Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XV. Die Volksversammlung auf dem Sôk.

Israel wußte es nicht, und hätte doch in seinem Herzenshunger die Welt darum gegeben, es zu erfahren, wie es in Naomis Innerem aussah. Wenn aber irgend ein Mensch in die dunkle Kammer hätte blicken können, in welcher Naomis Geist siebzehn Jahre lang in tiefem Schweigen gewohnt hatte, so würde er wahrgenommen haben, daß, wie teuer auch das Kind dem Vater sein mochte, der Vater dem Kind doch noch teurer und notwendiger war. Seit ihre Mutter sie verlassen hatte, war er ihr Auge und ihr Ohr gewesen, wenn er ihre Hand zum Zeichen der Zustimmung, ihren Kopf zum Zeichen des Beifalls streichelte, und wenn er ihre Finger führte, um sie allerhand Zeichen zu lehren.

So war Israel seiner Naomi mehr als irgend ein anderer Vater seiner Tochter, mehr als Mutter oder Schwester, oder Verwandte gewesen; hatte sie doch nur durch ihn Zugang zu der Welt, in der sie lebte, nur durch seine Vermittelung vermochte ihr Geist einen Blick hinein zu thun; war er doch der Schlüssel, welcher die Pforten ihrer Seele öffnete; konnte doch ohne ihn weder die Welt zu ihr kommen, noch sie in die Welt hinausgehen. Weich und hingebend, voll heiliger Liebe und fleckenrein, geheimnisvoll und zärtlich, wie der Verkehr einer Mutter mit ihrem erstgebornen Kinde war auch der Verkehr zwischen Naomi, die keine Sprache als Thränen und Küsse kannte, und ihrem Vater. So lange Israel bei ihr war, schien Naomi zu leben, und ihr glückliches Herz erstaunte ob all der neuen wunderbaren Dinge, die sie überfluteten. Wenn er sie aber verließ, war sie wieder nur ein abgesperrter, in ihres Leibes enger Haft gefangener Geist, der seiner Neugeburt harrte.

Als Israel sich zu seiner Reise nach Schawan rüstete, da klammerte sich Naomi an ihn an, um ihn zurückzuhalten, als gedächte sie an seine letzte weite Reise, und als brächte sie dieselbe in Zusammenhang mit ihrer Krankheit, die sie während seines Fortseins befallen hatte; es war, als sähe sie mit diesen Augen, die für die Wege der Welt blind waren, was ihm vor seiner Heimkehr begegnen sollte. Er aber machte sich mit vielen zärtlichen Worten von ihr los, streichelte ihr Haar und küßte ihre Stirn, als wollte er sie schelten, während er sie doch segnete um ihrer Liebe willen. Aber ihre Furcht nahm zu, und sie hielt sich an ihm fest, wie ein Kind an der Mutter Kleide. Und endlich, als er ihre Hände löste und sie wie im Ärger von sich stieß, als er dann lustig lachte, um sie verstehen zu lassen, daß er wisse, was sie meinte, daß er aber keine Furcht habe, da wurde ihre Unruhe immer stürmischer, und sie brach in heftiges Weinen aus.

»Ei, ei! was soll das heißen?« sagte er. »Morgen bin ich ja zurück. Hörst du, mein Kind? Morgen! Morgen um Sonnenuntergang,«

Als er fort war, schien die seltsame Angst, die sie so plötzlich ergriffen hatte, noch zuzunehmen. Ihr Gesicht war hochrot, ihr Mund trocken, ihre Augenlider zitterten, und ihre Hände flogen hin und her in nervöser Unruhe. Kaum hatte sie sich gesetzt, so erhob sie sich schon wieder; stand sie dann, so fing sie sogleich an rasch umher zu gehen. Manchmal lauschte sie mit abgewandtem Kopf, dann wieder stöhnte sie, und zuweilen brach sie geradezu in Thränen aus, oder sie murmelte Laute vor sich hin, wie man sie noch nie von ihr gehört hatte.

Die Sklavinnen konnten nichts ausfindig machen, sie zu trösten. Im Gegenteil, sie wurden von ihrem Herzenskummer mit ergriffen. Wenn sie Fatima am Kleide zog und mit ihren blinden, thränenfeuchten Augen der Negerin so traurig ins Antlitz zu schauen schien, als wolle sie nach ihrem Vater fragen, wie ein Hund nach seinem verstorbenen Herrn, dann vergoß auch Fatima Thränen, halb aus Mitleid mit ihren Befürchtungen, halb im Bangen vor den unbekannten, noch zu erwartenden Trübsalen, welche Gott selbst ihr offenbart haben mochte.

»Ach, du stummes Seelchen, was wird nun wieder geschehen?« rief Fatima.

»O weh! o weh!« klagte Habiba, »das Mädchen wird gewiß wieder krank.«

Das war alles, was die guten Seelen aus Naomis rastloser Erregtheit entnehmen konnten. In der Nacht, die auf Israels Abreise folgte, verfiel Naomi aus schierer Erschöpfung in einen tiefen, lethargischen Schlummer, der nur ein- oder zweimal durch ängstliche Träume unterbrochen wurde. Als sie am folgenden Morgen beim ersten Ruf des Mudin erwachte, war es, als sei sie noch in den bösen Träumen befangen. Sie schien sich darin zu bewegen, wie gebannt in den Zauber einer großen Angst, welcher sie keinen Ausdruck zu geben vermochte, als laste der Alp noch bei Tage auf ihr. Eine endlos lange Stunde folgte der anderen, aber ihre Stimmung wurde nicht ruhiger. Ihre Brust wogte auf und ab, ihr Herz pochte heftig, ihre Erregung wurde hysterisch. Sie stieß ab und zu wilde unartikulierte Rufe aus, und manchmal hätten die Negerinnen fast glauben können, daß sie wirklich gesprochene Worte, obgleich in wildem Durcheinander, vor sich hin murmele.

