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III. Naomis Kindheit.

In ganz Tetuan war Israel jetzt ein Gegenstand der Verachtung. Gott hatte sich gegen ihn erklärt, Gott hatte ihn erniedrigt, Gott selbst hatte ihn dem Verderben preisgegeben. Warum also sollten Menschen ihm Barmherzigkeit erweisen?

Aber wenn er auch verachtet war, so war er doch noch mächtig. Niemand hätte es gewagt, ihn öffentlich zu beleidigen. Da man ihn nun ebenso fürchtete, wie man ihn verachtete, suchte man sein Mütchen auf allerlei Weise an ihm zu kühlen, und das führte zu oft lächerlichen Kunstgriffen. So gaben sie ihren Eseln und Hunden seinen Namen, und es waren stets die räudigsten Hunde auf den Straßen, und die faulsten Esel auf den Marktplätzen.

So konnte es geschehen, daß wenn er ins Gedränge der Handeltreibenden am Stadtthor oder am Thor der Mellah geriet und zur Seite trat, um die lange Reihe der bepackten Maulesel vorüber zu lassen, eine rauhe Stimme hinter ihm ertönte: »Verfluchter alter Israel! Mach, daß du heimkommst zu deiner Mutter!« und wenn er sich dann rasch umwandte, fand er dicht auf seinen Fersen einen Neger mit höchst unschuldigem Gesicht, der seinen Esel mit diesem Titel und obligaten Püffen vor sich her trieb.

Ging er an den »Häusern der Heiligen« vorüber, so änderten beim Hall seiner Schritte die bleichen, augenlosen Aussätzigen, die dort auf offner Straße unter den weißen Mauern saßen, ihr Geschrei: »Allah! Allah! Allah!« und riefen: »Arrah, Arrah, Arrah! Hebe dich fort! Hebe dich fort!«

Ging er am Freitag über den Sôk und hörte Gekreisch und Gelächter und sah grinsende Gesichter mit blanken, weißen Zähnen sich ihm zuwenden, dann wußte er, daß die Märchenerzähler seine Stimme, die Taschenspieler seine Gebärden nachahmten.

Seine glänzende Lebensstellung galt so viel wie nichts gegen das offenkundige Brandmal des Zornes Gottes. Der schmutzigste Kerl auf dem Marktplatz spie aus bei seinem Anblick. Maure und Jude, Araber und Berber – sie alle verachteten ihn.

Trotz alledem hatte ihn aber das Mißgeschick, welches sein Haus betroffen, nicht ganz überwältigt. Es hatte im Gegenteil jede Fiber seines Wesens, jede Muskel seiner Seele straff gespannt. Er hatte darum mit Gott gehadert, und dieser Hader mit Gott hatte den Hader mit seinen Mitmenschen nur verschärft.

Es gab nur einen Mann in der Stadt, der keinen Anstoß nahm an diesem Krieg nach beiden Seiten. Je boshafter die einen, je wütender der andere, um so besser für seine Person.

Das war der Statthalter von Tetuan. Er hieß El Arby, war aber allgemein bekannt unter dem Namen Ben Abu, der Sohn seines Vaters. Dieser Vater war kein anderer gewesen, als der verstorbene Sultan. So war also Ben Abu ein Bruder Abderrahmans, obgleich von einer anderen Mutter, einer Negersklavin. In Marokko heißt eines Sultans Bruder sein noch durchaus nicht eines Sultans Günstling sein, sondern ein möglicher Bewerber um seinen Thron. Dennoch war Ben Abu zum Kaid, einem Befehlshaber im Heere des Sultans befördert worden, und schließlich sogar zum Anführer seiner Reiterei. In dieser Eigenschaft hatte er einen Beutezug unternommen, um rückständigen Tribut von den Stämmen Beni Hassan, Beni Idar und Wad-Ras einzutreiben. Diese aufrührerischen Stämme bewohnten das an Tetuan angrenzende Gebiet, und dadurch war Ben Abu zuerst auf diese Stadt aufmerksam geworden. Als er von seiner Expedition heimgekehrt war, bot er dem Sultan fünfzehntausend Thaler Nach Rohlfs kursieren in Marokko vorzüglich die französischen Fünffrankthaler. für den Posten eines Pascha oder Statthalters von Tetuan und verhieß ihm dreißigtausend Thaler jährlich als Tribut. Der Sultan steckte das Geld ein und nahm das Versprechen an. Es gab zwar schon einen Pascha in Tetuan – das war aber eine geringfügige Schwierigkeit. Der gute Mann wurde vor des Sultans Angesicht berufen, beschuldigt, den Tribut des Sherif sich angeeignet zu haben; sein Vermögen wurde eingezogen und er selbst in den Kerker geworfen.

