Der Mut entsank ihnen, ehe sie noch gesprochen hatten. Nach einer Pause aber trat einer von ihnen vor – Israel kannte den graubärtigen Mann, Salomo Laredo, wohl – und sagte: »Israel ben Oliel, unser armes Tetuan ist in großer Bedrängnis. Es verlangt nach dir. Ach! wir haben schlecht an dir gehandelt, aber Gott hat uns gestraft, und wir sind jetzt deine Brüder. Komm zurück zu uns, wir bitten dich! Denn wir haben Kunde von großen Ereignissen in der nächsten Zukunft. Höre.«

Dann erzählten sie ihm etwas von Mohammed von Mekines, der ein Jünger Sidna Aïsas [Jesus von Nazareth], aber trotzdem ein guter Mann sei, und auch etwas von den Spaniern und einem Marschall O'Donnel, der Martiel bombardieren sollte. Aber Israel hörte das alles kaum. »Ich glaube, mein Gehör versagt mir,« meinte er und lachte dann leichthin, als sei nicht eben viel daran gelegen. »Um euch die Wahrheit zu sagen, obwohl meine armen Brüder mir leid thun, ich kann ihnen nicht mehr helfen. Gott wird euch einen besseren Fürsprecher erwecken.«

»Niemals!« riefen die Juden einstimmig.

»Wie dem auch sei, – mein Leben unter euch ist beendet,« fuhr Israel fort. »Mich verlangt nicht nach Macht und Ansehen. Was sagt doch der englische Dichter? ›In der großen Hand Gottes stehe ich‹. Shakespeare – o ein mächtiger Geist – einer, der die Geheimnisse der Menschenseele kannte. Aber ich vergaß, ihr habt ja nicht in England gelebt. Wißt ihr, daß ich mit meinem Töchterchen dorthin zurückkehren werde? Ihr erinnert euch doch der Naomi? Ein holdseliges Mädchen! Jetzt kann sie sehen, hören, sprechen! Ja, Gott hat die Last von ihr genommen, und ich bin sehr glücklich. Doch meine Brüder, ich muß euch verlassen. Die Kleine erwartet mich. Ich darf doch nicht zu lange ausbleiben, nicht wahr? Friede, Friede!«

Da sie seinen festen Glauben sahen, wagte niemand ihm die Wahrheit zu sagen, die allen auf der Zunge schwebte. Ein tiefes Mitleid überwältigte alle. Die Deputation stand und sah ihm nach, bis er hinter dem Hügel verschwunden war.

Jetzt aber, da er der Heimat so nahe gekommen war, raubte Israels Ungeduld ihm doch einen Teil seiner fröhlichen Zuversicht, und allerlei Befürchtungen stiegen in ihm auf. Er fing an, sich alle die möglichen Unfälle zu vergegenwärtigen, die Naomi hätten betreffen können. Er war so lange abwesend gewesen, und es konnte sich in dieser Zeit so vieles zugetragen haben. In dieser Stimmung versuchte er zu laufen. Es war aber nur ein jammervoll unsicheres Schleppen der Füße. Bei jedem Schritt beinahe schwankte sein Körper nach allen Seiten, um das Gleichgewicht zu erhalten.

Endlich gelangte er an eine Stelle des Pfades, von der aus man, wie er wohl wußte, das kleine binsengedeckte Häuschen sehen konnte. »Da ist sie,« rief er und zeigte mit ausgestrecktem Finger darauf hin. Die Sonne sank, und ihre schrägen Strahlen fielen voll auf sein Gesicht. »Da ist sie! Ich sehe sie!« rief er aus. Wenige Minuten später war er an der Thür. »Nein, meine Augen haben mich getäuscht,« sagte er betroffen und halblaut. »Oder vielleicht ist sie hineingegangen – vielleicht hat sie sich versteckt – der liebe Schelm!«

