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XIV. Israel in Schawan.

Seitdem er den jungen Mahdi von Mekines verlassen, hatte Israel die Vorschriften, die er von ihm erhalten, strenge befolgt. Wenn er seine bisherige Handlungsweise und seine jetzige Lage überschaute, mußte er zugestehen, daß er in den ersten Jahren durch seine Herzenshärtigkeit und in den letzten durch schnöde Unterwerfung unter Katrinas Willen namenlosen Jammer über das Land gebracht habe. So beschloß er denn keine Kosten zu scheuen, um wiederzuerstatten, was er ungerechter Weise erpreßt hatte. Dem, welcher in der Abschätzung das Doppelte gezahlt hatte, gab er das Doppelte zurück – einmal für die Steuer und einmal für den Wucherzins; und wenn jemand, der für den Tribut an den Kaid ungerecht besteuert, seinen Grund und Boden um seiner Schuld willen verpfändet hatte, dann in die Kasbah geworfen und gestorben war, ohne sie einzulösen, ersetzte er es den Kindern vierfältig – zweimal für die Ländereien und zweimal für den Tod. Damit fuhr er beständig fort, ohne Ben Abu etwas davon zu sagen; vielmehr bestritt er alle Unkosten aus seiner eignen Kasse, so daß er im Verlauf eines Monats aus einem reichen Manne ein armer geworden war, denn was ist das Vermögen eines einzelnen, wie groß es auch sei, unter so viele? Dennoch gewann ihm das keine wohlwollende Anerkennung, sondern nur Mitleid und Verachtung, denn die Leute, die sein Geld nahmen, dankten dem Kaid dafür, der nach ihren Vermutungen ihm befohlen hatte, wieder gut zu machen, was er unrecht gethan. Und Ben Abu gegenüber erging es ihm nicht besser, denn der Pascha ergrimmte, als er von Katrina hörte, daß Israel das schöne Geld aus Mitleid mit den Armen weggeworfen hätte.

»Hab ich dir's nicht schon hundertmal gesagt?« hetzte das Weib, »der Mensch hat das Geld haufenweise!«

» Mein Geld! Daß sein Großvater verbrennen möge!« wütete Ben Abu.

So war Israel denn auf beiden Seiten in dem Urteil der Welt gesunken. Als er seine Hand von dem Pfluge zog, mit dem er dem Teufel in die Hände gearbeitet, hatte er sich viele neue Feinde gemacht, und die er vorher gehabt, hatte er dadurch nur mächtiger gemacht. Die Leute, welche ihm Lippendienst erwiesen, solange sie ihn für reich hielten, verbargen ihre Freude nicht, als er jetzt beinahe an den Bettelstab gekommen war. Emporkömmlinge, die seiner Fürsprache ihre hohe Stellung verdankten, fanden in seiner Großmut einen bequemen Vorwand, frech zu werden, denn indem sie Katrina ihre geheimen Nachrichten von seinem Thun zutrugen, brachten sie endlich die Dinge zwischen ihm und dem Kaid soweit, daß ihm Ben Abu seine Schwäche offen vorrückte, nicht ein oder zwei, sondern viele Male.

»Was muß ich hören von deiner großartigen Wohlthätigkeit, Meister Israel?« fuhr ihn Ben Abu an. »Mache nur kein so erstauntes Gesicht. Es gibt Spatzen genug, die auf den Dächern zwitschern von solchen Narreteien. Du wirfst also dein Silber hin, wie man den Hunden Knochen zuwirft! Schade, daß du zu viel davon hast, Israel ben Oliel; schade, sage ich, daß du zu viel davon hast!«

»Die Leute sind arm, Herr Pascha,« sagte Israel, »sie sind am Verhungern und haben keine andere Zuflucht, als bei Gott und bei uns.«

»Pah!« rief Ben Abu. »Eine Hungersnot in meinem Paschalik! Das soll sich niemand unterstehen zu sagen. Die winselnden Hunde profitieren von deiner Einfalt, Muhme Israel, du arme alte Großmutter! Ich hatte immer schon den Verdacht,« fügte er zu seinem Gefolge gewendet hinzu, »daß mein Diener ein Weib sei. Jetzt weiß ich es gewiß.«