Auf diese Weise war Ben Abu Pascha von Tetuan geworden. Nicht minder merkwürdig ist die Geschichte, wie Israel sein inoffizieller Geschäftsführer wurde. Anfangs schien es, daß Ben Abu durch sein unklares Abkommen mit dem Sultan verlieren würde. Sein neues Amt war halb ein militärisches, halb ein bürgerliches. Er war ein tapferer Soldat – das hatte er aus dem schwarzen Blut seiner Mutter überkommen; aber er war ein schlechter Beamter – er konnte weder lesen, noch schreiben, noch rechnen. In dieser Klemme, würde sein Stellvertreter, der Kalifa Ali bin Dschillul, sein natürlicher Gehilfe gewesen sein; aber da dieser Mann auch der Stellvertreter seines Vorgängers gewesen war, konnte er ihm nicht trauen. Er hatte zwei andere unmittelbar seiner Person Untergebene, seinen Befehlshaber der Artillerie und seinen Befehlshaber der Infanterie, aber keiner von ihnen konnte seinen Namen schreiben. Dann war da noch sein Taleb-der-Âdel, sein Schreiber, der Notar Hosain ben Haschen, betitelt Haj, weil er die Pilgerfahrt nach Mekka gemacht hatte, aber dieser war zugleich der Imâm oder Oberste der Moschee, und der schlaue Ben Abu erkannte die Gefahr, eines Tages mit dem religiösen Empfinden seines Volkes in Kollision zu kommen. Schließlich war da der Kadi, Mohammed ben Arby, aber der Richter war ein Beamter, welcher außerhalb der Gerichtsbarkeit des Pascha stand, und er brauchte einen Mann, den er in der Hand hatte. Durch eine solche Verkettung von Umständen kam Israel nach Tetuan.

In den ersten Jahren seines seltsamen Amtes hatte Israel seinen Herrn vollständig befriedigt. Er führte des Paschas Siegel und handelte in seinen Geldgeschäften ganz selbständig. Die Einkünfte waren auf fünfzigtausend Thaler gestiegen, so daß der Pascha zwanzigtausend zu gut hatte. Dann aber begann Ben Abus Ehrgeiz sich zu überstürzen. Er legte eine Ölmühle an und verlangte von Israel, er solle hundert reiche Häuser der Stadt auswählen und deren Eigentümer zwingen, je zehn Kollahs Öl zu kaufen – eine übertriebene Menge – zu sieben Thaler das Kollah – ein übermäßiger Preis. Israel hatte sich geweigert. »Das ist nicht gerecht,« hatte er gesagt.

Noch andere Mittel zur Vergrößerung seines Einkommens hatte Ben Abu vorgeschlagen, aber Israel hatte allen fest widerstanden. Zuweilen hatte der Statthalter vorgegeben, er habe vom Sultan Befehl empfangen, eine schändlich hohe Steuer auszuschreiben, aber Israels Antwort war die nämliche: »Es gibt nur ein Übel in der Welt, und das ist Ungerechtigkeit,« hatte er gesagt. »Sei gerecht, und du thust alles, was Gott verlangt, oder was Menschen erwarten.«

Jeder andere würde für eine solche Auflehnung wider den Willen des Paschas nachts in ein feuchtes Verließ geworfen und tags über in der heißen Sonne angekettet worden sein. Israel war aber noch unentbehrlich. So sehnte sich Ben Abu nur nach dem Tage, wo er ihn nicht mehr brauchen würde.

Aber seit dem Unglück, welches Israels Haus betroffen hatte, war alles verändert. Jetzt war es Israel selbst, welcher zweifelhafte Einnahmequellen in Vorschlag brachte. Es gab kein Mittel, das ein verschlagener Kopf nur ersinnen konnte, um womöglich die eingeatmete Luft selbst in Geld zu verwandeln – Lösegelder, Wechsel, falsche Urteile –, das Israel nicht ersonnen hätte. So überredete er den Statthalter, all sein Kleingeld den jüdischen Geschäften zu schicken und es in Silberthaler wechseln zu lassen und zwar zum Preise von neun Dukaten für den Thaler, während doch ein Silberthaler nach dem Kurse zehn Dukaten galt. Als nun einige der Geschäftsleute, nachdem sie fünfzigtausend Thaler zu diesem Preise gewechselt hatten, zum Sultan geflohen waren, um sich zu beklagen, riet Israel, daß ihre Gläubiger zusammengerufen, ihre Schuldscheine aufgekauft und Verschreibungen auf den zehnfachen Betrag derselben aufgesetzt und legalisiert werden sollten. So wurden manche aus ihrer Heimat verbannt, weil sie fürchteten, eingekerkert zu werden, viele wurden schwer geschädigt, und einige gänzlich zu Grunde gerichtet.