Die Thür stand angelehnt, er stieß sie auf und trat hinein. »Naomi,« rief er in zärtlich liebkosendem Tone. »Naomi!« jetzt fing seine Stimme an zu zittern. »Komm zu mir, komm Liebchen; komm schnell, schnell, ich kann nicht sehen!« Er lauschte. Kein Laut! Nichts rührte sich. »Naomi!« Der Name klang wie ein Todesröcheln. Dann eine Pause, und endlich sagte er matt und leise: »Sie ist nicht da.«

Er sah sich um und hob etwas vom Boden auf. Es war ein mit Schimmel bedeckter Pantoffel. Während er ihn ansah, veränderte sich sein ganzes Aussehen. Tot? War Naomi tot? Er hatte wohl sonst schon an den Tod gedacht – für sich, für andere, nie in Verbindung mit Naomi. Mit einem Satz kam das Ungeheure über ihn. »Tot! O, o!«

Da stand er mitten auf dem Estrich mit hilflos gebrochenem, blödem Blick, den Pantoffel in der Hand, als ein Fußtritt sich der Thür näherte. Er schleuderte den Pantoffel fort und öffnete die Arme. Naomi – das mußte sie sein!

Es war Fatima. Sie war heimlich gekommen, um ihm die böse Nachricht von den Vorgängen in der Kasbah und in der Moschee schonend mitzuteilen. Er kam ihr mit einer fürchterlichen Frage entgegen: »Wo ist sie begraben?« fragte er mit dumpfer Stimme.

Fatima erkannte seinen Irrtum sofort. »Naomi lebt,« sagte sie, und als sie sah, wie die Wolke von seiner Stirn verschwand, fügte sie rasch hinzu: »Und es geht ihr ganz, ganz gut.«

Das ist keine Lüge, dachte sie bei sich, als aber Israel mit einem Schrei, in dem Schmerz und Wonne sich mischten, ihr um den Hals fiel, begriff sie sogleich ihre Unvorsichtigkeit.

»Wo ist sie?« rief er. »Bringe sie her, du liebe, gute Seele! Warum ist sie nicht hier? Oder führe mich zu ihr, zu ihr!«

Da rang Fatima die Hände. »Ach!« sagte sie weinend, »das kann ich nicht.«

Israel nahm sich zusammen und wartete. »Sie kann nicht zu dir kommen, und du kannst nicht zu ihr gehen,« sagte Fatima. »Aber sie ist sonst ganz gesund! Das arme Kind, sie ist in der Kasbah – nein, nein, nicht im Gefängnis – o nein, es geht ihr gut – ich meine, ihr fehlt nichts, ja, und es wird für sie gesorgt – sie wohnt im Palast – im Frauenhause – aber sorge dich nicht – sie –«

Mit diesen gebrochenen, unzusammenhängenden Worten stotterte das gutmütige Weib die Wahrheit heraus und bemühte sich zugleich den Schlag zu mildern. Aber die Seele lebt rasch, und Israel war es, als dränge sich ein ganzes Leben in diesen Augenblick zusammen.

»Im Palast!« sagte er ganz verwirrt. »Im Frauenhause – im Frauenh–« dann fügte er kurz abbrechend hinzu:

»Fatima, ich muß Naomi sehen.«

»Ach! Ach!« stammelte Fatima, »du darfst nicht, du darfst niemals –«

»Fatima,« versetzte Israel mit fürchterlicher Ruhe. »Siehst du denn nicht, Weib, daß ich heimgekommen bin? Ich und Naomi sind lange getrennt gewesen. Begreifst du nicht? – Ich will zu meiner Tochter.«

»Ja, ja,« sagte Fatima; »aber du darfst nie mehr zu ihr. Sie ist in den Frauengemächern –«

Da rang sich ein heiseres Stöhnen aus Israels Brust.