Israel war nicht unempfindlich gegen diese Beleidigung. Er hatte seine Mannhaftigkeit wohl bewährt, indem er fünfundzwanzig Jahre lang als Ben Abus Sündenbock seinem Volk gegenüber gestanden hatte; dazu hatte er den Pascha reich gemacht durch seine Erpressungen, hatte ihn auf seinem Posten erhalten und ihn vor dem hölzernen Dschellab Ein enger hölzerner Kasten, der inwendig die Spitzen von scharfen Nägeln zeigt und in welchem der Eingesperrte nur gebückt sitzen kann; eine Marter, die meist mit dem Tode endet. gerettet, welchen der Sultan Abderrahman für Kaids, die nicht bezahlen konnten, bereit hielt. Aber Israel bemeisterte seinen Zorn und antwortete nichts.

Nun flog das Gerücht durch die Stadt, daß Israel die Gunst des Pascha verloren habe, und einige der Kühneren lachten ihn aus, wenn sie sahen, wie er auf der Straße das Elend der Armen linderte, weil er sich vor Gott für ihre Leiden verantwortlich hielt. Er war so stark, daß er die kräftigsten seiner Beleidiger in seinen sehnigen Armen hätte zermalmen können, aber er war langmütigen Sinnes und langsam zum Zorn. Ihre Beschimpfungen hatten nur die eine Wirkung, daß er fortan sein Liebeswerk mit größerer Heimlichkeit auszuführen suchte. Deshalb holte er nun seinen maurischen Dschellab hervor, da er sich erinnerte, wie wirksam ihn derselbe in der Nacht seiner Heimkehr unkenntlich gemacht hatte. Wenn es zu dunkeln begann, warf er das schäbige Kleidungsstück über, zog die Kapuze tief über seine schwarze jüdische Kappe, und, so weit es anging, über sein Gesicht. In dieser unschuldigen Verkleidung ging er Nacht für Nacht zu den ärmsten Mauren, welche in den elenden Quartieren des Kornmarktes nahe dem Bab Ramuhß wohnten. Es würde zu weit führen, wollte ich erzählen, wie er sich dort benahm, durch welche harmlose Täuschungen er verstohlenerweise seine Seele entlastete, welche unschuldigen Vorwände er gebrauchte, um den Armen das ihnen ausgepreßte Geld wieder zu erstatten.

»Wer bist du?« wurde er wohl hundertmal gefragt.

»Ein Freund,« erwiderte er.

»Wer hat dir von unsrer Not erzählt?«

»Allah hat Engel,« gab er dann wohl zurück.

Oft hörte er auf seinen nächtlichen Wanderungen, wie man ihn, den Unerkannten, verunglimpfte; oft sah er, wie schon die Straßenkinder bei der Erwähnung seines Namens über die Finger spieen. Und je zuweilen, wenn er vorüberging, hörte er die Blinden einander zuflüstern: »Dies ist ein Heiliger. Er kommt mit Anbruch der Nacht aus dem Kabar Das Grab.. Allah schickt ihn, um den Armen zu helfen, die in den Klauen des Juden Israel gewesen sind.«

Demungeachtet bewahrte Israel sein Geheimnis. Was konnte ihm Menschenwort zum Guten oder Bösen nutzen? Es wog leichter denn nichts am letzten Ende. Thue Recht und fordre nichts dafür; weder Lob, denn das ist ein launenhafter Wind, noch Dankbarkeit, denn die gebührt den Engeln.

Eines Tages, etwa einen Monat nach seiner Heimkehr, erhielt er die Nachricht, daß die Anhänger Absalams in ihrem Gefängnis zu Schawan dem Verhungern nahe waren. Bis jetzt hatten ihre Verwandten in Tetuan ihnen Nahrung zugetragen, aber die Heuschreckenplage war auch über sie gekommen, und bald hatten sie selbst nichts mehr zu senden. Israel folgerte daraus, daß es seine Pflicht sei, ihnen zu helfen. Aus einer gerechten Auffassung seiner Verantwortlichkeit war eine überspannte geworden. Er meinte allen Ernstes, daß, wenn im jüngsten Gericht das Blut der Anhänger Absalams wider ihn zu Gott schriee, er selbst und nicht Ben Abu dafür in die Hölle geworfen werden würde.