Es war ein seltsames Schauspiel. Er, den der Pöbel auf offener Straße verhöhnte, hielt das Schicksal jedes Einzelnen von ihnen in Händen. Ihre Hunde und Esel mochten seinen Namen tragen, aber ihr Leben und ihre Freiheit waren ihm verfallen.

Israel schaute dem allen gleichmütig zu, er zuckte nicht unter den Schmähungen, er tröstete sich nicht mit seiner Macht. Er sah den Ruin ganzer Familien ohne Gewissensbisse und hörte das Wimmern der Weiber, das Schreien der Kinder ohne jedes Unbehagen. Doch freute er sich auch nicht über die Leiden derjenigen, welche ihn verspottet hatten. Sein Trieb zum Bösen stammte aus anderen, tieferen und höheren Quellen – sein Glaube an die Gerechtigkeit war in Trümmer gesunken. Er hatte sich getäuscht. Es gab keine Gerechtigkeit in der Welt, und es konnte deshalb auch keine Ungerechtigkeit geben. Es gab nur den blinden Wirbel des Zufalls und den wilden Kampf ums Dasein. Der Unglückliche haderte mit Gott.

Aber ganz erstorben war Israels Herz doch noch nicht. Eine Stelle gab es, wo er, der gegen die übrige Welt unerbittlich Gestrenge, ein höchst zärtlicher Mensch war. Diese Stelle war sein eignes Heim. Was er dort sah, genügte, um die tiefsten Quellen seines Wesens überströmen zu lassen – ja sie ganz zu erschöpfen, so daß es ihm draußen zu Mute war, als ob sie bis auf den letzten Tropfen versiegt wären.

In jener ersten Stunde seiner Erniedrigung, nachdem er vor den Feinden zu Schanden geworden war, die er hatte zu Schanden machen wollen, hatte Israel nur an sich selbst gedacht – Ruths selbstloses Herz aber hatte selbst da nur an das Kind gedacht.

Das Kind war blind, taub und stumm geboren. Beim Festmahl des Lebens gab es für dasselbe keinen Platz. So wandte Ruth ihr Antlitz nach der Wand und bat Gott, es zu sich zu nehmen.

»Nimm es!« rief sie – »nimm es! Eile, o Gott, eile und nimm es!«

Aber die Kleine starb nicht. Sie lebte und wuchs kräftig empor. Ruth selbst säugte sie, und indem sie sie an ihrer Brust nährte, brach ihr das Herz gegen sie, und sie vergaß das Gebet, das sie um ihretwillen gebetet hatte. Langsam und allmählich faßte sie wieder Mut, und Tag um Tag wuchs in ihrem Herzen eine trügerische Hoffnung, und es war ihr, als nahe sich ein himmlischer Bote, der ihr zuflüsterte: »Fasse Mut und hoffe, o Ruth! Gott betrübt nicht mit Willen. Vielleicht ist das Kind nicht blind, vielleicht ist es nicht taub, vielleicht ist es nicht stumm. Wer kann's sagen? Warte nur!«

Während der ersten Monate seines Lebens konnte Ruth keinen Unterschied sehen zwischen ihrem Kinde und den Kindern anderer Frauen. Manches Mal kniete sie neben seiner Wiege und versenkte ihren Blick in den Blumenkelch seines Auges, und das Auge war blau und schön, und es war nichts darin, was ihr gesagt hätte, daß der kleine Kelch zerbrochen und die kleine Kammer finster sei. Und dann wieder blickte sie auf das zierliche Ohr, und das Ohr war rund und fein gegliedert, wie eine Muschel am Meeresstrand, und nichts deutete an, daß das Rauschen des Meeres darin nicht wiederklang und tiefes Schweigen darin herrschte.