»Das arme Kind, sie kann ja nichts dafür. Laß dir nur sagen,« fuhr Fatima fort, »höre mich an!«

Israel aber wollte nichts mehr hören. Sein Zorn sprudelte jetzt unaufhaltsam empor, Fatimas Beteuerungen blieben unbeachtet. »Schweig!« rief er. »Was braucht's hier der Worte? Sie ist im Palast! – das ist genug! Im Frauenhause – im Harem – was ist da noch mehr zu sagen?«

Wie er so die Thatsache seinem Bewußtsein deutlich und sich dieselbe in all ihren grauenvollen Zügen klar gemacht hatte, ergoß sich seine Leidenschaft, wie ein Strom, der das Wehr durchbricht. »O Gott!« schrie er, »mein Feind wirft mich ins Gefängnis. Da lieg' ich und verfaule und verhungere! Immer denk' ich an mein Töchterchen, die ich dahinten lassen mußte. Ich eile heim zu ihr. Aber wo ist sie? Fort! Im Hause meines Feindes. Verflucht soll sie sein! ... Ach nein, nein; das nicht, das doch nicht! Vergib mir, o Gott; nein das nicht, was auch geschehen mag! – Aber das Frauenhaus! Naomi! Mein Töchterchen! So süß, so unschuldig war ihr Gesicht! Schwören hätte ich können auf ihre Reinheit. Mein Liebchen! Mein Täubchen! Nur anzusehen brauchte ich sie, um zu wissen, daß sie mich lieb hatte. Und nun im Harem – in der Hölle; und Ben Abu – der Wüstling! Ich habe sie auf ewig verloren! Und doch ihre Seele gehörte mir – ich habe mit Gott um sie gerungen –«

Plötzlich hielt er inne; mit fahlem, entfärbtem Antlitz sank er in die Knie, hob die Augen und Hände zum Himmel, und rief in zugleich strengem und doch herzbrechendem Tone: »Töte sie, o Gott! Töte ihren Leib, o mein Gott, auf daß ihre Seele wieder mein sei!«

Bei diesem fürchterlichen Gebet entfloh Fatima aus der Hütte. Zum letzten Mal hatte sein wankender Verstand gesprochen. Er wurde nun ruhig, und als Fatima am folgenden Morgen zu ihm kam, saß er vor der Thür, redete mit sich selbst in kindischer Weise, und sah mit starrem, leblosem Ausdruck vor sich hin. Zuweilen sagte er Schriftstellen her, die in auffallender Übereinstimmung mit seiner Lage waren. »Ich bin allein, ich wohne bei den Eulen ... vergebens habe ich mein Herz gereinigt ... meine Füße wären beinahe geglitten, meine Schritte hätten fast gestrauchelt ... Ich bin wie einer, den seine Mutter tröstet.«

Zwischen diese Schriftworte mischten sich unzusammenhängende Ausrufe und einfältig alberne Wortspiele. Wieder, und immer wieder rief er Naomi, immer weich und zärtlich, als sei ihr Name ein Heiligtum. Von Zeit zu Zeit schien er zu glauben, daß er wieder im Gefängnis sei, und betete leise – immer dasselbe Gebet – daß jemand möchte vor Schaden und Übel bewahrt bleiben. Einmal war es ihm, als höre er eine Stimme, die ihm zurief: »Israel ben Oliel, Israel ben Oliel!« – »Hier! Israel ist hier!« antwortete er. Er glaubte, der Kaid riefe ihn. Der Kaid war aber der König. »Ja, ich will heimgehen zum Könige,« sagte er. Dann blickte er auf seinen zerlumpten, schmutzbefleckten Kaftan, und bemühte sich, ihn abzubürsten, zuzuknöpfen und die zerfetzten Enden zusammenzubinden. Endlich rief er, als seien Dienstboten um ihn her, und er noch der Herr: »Bringt mir Gewänder – reine Gewänder – weiße Gewänder; ich gehe heim zum Könige!«


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