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V. Ruths Begräbnis.

Die Bevölkerung von Tetuan wurde weder durch die Tiefe des Kummers, noch durch die Tiefe des Schattens, der über Israel ruhte, gegen ihn milder gestimmt. Um den Mittag des Tages, der auf Ruths Tod folgte, wußte Israel, daß er allein bleiben würde. Es war in der Mellah gebräuchlich, daß, wenn ein Todesfall angemeldet wurde, der Vorleser in der Synagoge ihn im nächstfolgenden Gottesdienste abkündigte, damit eine Vereinigung von Männern, genannt die »Hebra Kadischa der Kabranim« – die heilige Gesellschaft der Totengräber, unverzüglich Vorbereitungen zum Begräbnis treffen könnte. Das Frühgebet in der Synagoge war um acht Uhr morgens gesprochen, und niemand war bisher dem Hause Israels nahe gekommen. Die Männer der Hebra gingen ihren gewöhnlichen Beschäftigungen nach. Durch öffentliche Abkündigung wußten sie nichts von Ruths Tode. Der Vorleser hatte ihn nicht abgekündigt. Israel dachte mit Bitterkeit daran, daß keine Meldung geschehen war. Trotzdem war die Thatsache in ganz Tetuan bekannt. Kein Wasserträger auf dem Marktplatz, der sie nicht in jedes Haus getragen, in dem er vorsprach, der sie nicht jedem Menschen mitgeteilt hätte, dem er begegnete. Kleine Gruppen müßiger Judenweiber standen stundenlang draußen auf der Straße umher, redeten flüsternd davon und schauten mit leisem Grauen zu den verhängten Fenstern empor. Aber die Synagoge wußte nichts davon. Israel hatte die gewöhnliche Ceremonie verabsäumt, und in dieser Versäumnis lag der Vorteil seiner Feinde. Er mußte sich demütigen und zu ihnen schicken. Bis er das thäte, würden sie ihn allein lassen.

Israel schickte nicht. Niemals hatte er seit Naomis Geburt die Schwelle der Synagoge überschritten. Er wollte das auch jetzt nicht thun. Und doch war er immer noch ein Jude und hing an den jüdischen Gebräuchen, wenn er auch den jüdischen Glauben verloren hatte, und es war Gebrauch bei den Juden, daß ein Leichnam spätestens innerhalb vierundzwanzig Stunden nach eingetretenem Tode begraben werden sollte. Also mußte sogleich etwas geschehen. Es mußte für irgend welche Hilfe gesorgt werden. Was für Hilfe konnte das sein?

Es war nutzlos, an die Muselmänner zu denken. Kein Gläubiger würde sich dazu hergegeben haben, für einen Ungläubigen ein Grab zu graben oder seinen Leichnam zu bestatten. Ebenso vergeblich war es, auf die Juden zu rechnen. Wenn die Synagoge nichts von diesem Begräbnis wußte, so fand der ärmste Jude sicherlich, daß auch er nicht nötig habe, klüger zu sein. Und Christen irgend welchen Bekenntnisses gab es in Tetuan nicht.

Die Galle stieg Israel vom Herzen bis in den Hals. Sollte er mit seinem toten Weibe allein gelassen werden? Wollten seine Feinde sehen, daß er ihr Grab mit seinen eignen Händen aushöhlte? Oder erwarteten sie, er werde mit gesenkter Stirn und gebogenem Knie vor sie treten? So oder so sollten sie sich verrechnet haben! Mochten sie ihn in der fürchterlich grauenvollen Einsamkeit allein lassen, – allein in der Stunde der Trauer, wie sie ihn allein gelassen hatten in der Stunde der Freude, als er sich mit der teuren Seele verlobte, die jetzt dahingegangen war. Aber seinen Mut und seine Energie sollten sie nicht brechen; seine lebendige, geistige Kraft sollten sie nicht zertreten. Nur eins gab es, was sie ihm anthun konnten – sie konnten den letzten Trieb zarten menschlichen Mitempfindens in ihm zum Verdorren bringen. Und das thaten sie jetzt.