Endlich neigte sich der Tag, und die Sonne ging unter. Naomi wußte offenbar, wann dies geschah, denn sie konnte die kühlere Luft ja spüren. Da horchte sie mit erneuter Aufmerksamkeit auf die Schritte draußen, und mit dem Horchen nahm ihre Unruhe zu. Was hörte Naomi? Die schwarzen Weiber konnten nichts anderes hören, als die üblichen Geräusche der Straße – das Jauchzen spielender Kinder, die Rufe der Frauen, das Geschrei der Maultiertreiber, und hin und wieder das durchdringende Kreischen eines schwarzen Märchenerzählers von der Maurenstadt her – nur dieses unterschiedliche Stimmengeschwirre und als Grundton dazu das undeutliche Summen des vielgestaltigen Lebens, das ringsum auf und nieder wogte.

Drangen zu Naomis Ohren noch andere Laute? Vernahm ihr Geist – durch keinen gröberen Sinn als den des Gehörs belastet – etwa unter diesem oberflächlichen Lärm durchklingend irgend eine gedämpfte Nebenstimme, die nahendes Unheil kündete? Oder stammte ihre Unruhe nur aus der Erinnerung an ihres Vaters Versprechen, um Sonnenuntergang zurück zu sein – war sie nur der Ausdruck ihres sehnlichen Verlangens, ihn wieder zu haben? Fatima und Habiba wußten nichts und sahen nichts. Alles, was sie thun konnten, war, ratlos die Hände zu ringen.

Mittlerweile wurde Naomis Aufregung immer stärker, und am Ende litt es sie nicht mehr im Hause; sie verlangte hinaus auf die Straße. Als die beiden Negerinnen sie so entschlossen sahen, wurden sie von ihrer Angst angesteckt. Schnell machten sie sich und Naomi zum Ausgehen zurecht, und bald waren sie alle drei auf der Straße.

»Wo gehen wir hin?« fragte Habiba.

»Wie soll ich das wissen?« gab Fatima zurück.

»Wir sind rechte Närrinnen,« meinte Habiba.

Es war jetzt eine Stunde nach Sonnenuntergang, und der Verkehr auf den Straßen hatte fast aufgehört. Nur am Mellahthor, welches dem Gebrauch zuwider noch nicht geschlossen war, wogte ein dichtes Menschengedränge. Eine Gruppe Juden stand in ernstem, leidenschaftlichem Gespräche unter dem Thor. Sonst herrschte überall ein unheimlich ominöses Schweigen. Das Kaffeehaus der Mauren vor dem Thore war bereits erleuchtet, und die Thür stand offen, aber der Raum war leer. Keine Schlangenbändiger, keine Taschenspieler, keine Märchenerzähler, umgeben von einem Kreise bewundernder Zuschauer, waren zu sehen oder zu hören. Diese Meister des Zauberspukes und der Volksbelustigung waren noch nie abwesend gewesen. Sogar die blinden, längs der Stadtmauern hockenden Bettler waren stumm. Aber aus den Moscheen erklang ein tiefes, leises Gesinge, wie von vielen Stimmen einer großen darin versammelten Gemeinde.

»Das Mädchen hatte recht!« sagte Fatima; »es ist etwas im Werke.«

»Was denn?« fragte Habiba.

»Na, wie soll ich das wissen?« gab Fatima zurück.

»Ich behaupte, wir sind ein paar Närrinnen,« versicherte Habiba wieder.

Inzwischen hatte Naomi beider Hände keinen Augenblick losgelassen. Zwischen ihnen dahinschreitend, zwang das zarte Mädchen sie, wie durch eine unwiderstehliche Kraft, ihr zu folgen, wohin sie sie führte.

Wer sie so hätte dahinschreiten sehen, diese hilflosen Gottesgeschöpfe, die nicht wußten, wohin und weshalb sie es thaten, außer daß eine wahnwitzige Furcht sie vorwärts trieb, hätte sie vielleicht auch Thörinnen gescholten und sie doch bedauert.

»Horch! ich höre etwas,« sagte Fatima.

»Wo?« fragte Habiba.

»Von der Richtung her, wohin wir gehen!« erwiderte Fatima.

Weiter und weiter eilte Naomi von Straße zu Straße. Es waren dieselben Straßen, durch welche sie zu ihres Vaters Hause an dem Tage zurückgekehrt war, an dem ihre Ziege umkam. Nie hatte sie dieselben seitdem betreten, aber unentwegt, weder zur Rechten noch zur Linken abweichend, schritt sie vorwärts bis zu dem Sôk el Fôki und der Stelle zu, wo die Ziege von dem schaumbedeckten tollen Hunde zu Boden gerissen worden war. Plötzlich hemmte sie ihren Schritt.

»Alle Heiligen, was ist das?« rief Habiba.

»Habe ich dir nicht gesagt, daß sie etwas höre?« sagte Fatima.