Israel beriet sich nicht lange mit Fleisch und Blut, sondern begann ungesäumt, sich seine Lage klar zu machen. Da erkannte er denn zu seinem Entsetzen, daß, so wenig er auch zu besitzen gemeint, ihm doch noch weniger aus dem Schiffbruch seines Reichtums übrig geblieben war. Nur eins besaß er noch, aber dies eine war seinem Herzen so teuer, daß er nie daran gedacht hätte, sich davon zu trennen. Es war das Schmuckkästchen mit den Juwelen seiner Frau. Nichtsdestoweniger beschloß er jetzt in seiner äußersten Not es zu verkaufen. Sofort nahm er den Schlüssel und ging hinauf in das Zimmer, wo er es aufbewahrte – ein Raum, ganz den Reliquien derjenigen geweiht, die für immer in seinem Herzen, aber nicht mehr in seinem Hause wohnte.

Naomi ging mit ihm nach oben, und als er das Siegel über dem Thürpfosten erbrochen hatte und die kleine Thür in ihren Angeln knarrend sich öffnete, drang ihnen ein Modergeruch aus der lange verschlossenen Kammer entgegen. Es war gerade, als wäre die begrabene Luft selbst gestorben und zu Staub geworden, denn der Staub vieler Jahre ruhte auf allem. Aber unter seinem grauen Mantel hervor schimmerten weiche Seidenstoffe, und zarte Tücher, gazeartige Haiks Weiter, togaartiger Überwurf von besonders leichtem durchsichtigen Baumwollstoffe. und Schleier, gestickte Schärpen und leichte rote Pantöffelchen und vielerlei zierliche Dinge, wie Frauen sie lieben. Und ihm, der nach zehn traurigen Jahren wieder hier eintrat, kamen sie vor wie ein Traum von ihr, die alles das getragen hatte, als sie jung und schön war und die jetzt im Grabe lag.

»Ach Gott! Ruth! Meine Ruth!« murmelte er. »Dies war ihr Shawl. Ich brachte ihn ihr aus Weßan mit ... Und diese Pantoffeln – sie kamen aus Rabat. Armes Kind! armes Kind! ... Auch diese Schärpe, sie war einst gelb und weiß. Ich weiß noch genau, wie sie sie zum ersten Male trug! Sie hatte sie sich wie eine Kapuze um den Kopf gewickelt, und that, als sei sie eine maurische Frau. Aber ihre braunen Locken kamen doch vor und fielen ihr ins Gesicht, sie konnte sie nicht einfangen. Und dann lachte sie. Mein armes, süßes Lieb! Wie glücklich waren wir doch damals trotz alledem! Es kommt mir vor, als sei es gestern gewesen. Wenn ich denke – nein, nein ich darf nicht mehr daran denken, ich darf nicht mehr daran denken!«

Israel hatte nicht den Mut, sich diesen Erinnerungen zu überlassen; deshalb wandte er sich schnell zu dem an der Wand stehenden Schmuckkästchen. Mit zitternden Händen nahm er es herunter und öffnete es. Darin lagen Hals- und Armbänder, Ringe und Ohrringe, die unter ihrer Staubdecke von Gold und Rubinen erglänzten. Mit zitternden Händen hob er eins nach dem andern auf und betrachtete es, bis ihm die Augen übergingen.

»Nicht für mich,« murmelte er, »nicht für mich würde ich sie je verkauft haben, nicht um meinen Hunger zu stillen, nicht um meinen Durst zu löschen; nein, nicht um ungezählte Welten!«

Diese ganze Zeit hatte er Naomi, die neben ihm stand, kaum beachtet. Sie aber betastete in ihrer Dunkelheit und Stummheit leise die Seidenkleider und machte dazu ein ernsthaftes Gesicht, dann die Pantoffeln und sah dabei ganz verblüfft aus, und jetzt beim leisen Klirren der Kleinodien streckte sie die Hand aus und nahm eines davon ihrem Vater aus der Hand, befühlte es, und da sie merkte, daß es ein Halsband war, legte sie es um ihren Hals und lachte.

Beim Ton dieses Lachens erbebte Israel wie ein Rohr. Es rief ihm den Tag in die Erinnerung zurück, als sie mit demselben Halsband und denselben Zieraten geschmückt vor ihrer sterbenden Mutter tanzte. Weiter wagte Israel den Gedanken über diesen Gegenstand nicht nachzuhängen, um nicht in seinem Entschluß wankend zu werden; so nahm er denn schnell den Schmuck von Naomis Halse, legte ihn in das Kästchen und ging eilends damit zu dem Manne, dem er die Sachen zum Verkauf anbieten wollte.