Als Israel sich die Sache so zurecht gelegt hatte, sandte er eine Botschaft an den Statthalter nach der Kasbah und erhielt als Antwort sechs Sträflinge, paarweise aneinander gekettet, unter der Aufsicht zweier Soldaten.

Das Begräbnis fand innerhalb der von der jüdischen Sitte vorgeschriebenen vierundzwanzig Stunden statt. Es dämmerte bereits, als die Leiche aus dem Oberzimmer in den Hofraum hinabgetragen wurde. Da stand der Sarg auf einer Bahre, welche aus aneinander geschobenen Stühlen hergerichtet war. Da saß auch Israel, mit Naomi und dem kleinen schwarzen Ali an seiner Seite.

Israel erschien äußerlich ganz gefaßt; sein Gesicht war unbeweglich wie ein Felsen, und sein Anzug kostbarer, als man es je an ihm in Tetuan gesehen hatte. Alles was das Begräbnis betraf, hatte er selbst bis auf die geringste Einzelheit und im vornehmsten Stile besorgt. Er war jetzt ein reicher Mann und legte auf seinen Reichtum nur deshalb Wert, weil er ihm die Mittel bot, das Schicksal, das ihn zuerst niedergeworfen, zu unterjochen, und die Feinde, die ihn noch bedrohten, zu beschämen. Nichts fehlte deshalb, was Geld in Tetuan kaufen konnte, um das Begräbnis zu einer imposanten Feierlichkeit zu machen. Nur eines mangelte ihm – das Gefolge der Leidtragenden – es war nur ein einziger da.

Ungleich ihrem Vater war die kleine Naomi sichtlich erregt. Sie lief ab und zu, zupfte an Israels Kleidern, schien gleichsam in sein Gesicht zu sehen, dann ergriff sie Alis Hand und hielt sie lange fest, als fürchte sie sich. Ob sie wußte, was geschehen sollte? – und wenn sie es wußte, durch welches Organ der Seele oder der Sinne ihr die Kenntnis kam – wer kann das sagen? Gewiß ist, daß sie sich der Gegenwart der vielen Fremden bewußt war, und als die Männer aus der Kasbah die in weißes Linnen fest gewickelte Leiche die Treppe hinabtrugen, und die beiden schwarzen Weiber sich herandrängten, den herabhängenden Saum küßten und darüber wehklagten, riß sie sich von Israel los und stürzte mit einem Schreckensschrei und mit hoch erhobenen weißen Ärmchen dazwischen. Was aber auch ihr Impuls sein mochte, es war nicht nötig, ihm Einhalt zu thun. Sowie sie den kalten Leichnam ihrer Mutter berührt hatte, schlich sie furchtsam zu ihrem Vater zurück.

»Gott erbarme sich meines Vaters! Sieh das an,« flüsterte Fatima.

»Mein Kind, mein armes Kind,« sagte Israel, »so gibt es also nur eins im Leben, das zu dir spricht? Und ist das der Tod? O mein Kind, mein Kind!«

Es war ein seltsamer Zug, welcher sich nun aus dem Hofe hinaus bewegte. Vier der Gefangenen trugen den Sarg auf ihren Schultern, paarweise schreitend, wie es ihre Ketten erlaubten. Es waren hagere, knochendürre Kerle. Der Hunger hatte ihre fahlen Wangen ausgehöhlt, und in der ungesunden Kerkerluft waren ihre Triefaugen tief eingesunken. Ihre Kleider waren schmutzige Lumpen, und tief darüber hin bis unter den Gürtel fiel das reiche dunkelsammetne Leichentuch mit seinen langen Seidenfransen. Voran schritten die beiden anderen Gefangenen, jeder einen hohen Federwedel in der linken Hand, während der rechte Arm, wie auch das rechte Bein gefesselt waren. Zur Rechten und zur Linken gingen die beiden Soldaten, jeder eine brennende Laterne in der Hand, welche schwach und unansehnlich durch das Zwielicht flimmerte, und zuletzt kam Israel selbst, ganz allein. So zogen sie durch die kleine Zahl neugieriger Müßiggänger, welche sich vor der Thür angesammelt hatten, durch die Straßen der Mellah über den Marktplatz, und die schmale Gasse hinauf nach dem Hauptthor der Stadt.