»Gottes Angesicht erleuchte uns,« rief Habiba. »Wo kommt diese Menschenmasse her?«

Ein ungeheures Menschengewühl erfüllte die obere Hälfte des Marktplatzes und ergoß sich bis in die Seitenstraßen und Gänge, die nach der Kasbah hinaufführten. Es war nicht die dichtgedrängte Menge weißumhüllter Gestalten, wie sie an Markttagen früh morgens dort zusammenströmte – eine siedende, dampfende, wogende Masse von Haïks, Dschellabs und Maghribidecken, dazwischen hie und da ein kahlgeschorener Kopf mit geflochtener Schädellocke – sondern ein großer Haufe dunkler Gestalten in schwarzen Kleidern und Kappen. Es waren alles Juden – Juden jeden Alters und Standes, von dem hübschen jungen Schächter in seinen blutbefleckten Lumpen bis zu dem zahnlosen alten jüdischen Geldwechsler im goldbesäumten neuen Kaftan.

Alle diese waren hier versammelt, um die Sachlage hinsichtlich der Heuschreckenplage zu erörtern. Daher hatten die maurischen Beamten ihnen gestattet, nach Sonnenuntergang außerhalb ihrer Mellahgrenzen zu bleiben. Einige Mauren hatten sich auch eingefunden, um sie zu beobachten – aber sie hielten sich abseits und durch einen leeren Raum von den Juden getrennt, um den Unterschied zwischen sich und jenen zu bezeichnen. Die Schreiber saßen in ihren offnen Buden und thaten, als lesen sie im Koran, oder als schrieben sie mit ihren Rohrfedern; die Büchsenschmiede standen an ihren Ladenthüren; und viele Berber vom Lande kamen scharenweise aus ihrem gewöhnlichen Lagerplatz auf dem Sôk hervor, um sich auf den anliegenden leeren Plätzen niederzukauern. Alle sahen gespannt, aber scheinbar teilnahmslos auf die große Judenversammlung.

Und so groß war der Zudrang dieser Leute, und so gewaltig ihre Aufregung, daß sie einem von ungestümen Winden durchwühlten Meere glichen. Der Marktplatz hallte wie ein weites Gewölbe von dem Klange ihrer Stimmen, ihrem rauhen Geschrei, ihren Protesterhebungen, Bitten und all den Wutausbrüchen ihrer frechen Kehlen wieder. Aus diesem lauten Getümmel ertönte immer von neuem ein Name lauter als irgend ein anderer von allen Seiten. Es war der Name Israel ben Oliel. Gegen ihn wurden Drohungen ausgestoßen, die ihm nahende Gefahr von Menschenhand und neue Gerichte Gottes voraussagten. Kein Unheil war je über ihn gekommen, dessen sie sich nicht erinnert, das sie in dieser Stunde der Abrechnung nicht frohlockend aufgezählt hätten. Und kein Übel war ihnen begegnet, wovon sie ihm nicht die Schuld beimaßen.

Als sie in ihrer Bußprozession gestern durch die Stadt zogen, ihrem Rabbiner nach, der neben dem Imán herschritt, um Gott anzuflehen, die Heuschreckeneier zu zerstören, da hatten sie nicht anders erwartet, als daß der Himmel sich über ihren Häuptern aufthun und daß der Regen sofort herabströmen werde. Der Himmel aber hatte sich nicht aufgethan, der Regen war nicht herabgeströmt, die Luft war dick und heiß geblieben, als wäre sie zu einem Kuchen zusammengebacken, und die glutsprühende Sonne hatte wie zuvor auf die ausgetrocknete und versengte Erde herabgebrannt. Während die Mohammedaner unbeirrt durch diesen Mißerfolg ihres Gebetes ergeben in ihre Häuser zurückkehrten und vor sich hin murmelten: »Es steht geschrieben!« waren die Juden in ihre Synagoge gegangen in der festen Überzeugung, daß die Plage ein Gottesgericht sei, und hatten beschlossen, gleich der Mannschaft des mit Jonas gen Tharsis fahrenden Schiffes das Los zu werfen, um zu erfahren, um welches Mannes willen es ihnen so übel erginge.

Sie waren mehr als einhundert und zwanzig Familien, und meinten deshalb wohl berechtigt zu sein, ein Synedrium zu erwählen. Zwar setzten sie sich damit in direkten Widerspruch mit dem Ceremonialgesetz, denn sie wußten recht gut, daß die Bildung eines Synedriums und das Recht über ein todeswürdiges Verbrechen zu Gericht zu sitzen ihnen seit langem verboten war. Aber im Angesicht des Todes war ihnen der Anachronismus ein leerer Schall, und sie hatten unwillkürlich auf die Gebräuche ihrer Väter zurückgegriffen. So hatten sie dreiundzwanzig Richter ernannt, welche weder Wucherer, noch Spieler, noch Sklavenhändler, weder Greise, noch Kinderlose sein durften.

Die Richter hatten die ganze Nacht zu Gericht gesessen, und ihr Urteil war einstimmig dasselbe gewesen. Das Los Jonas war auf Israel gefallen. Er hatte sich ihren Herren und Feinden, den Mauren verkauft und gegen die Hoffnung und das Interesse seines eignen Volkes gehandelt; er hatte mehrere seiner Stammesgenossen nach entfernten Städten in die Verbannung getrieben, andere in die Kerker der Kasbah, noch andere zum Tode gebracht; er war ein Mann, der in offenbarer Feindschaft mit Gott lebte, und Gott hatte ihm, als ein Zeichen seines Mißfallens, ein Kind gegeben, das vom Teufel besessen war, eine blind und taubstumm geborene Tochter, die noch immer weder sehen noch reden konnte.