So nährte Ruth ihre Hoffnung im Geheimen und flüsterte ihrem Herzen zu: »Es geht gut, alles geht gut mit dem Kinde! Sie wird auf mein Angesicht die Augen richten und es sehen, sie wird meiner Stimme lauschen und sie hören, und auch ihr eigen Zünglein wird noch zu mir sprechen und mich sehr froh machen!« Und dann glitt eine unsagbare Heiterkeit über ihr Antlitz und verklärte es.

Aber als die Zeit gekommen war, wo die Augen eines Kindes lichtgewohnt nun die kleinen Händchen besehen und seine Fingerchen einzeln anstarren, wo es sich an den Wiegenrand anklammert und in friedlicher Verwunderung umher schaut – da öffneten sich die Augen dieses Kindes nicht, um zu sehen, sondern blieben unbeweglich und leer. Und als es Zeit wurde, daß eines Kindes Ohren von Stunde zu Stunde dem süßen Geplauder der Mutterliebe lauschen und seine Zunge beginnen sollte, die Worte in lallenden Lauten zurückzugeben, da hörte das Ohr dieses Kindes nichts, und seine Zunge blieb stumm.

Ruths Hoffnung wollte sinken, aber trotz alledem schien es ihr, als sei der Engel Gottes ihr nahe, und erfände tausend Entschuldigungen und spräche: »Harre nur, Ruth; harre nur noch ein wenig länger!«

So drängte denn Ruth ihre Thränen zurück, beugte sich von neuem über ihr Kind, und wartete, ob nicht sein Lächeln dem ihrigen antworten möchte, und lauschte, ob nicht die Lippe anfangen würde zu plappern. Allein kein sprachähnlicher Laut unterbrach das Schweigen zwischen den Worten, die zitternd von ihren Lippen kamen, und nie spiegelte sich ihr thränenfeuchtes Lächeln in des Kindes Augen wieder.

Es war wehmütig anzusehen, wie sie ihre Mühe verschwendete, und noch wehmütiger, wie sie sich Mühe gab, das zu verbergen. So trug sie täglich um die Mittagszeit ihre Kleine in den Patio und wartete gespannt, ob ihre Augen im Sonnenschein zwinkern würden; aber wenn Israel zufällig herbeikam, senkte sie wohl den Kopf und sagte: »Wie mild die Luft heut ist! Es ist ordentlich wohlthuend, in der Sonne zu sitzen.«

»Jawohl,« erwiderte er dann, »jawohl!«

So auch, wenn ein Vogel in dem Feigenbaume sang, der im Hofe stand, nahm sie ihr Kind, trug es dicht herzu und beobachtete, ob wohl seine Ohren hören könnten; aber wenn Israel sie sah, dann lachte sie auf – ein schrilles Lachen fast wie ein Aufweinen – und verhüllte verwirrt ihr Gesicht.

»Wie fröhlich du bist, Liebchen,« sagte er dann und schritt ins Haus. Eine Zeitlang bemühte sich Israel, sie in ihrem Treiben gewähren zu lassen, indem er vorgab, nicht zu sehen, was er sah, nicht zu hören, was er hörte. Aber mehr und mehr blutete ihm das Herz bei ihrem Anblick, und eines Tages konnte er es nicht länger ertragen, denn seine Seele verging vor Leid, und er rief: »Hör auf, Ruth! – Erbarme dich und hör auf! Das Kind ist eine Seele in Ketten und ein Geist im Gefängnis. Ihre Augen sind finster wie das Grab, und ewiges Schweigen ruht in ihrem Ohr. Sie wird nimmermehr der Mutter Lächeln, noch des Vaters Rede erwidern. Der erste Ton, den sie hören wird, wird die Posaune des jüngsten Tages, und das erste Antlitz, das sie schauen wird, wird Gottes Angesicht sein!«

Da warf sich Ruth zu Boden und brach in einen Strom von Thränen aus. Die Hoffnung, die sie bei sich gehegt, war tot. Israel konnte sie nicht mehr trösten. Der Quell des Trostes in seinem eignen Herzen war versiegt. Er holte tief Atem und ging an sein böses Werk nach der Kasbah.