In dem Wesen der Macht liegt etwas, das zur Huldigung zwingt, und das Volk von Tetuan konnte sie Israel nicht versagen. Wo der Zug durch die Stadt ging, machten sie ihm Platz und waren still, bis er vorüber war. Innerhalb des Mellahthores schlachtete ein Schlächter Geflügel und empfing dafür die üblichen Kupfermünzen, aber er hielt in seiner Arbeit inne und trat zurück, als der Zug nahte. Ein blinder Bettler, welcher an der andern Seite des Thores kauerte, sagte Abschnitte aus dem Koran her, und zwei Araber zankten dicht neben ihm über einer Partie Schach, die sie beim Schein eines flackernden Lichtes spielten; aber die Koranrezitation, wie die Flüche verstummten, als der Zug unter dem Thorbogen hervorkam. Auf dem Marktplatz gab ein Taschenspieler einer lachenden Menschenmenge seine Kunststücke zum Besten, und ein Märchenerzähler kreischte zum Klingklang seiner Gimbri; aber die Zuschauer des Taschenspielers zerstreuten sich, als der Zug erschien, und die Gimbri Das Nationalinstrument der Marokkaner, eine zweisaitige Guitarre, die vermittelst kleiner Hölzchen gespielt wird. des Erzählers ward nicht mehr gehört. Das Hämmern in den Gewölben der Waffenschmiede brach ab, und das Schellengeklingel der Wasserträger verstummte. Maultiere, welche Holz vom Lande herein brachten, wurden aus dem Wege geschleppt, und die Stadtesel mit ihren Körben voll Straßenschmutz wurden längs der Mauer aufgereiht.

Vom Marktplatz und aus den Läden, aus den Häusern, sogar aus der Moschee, kamen die Leute in Scharen und bildeten eine lange dichte Reihe auf beiden Seiten des Weges, den der Zug einschlagen mußte. Und durch dieses Spalier von Schaulustigen bewegte sich die sonderbare Gesellschaft dahin – voran die beiden Gefangenen mit den nickenden Federwedeln, dahinter die vier anderen, welche die Bahre trugen, daneben die beiden Soldaten mit den Laternen, und zuletzt Israel ganz allein. So groß war die Stille, daß man nichts hörte als den dumpfen Tritt der sechs Männer und das Klirren ihrer Ketten. Das Licht der Laternen fiel auf die Gesichter der Sträflinge, und jedermann erkannte sofort, was sie waren. Es beleuchtete auch Israels Gesicht, aber er zuckte und wankte nicht. Das Haupt hochgetragen, blickte er weder zur Rechten noch zur Linken, sondern schritt fest und ruhig dahin.

Der jüdische Begräbnisplatz lag außerhalb der Stadtmauern, und ehe ihn der Zug erreicht hatte, war es ganz finster geworden. Die flachen weißen Grabsteine, alle nach Jerusalem gewendet, lagen im Dunkel, wie eine im Grase schlummernde Schafherde. Kein Thorweg führte hinein, sondern nur eine Öffnung in der Umzäunung, und diese bestand aus einer Hecke von Banianen und Aloebüschen.