Konnte Gottes Zorneshand deutlicher sein, wenn sie in feuriger Gestalt auf den Wolken des Himmels erschien? Israel war der Verruchte, um dessen Sünde willen sie diese Plage der Verwüstung zu erdulden hatten. Der Herr zürnte mit ihnen, weil sie ihn bisher verschont hatten, wie er mit Saul gezürnt, als er den König und das Vieh der Amalekiter verschont hatte. Siebzehn Jahre und darüber hatte er unter ihnen gelebt, ohne zu ihnen zu gehören, hatte nie die Synagoge betreten, kein Fasten gehalten, kein Fest mit ihnen gefeiert. Nicht eher würde Gottes Zorn über sie gesühnt sein, als bis das Urteil über ihn gefällt wäre. Wenn sie ihn ausgestoßen haben würden aus ihrer Stammesgenossenschaft, dann würde der segenspendende Regen vom Himmel strömen, und die dürstende Erde ihn trinken, und die Heuschreckeneier würden zu Grunde gehen. Würden sie dagegen ihr gerechtes Gericht noch länger hinausschieben, und ihre Pflicht gegen Gott und ihr Volk unerfüllt lassen, so würde ihr Untergang nahe sein. In den nächsten achtundzwanzig Tagen mußten die Eier ausgebrütet sein, und nach achtundvierzig weiteren würden die jungen Heuschrecken Flügel bekommen haben. Noch vor dem Ende dieser sechsundsiebzig Tage mußte der Weizen und die Gerste gelb zum Mähen und reif für die Scheuer sein, aber die Heuschrecken würden dann das Angesicht der Erde bedecken, und es würde kein Korn zu ernten geben. Die Sichel würde ruhen, die Speicher leer sein, die Ackersleute würden hungrig zu Markte kommen, und sie selbst, die Städter und Handelsleute, würden elendiglich umkommen aus Brotmangel, sie und ihre Kinder mit ihnen.

So geschah es, daß die dreiundzwanzig Richter des neuen Synedriums von Tetuan – wider den jüdischen Brauch – Israel, während er in Schawan war, anklagten und für schuldig erklärten. Gott, meinten sie, würde sie nicht umkommen lassen um des Lebens dieses Mannes willen, noch ihnen sein Blut zurechnen.

Trotzdem, ob sie wohl Richter waren, konnten sie doch das Todesurteil nicht an ihm vollstrecken. Sie konnten nur gegen ihn bei dem Kaid klagen. Und was konnten sie ihm sagen? Daß der Herr diese Heuschreckenplage als Strafe für Israels Sünde geschickt habe? Ben Abu hätte ihnen ins Gesicht gelacht, und ihnen erwidert: »So steht es geschrieben!« Daß es, um Gottes Zorn zu versöhnen, angezeigt sei, daß dieser Jude stürbe? Einmal davon überzeugt, daß ein Jude diese Verheerung über das Land der Sherifs gebracht habe, würde der Moslem sich erheben und seine Krieger mit ihm, und sie würden die ganze Judengemeinde mit Stumpf und Stiel ausrotten.

Die Richter steckten die Köpfe zusammen. Es war nutzlos, auf Grund irgend welchen Glaubens bei Ben Abu gegen Israel zu klagen. Es war mehr als nutzlos – es war gefährlich. Nichts Gemeinsames war zwischen seinem und ihrem Glauben. Sein Gott war nicht ihr Gott, außer allein in seinem Namen. Der eine war Allah, groß, streng, unerbittlich, unversöhnlich, unbeweglich, der dahinschritt, dem einen unvermeidlichen Ende zu, ohne des Menschen zu achten, ja der ihn unter die Füße trat, obgleich man ihm, wie zum Spott zuweilen den Namen des Mitleidigen und Barmherzigen beilegte. Aber der andere war Jehovah, der Vater seines Volkes Israel, der für sie sorgte, sie aufrichtete, die Welt für sie regierte und sie ihnen unterwarf, der aber auch seinen Zorn an ihnen ausließ, wenn sie von ihm abfielen.

Die dreiundzwanzig Richter, welche in der Synagoge am oberen Ende der engen Nebengasse des Sôk el Fôki tagten, hatten bis tief in die Nacht zusammengesessen bei dem Schein der Öllampen, die ein düsteres Licht über ihre sorgenvollen aschgrauen Gesichter verbreiteten. Sie mußten einen anderen Anklagegrund gegen Israel finden, und sie konnten keinen finden. Endlich erinnerten sie sich daran, daß, nach altem Brauch und Gesetz, der Prozeß über Leben und Tod eines Israeliten eine Stunde nach Sonnenuntergang beendigt sein müsse. Auch fiel ihnen ein, daß ein Todesurteil nicht an demselben Tag verkündigt werden durfte, an welchem das Zeugenverhör stattgefunden hatte. So trennten sie sich endlich und gingen nach Hause. Dem Volke aber, das vor dem Thore wartete, hatten sie gesagt, daß über Israel ben Oliel Gericht gehalten worden sei, daß aber das Urteil nicht vor Sonnenuntergang des folgenden Tages bekannt gemacht werden könne.

Diese Zeit war jetzt herangekommen. Voll Eifer und Ungeduld, in heißblütigem Grimm hatten die Leute sich schon von der dritten Nachmittagsstunde an im Sôk zusammengerottet. Die Richter waren wieder seit dem frühen Morgen in der Synagoge versammelt gewesen. Sie hatten seit gestern kein Brot gebrochen, denn der Tag, der einen Sohn Israels zum Tode verdammte, mußte ein Fasttag sein für seine Richter.