Dies war kein andrer als Ruben Maliki, der Armenpfleger der Juden; denn er war nicht nur Wucherer, er war auch Goldschmied, und hatte einen Laden am Sôk el Fôki. Israel wurde durch zwei Umstände bewogen, zu diesem Manne zu gehen, von denen ihm jeder als ein ausreichender Grund für seine Wahl erschien – erstlich hatte er die Schmucksachen damals von Ruben gekauft, und außerdem hatte Ruben sie seitdem unablässig in Tetuan als unschätzbar gerühmt und geprahlt, sie überträfen die Edelsteine aus Mohrenland und das Gold aus Ophir.

Als aber Israel jetzt mit dem Kästchen zu ihm kam und es ihm zum Rückkauf anbot, sah er seinen Besucher und dessen Schätze mit gleichgültigen Blicken an, obgleich es seinem habgierigen und rachsüchtigen Herzen inniger wohlthat, daß Israel sich in seiner Not demütigen und diese Juwelen herbringen mußte, als fast jede andere Genugthuung, die ihm hätte geboten werden können.

»Und was bringst du mir denn da?« fragte Ruben gedehnt.

»Ein Juwelenkästchen,« erwiderte Israel und blickte zu Boden.

»Juwelen? hm! was für Juwelen?«

»Die von meiner verstorbenen Frau. Du kennst sie doch, Ruben. Sieh her!«

Israel öffnete das Kästchen.

»So! von deiner Frau? Hm, hm! Ja, mir ist, als hätte ich sie irgendwo gesehen.«

»Hier hast du sie gesehen, Ruben!«

»Hier? – hier, sagst du?«

»Ruben – du selbst hast sie mir ja vor achtzehn Jahren verkauft!«

»Ich hätte sie dir verkauft? Nimmermehr. Ich kann mich nicht darauf besinnen. Gewiß irrst du dich. Ich kann mit solchen Dingern, wie die da, niemals gehandelt haben.«

Ruben hatte das Kästchen in die Hand genommen und warf mit dem Ausdruck tiefster Verachtung die Lippen auf.

Israel beobachtete ihn genau. »Gib sie mir zurück,« sagte er; »ich kann ja wo anders hingehen. Ich habe keine Zeit, mich herumzuzanken.«

Rubens Lippen glätteten sich sofort. »Herumzuzanken? Wer zankt denn, Bruder? Du bist zu ungeduldig, Sidi.«

»Ich habe Eile,« sagte Israel.

»So?«

Ein vieldeutiges Stillschweigen trat ein, und dann bemerkte Ruben kalt: »Die Sächelchen sind ja in ihrer Art ganz leidlich. Was willst du, daß ich mit ihnen thun soll?«

»Sie kaufen,« versetzte Israel.

»Sie kaufen

»Jawohl!«

»Aber ich brauche sie ja nicht.«

»Haben sie nicht Geldeswert? – das brauchst du wohl auch nicht?«

»Hm!«

Ein Schimmer höhnischer Bosheit überflog Rubens Gesicht, als er sich anschickte, den Inhalt des Kästchens zu untersuchen. Eins der Kleinodien nach dem andern nahm er heraus und spielte damit, den kostbaren Onyx, den Saphir, den Bergkrystall, Korallen, Perlen, Rubinen, Topase; zuerst schob er sie von sich, dann zog er sie wieder zurück. Als Israel seine Schätze von Rubens behaarten Fingern so geringschätzig behandelt sah, die teuren Schmucksachen, welche einst sich um das weiche Armgelenk seiner Ruth und um ihren weißen Hals geschmiegt hatten, da konnte er kaum seiner Hand wehren, daß sie sie ihm nicht entriß. Aber wie kann der Arme gegen den Reichen aufkommen? Israel legte seine zuckenden Hände auf dem Rücken zusammen und dachte an Naomi, und an die armen Anhänger Absalams, und als ihm Ruben endlich für den ganzen Schmuck die Hälfte dessen bot, was er einst dafür bezahlt hatte, nahm er still das Geld und ging seines Weges.