Israel hatte für Ruth ein Grab neben dem des alten Rabbi, ihres Vaters, graben lassen. Er hatte niemand deshalb um Erlaubnis gefragt, aber wenn auch keiner ihm bei diesem Geschäfte geholfen hatte, so hatte doch auch keiner gewagt, ihn zu hindern. Und als der Sarg neben der Gruft niedergesetzt worden war, da vergaß und verabsäumte Israel keine einzige der gebotenen Ceremonien. Er sprach den Kaddesch und machte einen Einschnitt in seinen Kaftan; er nahm von seiner Brust den kleinen Linnenbeutel mit weißer Erde aus dem gelobten Lande und legte ihn unter das Haupt seiner Frau; dann nahm er ein Vorlegeschloß, drehte den Schlüssel um und warf ihn weit weg. Zuletzt, nachdem die Leiche aus dem Sarge genommen und in ihre stille Behausung gesenkt war, sprang er ihr nach und bat einen der Soldaten um seine Laterne. Dort unten kniete er zu Füßen seines toten Weibes nieder und umfaßte sie mit beiden Händen; dann, indem er auf sie herabschaute, wie sie dalag in dem Schleier, welchen sie in der Synagoge zu tragen pflegte, sprach er zu ihr, als könne sie ihn hören, mit klarer fester Stimme diese Worte:

»Ruth, mein Weib, meine Geliebteste, das grausame Leid, das ich dir einst anthat, als ich zuließ, daß du mich zum Manne nahmst, – mich, einen von seinem Volke geächteten Mann, das vergib mir jetzt, meine Geliebte, und bitte Gott, es mir auch zu vergeben.«

Seltsames Schauspiel! Der dunkle Friedhof, die sechs Gefangenen in ihren klirrenden Eisen, die beiden Krieger mit ihren Laternen, das offene Grab und dieser heldenherzige Mann, der darin kniete, um nach der Sitte seines Stammes und seines Glaubens seine letzte Pflicht zu thun an ihr, gegen die er unrecht gehandelt und die er nicht mehr wiedersehen sollte, bis die Auferstehung sie von neuem vereinigen würde. – Der Verkehr auf den Straßen hatte mittlerweile wieder begonnen und in Israels Worte hinein drang das leise Gesumme vieler Stimmen über die dunklen Stadtmauern herüber.

Die sechs Gefangenen kehrten frohen Herzens nach der Kasbah Die Citadelle der Stadt und Wohnung des Statthalters. zurück, denn jeder trug ein Papier bei sich, das ihm am nächsten Tage seine Freiheit zusicherte.

Aber Israel kehrte verfinsterten und verbitterten Gemütes in sein Haus zurück. Als er seine letzte Handvoll Gras gepflückt und es über seine Schulter geworfen hatte mit den Worten: »Sie sollen sprossen in den Städten, wie das Gras in der Erde!« hatte er sich gefragt, was es ihn wohl anginge, ob die Welt bevölkert werde, jetzt, da sie, die ihm die ganze Welt gewesen, tot war. Gott hatte ihn als einsamen Pilger in einer öden Wüstenei zurückgelassen. Seitdem er zum Manne geworden, hatte er nur einen Lichtstrahl menschlicher Liebe genossen, und nun war ihm dieser auf immer genommen.

Als er Naomis gedachte, haderte er von neuem mit Gott. Sie war eine hilflos Ausgestoßene unter den Menschen, ein von jedem menschlichen Verkehr abgesondertes Geschöpf, eine lebendige, aber im Schrein des Leibes verschlossene Seele. War das ein gütiger Gott, der einem solchen Kinde die Mutter genommen hatte – einer solchen Mutter das Kind? Israels Herz war todeswund und seine Seele lästerte. Nicht Gott – der Teufel war es, der die Welt regierte! Nicht die Gerechtigkeit – die Bosheit war es, die in ihr herrschte!

Dergestalt lehnte sich dieser verfemte Mann auf gegen Gott, wenn er an den Verlust des Kindes und an seinen eignen dachte. Nichtsdestoweniger sollte er durch eben dies Kind noch aus den Fallstricken des Teufels gerettet werden, und die Art und Weise, wie diese süße, frisch aus Gottes Hand entsprossene Blume auf sein Herz wirken sollte, um es zu erlösen, war sehr wunderbar, aber auch sehr schön.


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