Als der Nachmittag vorschritt, wurden die Thore der Synagoge geöffnet. Noch war zwar der Spruch nicht gefällt, aber die Männer vom Rat waren ihrem Entschluß nahe. An der offenen Thür hatte sich der Vorleser der Synagoge, eine Fahne in der Hand, aufgestellt. Unter dem Mellahthor stand ihm zugewandt ein dienstbereiter Bote, der die Bewegungen der Fahne beobachten sollte. Wenn die Fahne sank, so lautete der Spruch auf »Tod«; sofort sollte der Mann am Thore dann die Botschaft dem auf dem Marktplatz versammelten Judenvolke zutragen. Ihm aber wollten die dreiundzwanzig Richter in feierlichem Zuge folgen und verkünden, welche Maßregeln getroffen wären, um das gefällte Urteil auszuführen.

Inmitten all ihres lauten Gelärmes und ungeachtet des wilden Grolles, der sie zu verzehren schien, wandten die Judenleute doch in kurzen Zwischenräumen von wenigen Minuten immer wieder ihre Blicke auf das Mellahthor.

Wenn Engel vom Himmel auf die Erde schauten, hatten sie wahrlich einen jammervollen Anblick. Da waren diese Kinder Zions in einem fremden Lande, wo sie von den Mohammedanern wie Hunde und Ungeziefer angesehen wurden; und die noch immer ebenso dachten und sprachen und handelten, wie ihre Väter vor zweitausend Jahren gethan hatten; die es aufs neue für besser hielten, daß ein Mensch sterbe für das Volk, denn daß das ganze Volk verderbe; die wiederum ihre verschlagenen Köpfe nach einer List durchforschten, durch welche ihr Sündenbock von der Hand ihres Feindes getötet werden möchte. Kinder waren sie in der That, ob auch zum Teil ihre Köpfe kahl, ihre Bärte grau und ihre Gesichter runzlig, hart und rauh waren; kleine Kinder des großen Gottes, die sich in ihrer bittern Not hin und her wanden.

Das war das Schauspiel, zu dem Naomi gekommen war, und dieses alles hatte sich in der Stadt zugetragen seit der Stunde, da ihr Vater sie verließ. Wessen Hand hatte sie geführt, welche Macht hatte sie unterrichtet? Hatte allein ihr weitreichendes Gehör den Tumult vernommen? Hatte irgend ein unbekannter, im Dunkel umhertastender Sinn sie mit unbestimmtem Grauen vor einem großen und ganz nahen Unheil erfüllt? Oder leitete sie noch ein anderer, höherer Einfluß? Folgte das blinde Mädchen der unmittelbaren Leitung Gottes, wie die schwarzen Sklavinnen in ihrer hilflosen Angst ihr durch die dunkelnden Straßen folgten?

Als Fatima und Habiba sahen, wohin Naomi sie geführt hatte, fühlten sie sich, obgleich peinlich betroffen davon, doch auch zugleich erleichtert und der schlimmsten Befürchtungen enthoben, mit denen ihr seltsames Benehmen sie erfüllt hatte. Aber als sie nun daran dachten, daß Naomi Israels Tochter und sie beide seine Dienerinnen waren, hielten sie doch dafür, lieber umzukehren und nach Hause zu gehen, da sie sich nicht an einem Ort für sicher halten konnten, wo sein Name wie ein Schmähwort von Mund zu Mund ging, und da sie auch fürchteten, daß manche von den Flüchen, die auf sein Haupt gehäuft wurden, einen Eingang zu Naomis Geiste finden möchten.

»Komm,« sagte Habiba, »laß uns gehen – wir sind hier nicht sicher!«

»Ja,« stimmte Fatima zu; »wir wollen das arme Kind nach Hause bringen.«

»So komm,« sagte Habiba und ergriff Naomis Hand.

»Naomi, Naomi,« flüsterte Fatima dem jungen Mädchen ins Ohr. »Wir wollen nach Hause gehen. Komm, Herzchen, komm!«

Aber Naomi blieb unbeweglich. Kein sanftes Bitten rührte sie. Sie blieb, wo sie gleich anfangs sich hingestellt, an der äußeren Peripherie der Menge, regungslos stehen. Ihr Busen wogte, ihre Glieder bebten, sie atmete laut und heftig, und ihre bleichen Lippen murmelten leise, während sie mit vorgestrecktem Halse eifrig auf die Vorgänge lauschte.

Und wenn bei diesem Lauschen ein Menschenauge in ihre stumme, gefangene Seele hätte blicken können, würde es einen fürchterlichen Aufruhr darin geschaut haben. Denn obgleich niemand etwas mit Sicherheit davon wußte, hatte sie doch in ihrer Finsternis und Stummheit, seitdem sie hören konnte, die Sprache der Menschen und ihre verschiedenen Stimmen kennen und unterscheiden gelernt. Alles, was jetzt in dem Volkshaufen gesprochen wurde, verstand sie daher; kein einziges Wort entging ihr, und was andere nur sahen, das fühlte sie – nur näher und furchtbarer, weil es vor ihren blinden Augen in Dunkel gehüllt war.

Zum ersten Mal entstand eine Ruhepause in dem allgemeinen Lärm, dann aber durchdrang eine rohe, kreischende, harte Stimme die Luft. Naomi kannte die Stimme – es war die des alten Abraham Ferkler, des Wucherers.