»Fünfhundert Thaler – mehr kann ich nicht geben,« hatte Ruben gesagt.

»Fünfhundert – sagst du – fünf?«

»Fünf – nimm sie, oder laß es bleiben, wie du willst!«

Es war Markttag, und der Marktplatz, über den Israel nach Hause ging, war voll geschäftigen, lauten Lebens. Die Fruchthändler hockten mit untergeschlagenen Beinen in ihren engen Holzkisten, deren halber Deckel zum Schutz gegen die Sonne aufgeschlagen, während die andere Hälfte heruntergeklappt war und als Ladentisch diente, auf dem Rosinen, Feigen, Melonen und Datteln lagen. Auf dem ungepflasterten Erdboden kauerten die Bäcker in unregelmäßigen Reihen. Es waren Frauen in ungeheuerlichen Strohhüten fast vermummt, zu deren Füßen auf Rohrmatten große runde Brotkuchen zum Verkauf auslagen. Unter Laubhütten von trocknen Blättern, – die Wüstengräbern gleich aus aufrecht stehenden Pfählen und kreuzweis darüber gelegten trocknen Zweigen hergestellt waren – lagen die Schlächter bequem hingestreckt und schnellten die Fliegen von ihrem mißfarbigen Fleische fort. »Kauft! Kauft! Kauft!« schrieen sie alle gleichzeitig. Ein dichter Haufe armer Leute in zerrissenen Dschellabs und schmutzigen Turbanen wand sich zwischen ihnen durch, feilschend und kaufend. Esel und Maultiere quetschten sich zwischen hinein unter den Zurufen: »Arrah! Arrah!« und »Balak! Balak!« In alle diese Geschäftigkeit und Unruhe tönten Flüche und Verwünschungen von allen Seiten hinein.

Dazu gab es auch überreichliches Lügen und Betrügen, beides mit feinem, halb unbewußtem Humor betrieben. In einer Bude, worin Zucker in Hüten und Säcken verkauft wurde, saß ein Mann, der einen Rosenkranz durch die Finger laufen ließ und Bußgebete murmelte. »Gott vergib mir!« brummte er vor sich hin, » Gott vergib mir!« » Gott vergib mir!« und bei jeder Wiederholung rann ein Kügelchen hinab. Ein Kunde tritt herzu, berührt einen Zuckerhut und fragt: »Wie viel?« Der Kaufmann fährt in seinem Beten fort und besorgt in einem Atem sein Geschäft. (» Gott vergib mir!«) Wie viel? (» Gott vergib mir!«) Vier Pesetas (» Gott vergib mir!«), und weiter gleitet der ruhelose Rosenkranz. »Zuviel«, entgegnet der Kunde, »ich will dir drei geben –« Der Kaufmann betet weiter und antwortet zwischendurch: »( Gott vergib mir) die nehm' ich nicht für soviel, als in einen hohlen Zahn geht! ( Gott vergib mir!) habe selbst vier gegeben! ( Gott vergib mir!)« »Dann behalte es doch, du altes Leckermaul!« sagt der Käufer und wendet sich zum Gehen. »Hier! nimm es umsonst ( Gott vergib mir!) Ich schenke es weg ( Gott vergib mir!) Ich muß verhungern, aber das macht nichts! ( Gott vergib mir!) du bist mein Bruder ( Gott vergib mir! Gott vergib mir! Gott vergib mir!)«

Israel kaufte Brot und Fleisch, Rosinen und Feigen für die Gefangenen in ausreichender Menge für viele Wochen. Dann mietete er auf zwei Tage sechs Maultiere mit großen Körben, um die Lebensmittel nach Schawan zu tragen, und einen Mann als Treiber, dazu für sich und Ali je einen Maulesel, denn er verhehlte sich nicht, daß, wenn die Anhänger Absalams nicht unter seinen eignen Augen das, was er für sie gekauft hatte, empfingen, dasselbe bei dieser Notzeit niemals in ihre Hände gelangen würde. Da nun alles zu seiner kurzen Reise bereit war, machte er sich gleich mitten am Tage auf, als die Sonne am höchsten stand, weil er hoffte, daß die Stadt dann Siesta halten würde, während der er unbeachtet bleiben konnte.