Das Kind lebte und gedieh. Sie war Naomi genannt worden, wie sie es verabredet hatten vor ihrer Geburt, obgleich sie ja selbst von einem Namen nichts wußte und es wie ein Hohn erschien, ihr einen zu geben. Vier Jahre alt war sie ein Geschöpfchen von zartester Schönheit. Ungeachtet ihrer jüdischen Abstammung war sie lichtfarbig wie der Tag, rosig wie die Morgenröte. Und ob in ihren Augen Finsternis thronte, war es doch hell in ihrer Seele; ob es gleich in ihrem Ohre schlief, der Klang lebte in ihrem Herzen. Sie war fröhlicher als die Sonne, die sie nicht sah, lieblicher als der Gesang, den sie nicht hörte. Sie war lustig wie ein Vögelchen in seinem engen Käfig und schlug nicht gegen die Stäbe, die ihn einschlossen. Und wie der Mitternachtsänger unter den Vögeln, so sang ihre muntere Stimme in ihrer Finsternis.

Ein einziger Laut entfloh je zuweilen ihren Lippen – das war das Lachen. Damit legte sie sich abends schlafen, damit stand sie morgens auf. Sie lachte, wenn sie ihr Haar kämmte, und lachte wieder, wenn sie mit dem Morgendämmer zugleich aus ihrem Gemache sprang.

Nur einen Wächter hatte sie auf dem Außenposten ihres Geistes, und das war der Sinn des Tastens und des Fühlens. Damit schien sie Tag und Nacht zu unterscheiden und zu merken, ob die Sonne schien, oder ob der Himmel bewölkt war. Auch kannte sie ihre Mutter an der Berührung ihrer Finger und ihren Vater am Kratzen seines Bartes. Sie kannte die Blumen, welche draußen vor dem Stadtthor auf dem Felde blühten, und sie sammelte sie in ihrem Schoße und brachte sie in ihren Händen heim, ganz wie andere Kinder es thun. Fast schien es auch, als kenne sie ihre Farben, denn jedesmal steckte sie die roten in ihr Haar, aber die weißen legte sie an ihr Herz. Und wahrlich, sie selbst war eine Blume, der nur der Hauch des Windes zuflüstern, zu der nur die warme Sonne deutlich sprechen konnte.

Lieblich und rührend waren auch die Versuche, die sie zuweilen machte, sich an die, welche sie umgaben, anzuschließen. So war ihr Herz ein rechtes Kinderherz, und kein Entzücken war für sie größer, als das, mit anderen Kindern zu spielen. Aber ihres Vaters Haus stand unter einem Banne; kein Nachbarskind in Tetuan durfte seine Schwelle überschreiten, und außer den Kindern, welche sie gelegentlich auf dem Felde traf, wenn sie an ihrer Mutter Hand sich dort erging, kam sie mit keinem Kinde zusammen.

Ruth sah dies, und da zum ersten Male wurde ihr die gänzliche Abgeschlossenheit klar, in welcher sie seit ihrer Heirat mit Israel gelebt hatte. Sie selbst hatte ihren Mann zum Gefährten und Genossen, aber ihre kleine Naomi war doppelt und dreifach allein. Erstlich allein als das einzige Kind ihrer Eltern; dann als ein Kind, dessen Eltern abgesondert sind von den Eltern anderer Kinder, und zuletzt noch einmal als ein taubstummes und blindes Kind.

Aber auch Israel sah dies, und eines Tages, als er von der Kasbah heimkehrte, brachte er einen kleinen Negerknaben mit, aus dessen freundlichem runden Gesichtchen große unschuldige Augen treuherzig herausleuchteten. Des Knaben Name war Ali, und er war vier Jahre alt. Sein Vater hatte seine Mutter totgeschlagen, weil sie ihm ungetreu war und ihr Kind vernachlässigt hatte, und da er niemand hatte, der ihn aus dem Gefängnis hätte loskaufen können, so war er an diesem Tage hingerichtet worden. So blieb der kleine Ali allein in der Welt zurück, und Israel hatte ihn zu sich genommen.

Ruth hieß den Knaben willkommen und hielt ihn ganz wie ihr eignes Kind. Er war als Mohammedaner geboren, sie erzog ihn aber heimlich als Juden. Mehrere Jahre lang machte sie, soweit andere Augen sehen konnten, keinen Unterschied zwischen ihm und ihrem eignen Kinde. Sie aßen zusammen, sie gingen zusammen aus, sie spielten zusammen, sie schliefen zusammen, und das schwarze Köpfchen des Knaben lag mit dem blonden des Mägdleins auf demselben weißen Kissen.