»Brüder von Tetuan,« schrie der Greis, »worauf warten wir noch? Auf die Entscheidung der Richter? Wer braucht die denn? Nur eins thut not. Wir wollen den Kaid bitten, diesen Mann zu beseitigen. Laßt uns zu ihm gehen und zu ihm sprechen: »Gnädiger Herr Pascha, fünfundzwanzig Jahre lang hat dieser Mann aus unserm Volke über uns geherrscht, hat uns unterdrückt, und deine Knechte haben gelitten und geschwiegen. In dieser Zeit haben wir gesehen den Samen Israels gejagt aus den Häusern ihrer Väter, wo sie von ihrer Geburt an gewohnt haben. Wir haben gesehen, wie sie gestoßen und geschlagen wurden ohne einen Ort, wo die Sohlen ihrer Füße rasten konnten, wie sie umkamen in Hunger und Durst, in Blöße und Mangel. Ist dies geschehen zu deiner Ehre, zu deinem Ruhme, oder zu deinem Vorteil?«

Die Menge brach in lautes Beifallsgebrüll aus, und als sie aufs neue stille geworden waren, fuhr die widrige Stimme fort: »Und nicht allein den Samen Israels, sondern auch die Söhne des Islam hat dieser Mann in das tiefste Elend gestürzt. Unter einem Sultan, der die Freiheit erstrebt und einem Kaid, der die Gerechtigkeit liebt, in einem Freiheit atmenden Lande und einer von Gott bevorzugten Stadt, versinken unsre Brüder, die Moslemin, mit uns in tiefen Schlamm, in dem kein Grund zu finden ist. Jeder Tag bringt beiden eine neue Kummerlast. Jetzt nun ist eine Plage über uns gekommen. Das Land ist verödet; die Stadt überfüllt, jeder Mann stolpert über seinen Nächsten; unser Leben ist ungewiß; morgens sagen wir: ›Wär' es doch Abend!‹ Abends sagen wir: ›Wär' es doch Morgen!‹ so strecke du deine Hand aus und hilf uns!«

Wieder brach die Versammlung in ein zustimmendes Geschrei aus, und die zischende Stimme fuhr fort: »So laßt uns zu ihm sprechen: ›Gnädiger Herr Pascha, es gibt nur ein Mittel, uns zu helfen. Reiße diesen Mann nieder, den du über uns gesetzt hast! Er gehört zwar zu unserm eignen Stamm und Volk; aber gib uns lieber einen Herrn aus irgend einem andern Stamme und Volke; einen Mauren, Araber, Berber oder Neger; nur nimm weg diesen Mann unsres Volkes, und deine Knechte werden dich segnen!‹«

Des alten Mannes Stimme wurde durch laute Rufe übertönt: »Ben Abu! Zu Ben Abu! Warum warten auf die Richter? Nach der Kasbah! Nach der Kasbah!«

Aber eine zweite Stimme drang jetzt durch das brausende Stimmengewoge hindurch, dünn und schrill wie der Ruf einer Pfauhenne. Auch diese Stimme kannte Naomi – es war die Stimme Juda ben Lolos, des Ältesten der Synagoge, welcher auch unter den dreiundzwanzig Richtern gesessen haben würde, wenn er nicht ein Wucherer gewesen wäre.

»Warum sollen wir gehen zum Kaid?« schnarrte die Stimme. »Liebt der Pascha diesen Israel ben Oliel? Hat er ihm neuestens soviele Beweise seiner Gunst gegeben? Würde Ben Abu nicht froh sein, diesen Diener los zu werden, der so lange sein Meister war? Warum ihn also behelligen mit euren Beschwerden? Handelt nach eignem Ermessen, und der Kaid wird euch danken! Und wohl mag Israel ben Oliel den Herrn preisen und ihm danken, daß er es seinem Volke nicht ins Herz gegeben hat, den Tyrannenmörder zu spielen und Blut zu vergießen, wie die andren Stämme rings umher, die Araber und Berber, die von Natur heißeren Blutes sind, längst gethan haben würden – und auch nicht mit Unrecht, oder durchaus den Wünschen des Kaid entgegen, der gut und menschlich und barmherzig ist, und es nie gern gesehen hat, daß man sein armes Volk knechtete.«

Bei diesen Worten, obgleich sie scheinbar der Menge Mäßigung empfahlen, brach ihre Wut lauter aus, denn zuvor. »Fort mit dem Menschen! – Fort mit ihm!« erklang es ringsum aus zahllosen Kehlen, heiser und hell, schroff und schrill in hohen und tiefen Tönen. Nicht eine Stimme unter allen rief nach Gnade oder Geduld.

Während noch der Grimm des Volkes so brauste und die Luft durchzitterte, erklang eine dritte Stimme durch das Getöse, und Naomi kannte auch diese; es war die barsche Stimme Ruben Malikis, des Goldschmieds und Armenpflegers.

»Sollte Gott,« hub Ruben an, »mehr Gefallen haben an der Unterdrückung seines Volkes, als Ben Abu – den Gott segnen möge –? Wie hat er an diesem Israel ben Oliel gethan? Steht er ihm treulich bei, oder ist seine Hand wider ihn gewesen? Seit dem Tage, da er herkam vor fünfundzwanzig Jahren, hat ihn Gott gesegnet, oder hat er ihn geschlagen? Gedenket an Ruth, sein Weib, und wie jung sie starb! Gedenket an ihren Vater, unsern alten Groß-Rabbi David ben Ohanna, wie die Hand des Herrn ihn traf in der Hochzeitsnacht seiner Tochter! Gedenket an Naomi, diesen Sprößling der Sünde, die verflucht und heimgesucht ist, blind und sprachlos bis auf diesen Tag!«

Jetzt klangen die Stimmen der Menge in Naomis Ohren, wie das Gewieher eines ungeduldigen Rosses. Fatima zupfte sie am Kleide und flüsterte ihr zu: »Komm, komm fort!« Aber Naomi packte ihre Hand nur um so fester und zitterte am ganzen Leibe.