Seine Vermutung wurde insofern bestätigt, als der Marktplatz, als er ihn wieder betrat, totenstill und öde war. Aber als er in die Mauergasse einbog, dem Bab Tut, dem Thore, das auf die Straße nach Schawan sich öffnet, zu, stieß er auf eine große Menschenmenge und einen merkwürdigen Aufzug. Es war eine Buß- und Betprozession, welche Gott anflehen sollte, die Heuschreckenplage, welche das Land verwüstete und die Nahrung seiner Kinder auffraß, hinwegzunehmen. Ein ehrwürdiger Jude mit langem weißen Bart und ein hochgewachsener, in die Falten seines schneeweißen Gewandes gehüllter Maure schritten nebeneinander voran. Es waren der oberste Rabbiner der Juden und der Imán der Muselmänner, und hinter ihnen kamen Juden und Mauren paarweise in der brennenden Sonne. Alle waren barfuß, die Berber unter ihnen auch barhaupt.

»Im Namen Allahs, des Mitleidigen und Barmherzigen!« rief der Imán, und die Moslem riefen es ihm nach.

»Beim Gotte Jakobs!« betete der Rabbiner, und die Juden wiederholten seine Worte.

»Schone uns, schone das Land!« schrieen sie alle zusammen. »Sende Regen, daß er die Heuschreckeneier zerstöre!« rief der Rabbi. »Sonst wachsen sie im Sonnenschein aus der Erde wie Reiskörner auf der Tenne, und weder Feuer, noch Wasser, noch die Heere des Sultans werden ihnen Einhalt thun; und wir selbst müssen sterben und unsre Kinder mit uns!«

Und die Juden riefen: »Herr, du Gott Jakobs, sei unser Hort!«

Und die Muselmänner schrieen: »Allah, errette uns!«

Es war ein seltsamer Anblick in diesem Lande der Unduldsamkeit – der hochmütige Maure und der verachtete Jude schritten betend nebeneinander durch die öffentlichen Straßen; alle kleinlichen Gehässigkeiten zwischen ihnen waren versunken und vergessen angesichts des Todes, der beiden gleicherweise drohte.

Israel drückte sich dicht an die Häuser und kam unbemerkt vorbei. Als er draußen vor der Stadt die offene Straße gewonnen hatte, prüfte er ernstlich die Beweggründe, die ihn noch einmal aus seinem Hause getrieben hatten. Und nun erkannte er, daß, wenn er nicht ein Heuchler sein wollte, wie Ruben, er sich mit seinem Thun nicht brüsten durfte, und wenn er, der einst Reiche, jetzt arm war, er sich kein Verdienst daraus machen konnte.

»Naomi, Naomi, alles für sie, alles für sie!« dachte er. Naomi war seine Hoffnung und sein Heil. Sein Glaube an Gott erwuchs aus seiner Liebe zu seinem Kinde. Er wollte Gott nur bestechen, damit er ihr gnädig sei. Auch das wurde ihm ganz klar auf dem Wege zu dem Gefängnis mit den sechs brotbeladenen Mauleseln für die dort Schmachtenden: die ihnen zugedachte Barmherzigkeit war eigentlich nur eine, die er sich selbst erwies, obgleich er sie ihnen durch seine Mitschuld an ihrem Elende schuldig zu sein glaubte. Je näher er deshalb seinem Ziele kam, desto tiefer sank sein Haupt auf seine Brust, als habe selbst die Sonne, die so glühend auf seinen Schädel niederprallte, Augen und könne scharf in seine trugvolle Seele hineinschauen.

Die Stadt Schawan liegt etwa sechszehn Wegstunden südlich von Tetuan in der nördlichen Hälfte des von dem Stamm der Akhmas bewohnten Landstriches. Die Sonne war bereits seit zwei Stunden untergegangen, als Israel das schöne Thal betrat, welches von den beiden Ausläufern des Berges Dschebel Scheschawan umschlossen wird. Als er zwischen den Obst- und Weingärten hindurchschritt, wurde er von einigen Juden, Gerbern und Korbflechtern, erkannt, die in den Tagen seines strengen Regiments sich vor seinen schweren Steuern aus Tetuan geflüchtet hatten.

»Das ist ja Israel ben Oliel,« flüsterte der eine.

»Gott Jakobs, rette uns!« flüsterte ein anderer.