Seltsam und wehmütig waren die Beziehungen zwischen diesen beiden kleinen, von der Menschheit verstoßenen Wesen. Man wußte nicht, ob man über sie lachen oder weinen sollte. Zuerst auf Alis Seite starres Entsetzen, daß, wenn er Naomi zurief: »Komm!« sie nicht auf ihn hörte, wenn er fragte: »warum?« sie nicht antwortete, und wenn er sagte: »sieh!« sie nicht hinblickte, obgleich ihre blauen Augen ihm voll ins Gesicht zu schauen schienen; dann geriet er in eine belustigte Verwunderung, daß ihre feinfühligen Fingerchen fortwährend seine Arme und seine Hände, seinen Nacken und seinen Hals betasteten. Aber lange, ehe er sich klar bewußt war, daß Naomi anders war als er, daß die Natur ihr nicht Augen gegeben hatte zu sehen, wie er sah, und Ohren zu hören wie er hörte, und eine Zunge zum Sprechen, wie er sprach, hatte schon die Natur selbst die Schranken überschritten, die sie von ihm trennten. Es fand sich, daß Naomi alles verstand, was er in seiner kindischen Weise that, und beinahe auch alles, was er in seiner kindischen Weise sagte. So spielte er denn mit ihr, wie er mit irgend einem andern Spielkameraden gespielt haben würde, lachte mit ihr, rief ihr zu und tollte ihr seine schönsten Kunststücke vor. Dennoch schien er durch ein geheimnisvolles Erkennen, das die Natur selbst ihn gelehrt, sich bewußt zu sein, daß es seine Pflicht sei, sie in seine Obhut zu nehmen. Und wenn die Abenteuerlust und der Geist des Schabernacks in seinem kleinen männlichen Herzen ihn antrieb, sich aus dem Hause zu schleichen und sich mit Naomi auf die Straße zu wagen, dann fand man ihn wohl mitten im dichtesten Gedränge, vielleicht unmittelbar hinter den Hufen der Maultiere und Esel, Naomis Hand fest in der seinen, bemüht, die großen Geschöpfe von ihr fortzustoßen, während er mit seinem tapfern schrillen Kinderstimmchen rief: »Arrah! Ar-rah! Ar-r-rah!«

Was Naomi anbetrifft, so bereitete ihr die Ankunft des kleinen schwarzen Ali ein unbändiges Entzücken. Was Ali that, mußte sie auch thun. Wenn er lief, mußte sie auch laufen; wenn er saß, setzte sie sich auch; und dabei lachte sie voll Herzenslust, obgleich sie nicht hörte, was er sagte, nicht sah, was er that, und nicht wußte, was er meinte. Um die Erntezeit, wenn Ruth sie hinausführte auf die Felder, ließ sie sich von Ali Huckepack tragen, haschte nach den Gerstenähren, hüpfte auf ihrem Sitz und lachte; und doch konnte sie nichts sehen von dem gelben Korn, nichts hören von dem Gesang der Schnitter und nichts von Alis Geschrei, der ihr zujauchzte, während er rannte und dabei in seiner Spiellust vergaß, daß sie nichts davon vernahm. Und des Abends, wenn Ruth die Kinder in ihrem Schlafkämmerlein zu Bette brachte, und Ali niederknieete, mit dem Angesicht nach Jerusalem, dann kniete Naomi neben ihm mit andächtiger Miene, und ihr helles Lachen war verstummt. Wenn er dann sein Gebet hersagte, bewegten sich auch ihre Lippen, und ihre Händchen falteten sich, und ihre Augen blickten empor.

»Lieber Gott, behüte Vater, Mutter und Naomi und alle Menschen,« sagte der Negerknabe.

Und das kleine Mädchen rührte an seine Hände, seine Kehle und ließ ihre Finger über sein Antlitz gleiten, von den Augenlidern bis zum Munde und that dann, wie er that, und ihr Schweigen schien doch wie ein Echo seiner Worte.

Lieblich-wehmütiger Anblick! Wer konnte ihn ohne Thränen sehen? Eins wenigstens war klar: wenn die Seele dieses Kindes im Gefängnis lag, war sie doch lebendig; und ob sie in Ketten lag, konnte sie doch nicht sterben, sondern war unsterblich und unverletzt und wartete nur der Stunde, wo sie mit anderen Seelen verbunden werden sollte durch das Band der Sprache.

Aber die Jahre vergingen, und Naomi wuchs an Schönheit, nahm zu an Holdseligkeit, aber kein Engel stieg herab, um die dunklen Fenster ihrer Augen zu öffnen und den schweren Vorhang von ihren Ohren hinwegzuziehen.


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