Wieder klang Ruben Malikis barsche Stimme durch die Luft. »Meint ihr, der Herr habe ihm Reichtümer gegeben? Schaut her! – er hat sie verschluckt, aber hat er sie nicht wieder ausspeien müssen? Prüfet ihn – das was er erpreßt, hat er es nicht alles wiedererstatten müssen? Raucht Gottes Zorn nicht wider ihn? Antwortet mir, ja oder nein?«

Wie ein Donnerkeil aus Himmelshöhen niederkracht, so erscholl ein tausendstimmiges gewaltiges »Ja!« Und unmittelbar darauf erhob sich in anderer Richtung eine vierte Stimme, die Stimme eines alten Weibes. Naomi kannte sie – es war die Stimme der neunzigjährigen halbtauben Rebekka Bensabott.

»Hi hi! Was redet ihr alles für Zeug?« grunzte sie hämisch. »Ruben Maliki, spare deinen Atem für deine Witwen – die bekommen nicht zu viel davon zu kosten. Und du, Abraham Ferkler, geh nach Haus zu deinen Geldsäcken. Ich bin eine verrückte alte Hexe, nicht wahr? Na, um so eher kann ich ein offenes Wort sprechen. Auf was warten wir hier? Auf die Richter? Pah! Auf das Urteil? Papperlapapp! Auf Israel ben Oliel, nicht wahr? So steinigt ihn denn! Wovor fürchtet ihr euch? Vor dem Kaid? Er wird euch ins Gesicht lachen! Vor der Blutrache? Wer soll sie nehmen? Vor einem Lösegeld? Wer soll es fordern? Nur die Stumme, die Naomi; und ihr würdet dann erst ein Wunder an ihr thun und ihre Zunge lösen müssen. Schämt euch! Seid ihr Männer? Pfui! Kinder seid ihr!«

Die Menge lachte – es war das harte, grelle, hohle Lachen, das hinter den Lippen, die es ausstoßen, die Zähne stumpf macht. Sofort aber brachen Tausende von Stimmen in ein mißtönendes Gejohle aus, ähnlich den Gegenströmungen eines tobenden Meeres. »Sie hat recht!« schrie eine scharfe Stimme. »Er verdient es,« schnüffelte eine andere. »Wir wollen ihn wenigstens aus der Stadt jagen,« polterte eine dritte verdrießliche Stimme. »Auf, nach seinem Hause!« schrie eine vierte, die alle anderen übertönte. »Nach seinem Hause!« erklang es darauf aus zahllosen hungrigen Kehlen.

»Komm, laß uns gehen,« flüsterte Fatima Naomi zu und ergriff von neuem ihren Arm, um sie mit Gewalt hinwegzuziehen. Aber Naomi schüttelte ihre Hand ab und murmelte seltsame Laute vor sich hin.

»Auf, nach seinem Hause! Stürmt es, plündert es, jagt den Tyrannen hinaus!« brüllte der Pöbel hundertstimmig; aber ehe noch irgend einer sich angeschickt hatte, dem Rufe zu folgen, drängte sich ein Reiter auf einem Maulesel bis mitten in die Menge hinein.

Es war der Bote vom Mellahthor. Hingerissen von ihrem neuen Wutgedanken, hatten die Leute ihn ganz vergessen. Er war gekommen, um den Beschluß des Synedriums bekannt zu machen. Die Fahne war gesunken, der Urteilsspruch lautete auf Tod.

Als sie das Urteil vernommen hatten, hörten die Unsinnigen nichts weiter, warteten auch nicht auf den Zug der Richter, um das Mittel zu erfahren, durch welches sie, die doch in ihrem eignen Hause nicht Herren waren, dasselbe würden ausführen können. Der Zug der Richter bildete sich soeben. Er kam aus der Synagoge, durchschritt das Mellahthor, jetzt näherte er sich dem Sôk el Fôki. Voran gingen die Rabbiner, und den Beschluß machten vier verlegen dreinschauende Mauren. Es waren die Maultiertreiber und Soldaten, welche Israel zu seiner Pilgerfahrt zu dem Feinde aller Kaids und Paschas, Mohammed von Mekines, einst gedungen hatte. Sie sollten ihn später auch noch an Ben Abu verraten.

Aber kein Mensch sah nach den Rabbinern, oder nach den Mauren. Die Menge wand sich durcheinander wie Würmer in einem abgestochenen Rasenstück. »Wozu sein Haus plündern?« riefen einige. »Weshalb ihn heraustreiben?« riefen andre. »Eine armselige Rache! Schlagt ihn tot! Schlagt ihn tot!«

Beim Klange dieses Wortes, das noch bisher nicht ausgesprochen worden war, obgleich jedes Ohr darauf gewartet hatte, steigerte sich das Schreien der Menge zu sinnlosem Toben. Aber plötzlich mitten in das wilde Tosen hinein hallte ein durchdringender Schrei: »Er ist da!« und dann entstand ein tiefes Schweigen.

Es war Israel selbst. Er kam zu Fuß die Mauergasse herab, die neben den Stadtwällen hinführend am Thore Bab Tut in die von Schawan kommende Landstraße einmündet. Fünfzig Schritt hinter ihm ritt Ali der Negerknabe auf seinem Maulesel und führte den andern.