»Er ist uns gefolgt wegen der rückständigen Steuern!«

»Wir müssen fliehen!«

»Zuerst müssen wir aber nach Hause gehen!«

»Dazu ist keine Zeit!«

»Aber Rahel –«

»Sie ist ein Weib.«

»Aber ich muß meinen Sohn warnen – er hat Kinder!«

»Dann bist du verloren. Komm mit!«

Noch bevor er den rohen, alten Steinbau erreichte, der ehemals die Festung gewesen und nun das Gefängnis war, hatten die armen Anhänger Absalams, die darin lagen, gehört, daß er zu ihnen käme. In ihrer sinnverwirrenden Verzweiflung erwarteten sie nichts anderes, als daß sie augenblicklich in Stücke gehauen werden sollten. Männer, Frauen und Kinder, vom Hunger ausgemergelt, mit Schmutz besudelt, einige mit harten, starren, andere mit schwachen und einfältigen Gesichtern, einige mit roten blutunterlaufenen Augen, alle müde und erschöpft von der langen Pein der Kerkerhaft, so liefen sie durcheinander in dem düstern verpesteten Raum, in dem sie zusammengepfercht waren. Dabei vergossen sie Thränen, schlugen an ihre Brust und stießen laute Wehklagen aus. Das waren dieselben unseligen Menschen, die einst so hochgemut am Rande des Abgrundes angesichts der Soldaten ihr Sterbelied gesungen hatten, während sie jetzt um ein armseliges Leben bangten, das sie kaum fristeten, aber an dem sie doch in all ihrem Gram noch hingen.

Vermittelst des Siegels seines Herrn, das er immer bei sich trug, gelangte Israel in den Hof des Gefängnisses. Die Gefangenen, die sich dort auf seinen Befehl versammelten, hörten seinen Schritt, und wie von einem und demselben Drange getrieben, als hätte ein Engel vom Himmel es sie geheißen, fielen sie alle auf die Kniee um die Pforte her, durch die er eintreten mußte, die Männer hinten, die Weiber vorn. Die Mütter hielten ihre Säuglinge hoch empor, damit er diese erst sehen und Erbarmen mit ihnen haben möchte, wenn sein Herz noch des Mitleids fähig wäre.

Da flog die Thür auf, und Israel trat ein, gebeugten Hauptes und mit bloßen Füßen. Die Leute hielten den Atem an vor Erstaunen.

»Steht auf,« sagte er; »ich will euch kein Leid thun! Seht! Hier ist Brot und Fleisch! Nehmt es und Gott gesegne es euch!«

Bei diesen Worten wies er mit zitternder Hand auf Ali und den Eseltreiber, die soeben die Lebensmittel hinter ihm herein trugen.

Als die Ärmsten endlich zu glauben wagten, daß der, in welchem sie ihren Richter erwartet hatten, als ihr Retter gekommen war, da jubelte ihr Herz hoch auf. Der Hunger verging ihnen, und nur die Kinder konnten essen. Einen Augenblick umstanden sie Israel schweigend, und Thränen strömten über ihre abgezehrten Gesichter. Da kostete Israel in ihrer Mitte eine neue Freude in seiner jetzigen Armut, wie sie sein einstiger Reichtum ihm nicht ein einziges Mal gewährt hatte.

Endlich schaute ein alter Muselmann fest in Israels Antlitz und sagte: »Möge der Gott Jakobs auch dich segnen, mein Bruder!«

Da gewannen alle ihre Stimmen wieder, und sie fingen an in ihrer überschwenglichen Erkenntlichkeit ihm zu danken; sie fielen ihm zu Füßen wie vorhin – aber mit wie veränderten Herzen!

»Möge es dir der Vater der Vaterlosen vergelten!«

»Das Kind deines Weibes sei gesegnet!«

»Halt!« rief er; »haltet ein! Ihr wißt nicht, was ihr sagt.«

Mit schmerzvollem Blicke, als hätten ihre Worte ihn tief gekränkt, wandte er sich ab. Sie folgten ihm und drückten seinen Kaftan an ihre Lippen, sie schoben ihre Kinder unter seine Hände, damit er sie segnen möge.

»Nein, nein!« rief er aus; »nein, nein, nein!«

Dann verließ er schnellen Schrittes das Gefängnis und floh aus der Stadt, wie einer, der sich schämen muß.


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