Israel kehrte aus dem Gefängnis von Schawan zurück. Noch klangen in seinen Ohren die Segensworte aus dem Munde der halbverhungerten Anhänger Absalams, denen er aus seiner eignen Armut Lebensmittel gebracht hatte: »Möge der Gott Jakobs dich segnen, Bruder!« und »Möge das Kind deines Weibes gesegnet sein!« Beständig mußte er an diese Segensworte denken. Sie verfolgten ihn auf seinem ganzen Wege. Er floh nicht mehr vor ihnen, denn sie erklangen wie ein süßer Gesang in seinen Ohren, und wie Musik in seiner weichgestimmten Seele. Einmal vorher hatte er solche Musik gehört. Es war in England. Die Orgel ertönte, und harmonische Stimmen erhoben sich, und er war ein einsamer Knabe, denn seine Mutter lag zu seinen Füßen im Grabe. Seine Mutter! Wie seltsam weich sein Herz gegen sich selbst und gegen alle Menschen geworden war. Und Ruth! An nichts konnte er ohne Zärtlichkeit denken. Und Naomi! Ach, die Sonne war schon seit zwei Stunden untergegangen, und Naomi wartete gewiß daheim auf ihn, denn sie lebte ja nur in seiner Gegenwart. Was sollte einmal aus ihr werden, wenn er ihr genommen würde? Dieser Gedanke legte sich ihm wie eine kalte Hand aufs Herz. Seine Gestalt krümmte sich darunter, er stützte sich schwer auf seinen Stab, sein Kopf sank auf seine Brust, und sein Schritt wurde schleppend.

So gelangte der alte Löwe auf den Marktplatz, wo seine Stammgenossen sich zusammengeschart hatten, um ihn wie Wölfe zu zerreißen. Furchtlos kam er herbei, er sah nichts, er hörte nichts, und in der Stille der ersten Überraschung bei seinem Anblick, hallten seine Fußtritte auf den Pflastersteinen wieder.

Naomi hörte sie.

Da fiel – so kam es Naomi vor – eine Stimme aus der Luft und sprach: »Gott hat ihn in unsre Hände gegeben!« Danach schienen ihr alle Laute dahin zu schwinden und nur gedämpft und erstickt wie aus weiter Ferne bis zu ihr zu dringen.

Aber mit lautem Gebrüll, das wie ein Schrei aus einer einzigen großen Kehle klang, umringte der Haufe jetzt Israel und schrie: »Schlagt ihn tot!« Israel blieb stehen und hob sein schwermütiges Antlitz zu dem Pöbel auf; doch er schrie nicht, auch machte er keinen Versuch, sich zu retten. Er stand aufrecht und schweigend in ihrer Mitte, fest und markig. Seine kühne Haltung aber vermochte nichts über ihre Wut. Sie fielen über ihn her mit hundert Händen zugleich. Einer schlug ihm ins Gesicht, ein andrer riß ihn an seinem langen grauen Haar, und ein dritter stieß ihn auf die Kniee nieder.

Niemand aber hatte noch am äußeren Rande des Haufens das schlanke, blasse Mädchen bemerkt, die dort stand – blind, stumm, ohnmächtig, zart und so hold und so schön wie verloren am Ufer einer brausenden See. Häßlich und entsetzlich stellte sich Naomis halbverschlossenem Sinne alles vor, was sich um sie her begab. Ihr Vater war da! Sie wollten ihn in Stücke reißen!

Plötzlich war sie von der Seite der beiden schwarzen Frauen verschwunden. Wie ein Lichtstrahl war sie durch die belfernde Meute geglitten. Jetzt warf sie sich zwischen die Mörder und ihren Vater, der am Boden lag. Über ihm stehend streckte sie beide Arme gen Himmel, und in diesem Augenblick löste Gott das Band ihrer Zunge, und sie rief laut: »Gnade! Gnade!«

Da wichen alle in großer Angst zurück. Die Stumme hatte gesprochen. Keiner wagte es mehr, Israel anzurühren. Die gegen ihn erhobenen Hände sanken unthätig zurück, und ein weiter freier Kreis bildete sich um ihn. Mitten inne stand Naomi. Ihr blindes Antlitz zuckte; es schien Licht von ihr auszugehen, wie von einem seligen Geiste. Und einem Geiste gleich, als ob sie mit Gottes Stimme spräche – hatte sie das Volk von seiner Blutthat zurückgetrieben, sie, die Blinde, die Schwache, die Hilflose.

Israel stand auf, denn niemand rührte ihn weiter an, und der Zug der Richter, welcher eben erschien, schwieg auch. Da erkannte er, wie in der Stunde der größten Not seiner Tochter die Gabe der Rede geschenkt worden war, und sein Herz schwoll ihm in der Brust. Er versuchte über seine Feinde zu triumphieren und ihnen zuzurufen: »Ihr dachtet, Gottes Hand sei wider mich, aber schauet nun, wie Gott mich aus euren Händen errettet hat!«

Aber er vermochte nicht zu sprechen. Der stumme Geist, der seine Tochter verlassen hatte, schien auf ihn gefallen zu sein.

In diesem Augenblick wandte sich Naomi zu ihm, und sagte: »Vater!«

Da quoll Israels Herz vor Wonne über. Aber seine Kehle war ihm wie zugeschnürt. Er nahm sie schweigend bei der Hand, und durch ein langes, vom Volke gebildetes Spalier gingen sie durch das Mellahthor heim in ihr Haus. Naomis Lider waren gesenkt, und große Tropfen quollen unter den Wimpern hervor; aber Israels Antlitz war emporgerichtet, und seine Thränen rannen, untermischt mit seinem Blute, über seine Wangen.


 << zurück weiter >>