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Dreiundvierzigstes Kapitel.
Von seinem großen Entschluß

Nachdem der Priester zu atmen aufgehört hatte, erschien mir die Luft in meinem Hause plötzlich öde und leer. Mit großer Scheu erhob ich mich und streckte ihn auf mein Ruhebett aus und bedeckte sein bleiches Gesicht mit einem Tuch. Und dann überdachte ich in aller Stille das wunderbare Ereignis dieser Nacht. Mit erschreckender Gewißheit erkannte ich, daß eine große Last der Verantwortung auf meine Schultern gefallen sei. Ich gedachte der vielen Leute dieser Insel, die diese Krankheit hinweggerafft hatte und sagte mir, daß ich unter allen Menschen der einzige sei, der ihnen Hilfe und Rettung bringen könne. Ich allein, und wer war ich? Der eine verfluchte Mann unter allen Männern; der eine, für immer von aller Gemeinschaft mit den Lebenden abgeschnittene Mensch; der familienlose, freundlose, namenlose Mann unter allen Leuten, dessen Körper kein anderer Mensch mit dem seinen berühren, in dessen Auge kein anderes Auge blicken durfte.

Und mit der Last der Verantwortung kam die noch schwerere Last des Zweifels. Durfte ich dem über mich verhängten, furchtbaren Urteile trotzen und zu den Leuten hinabgehen und sie heilen? Und wenn ich es täte, würden die Leute selbst in dieser ihrer höchsten Not etwas von mir wissen wollen? Würden sie dem Angesicht des Todes gegenüber alle übrige Furcht aus den Augen verlieren, oder würden sie den Fluch mehr fürchten als selbst den Tod und sich wider mich erheben und mich von dannen treiben?

Lange blieb ich, von argen Zweifeln geplagt, auf meinem Platze sitzen, dann erhob ich mich und wanderte, auf einen dieses Dunkel durchdringenden Blitzstrahl hoffend, in meinem Zimmer auf und ab. Und oft verwirrte das wunderbare Ereignis dieses Abends meinen Geist dermaßen, daß ich zu träumen wähnte. Einmal mußte ich das Tuch von dem Gesicht des auf meinem Ruhebett liegenden Toten lüften, um mich zu überzeugen, daß ich wach sei.

Schließlich erkannte ich in meinem Sinn, daß mir, welch ein Fluch auch immer auf mir ruhen und wie groß die Furcht der Leute vor demselben auch immer sein möge, keine Wahl bliebe, und ich die mir auferlegte Bürde tragen müsse. Hinabgehen zu meinen kranken Landsleuten wollte und mußte ich, was auch immer das Resultat sein mochte! Verflucht wie ich war, des toten Priesters Auftrag zu erfüllen sah ich als eine von Gott selbst mir auferlegte Mission an.

Ich kann es mir noch heute kaum erklären, wie es kam, daß ich die mir nächstliegende Pflicht, den in meinem Hause gestorbenen Priester zu einem christlichen Begräbnis nach einem Kirchhof hinabzubringen, so gänzlich übersah. Die Vorsehung muß einen bestimmten Zweck durch diese meine unbegreifliche Vernachlässigung verfolgt haben, denn wenn ich sie mir nicht zuschulden hätte kommen lassen und getan, was das Natürlichste gewesen wäre, würden verschiedene bedeutungsvolle Folgen des Segens Gottes, der ihnen zuteil wurde, verlustig gegangen sein.

Was ich, ohne mir irgend etwas dabei zu denken, tat, war, daß ich meinen Spaten ergriff, nach dem Moor hinausging und ein flaches Grab für den Toten grub. Als ich mich der Türe zuwandte, stolperte ich über einen am Boden liegenden Gegenstand und fand, als ich mich hinabbeugte, daß es die arme Seemöwe war, die tot und steif mit wie zum Fliegen ausgebreiteten Flügeln dalag.

Erst jetzt, als ich geängsteten Blickes aus meinem Hause heraustrat, bemerkte ich, daß der Sturm sich gelegt hatte. Eine schwere Tauwolke, durch die der Mond mit seinem runden Angesicht hindurchschien, lag tief über dem Lande. Ich wählte einen Platz etwas südlich vom Steinzirkel auf der Schwarzen Koppe und schaufelte dort eine gute Karre voll Erde aus. Dies kostete mich den größeren Teil der Nacht, und als mein Werk vollbracht war, ging ich in mein Haus zurück und fand die Leiche schon vollständig erkaltet. Ich nahm ein Stück alten Segeltuches und umwickelte den Toten von Kopf bis zu den Füßen mit demselben, so daß es seine Kleider und sein Gesicht bedeckte. Darauf hob ich ihn auf und trug ihn hinaus.

Hohl und schwer klang der Schall meiner Fußtritte in dem ungewissen Licht auf dem Moor, und während meines beschwerlichen Ganges erinnerte ich mich meines dem Priester gegebenen Versprechens, daß ich meinen Vater aufsuchen und ihm seine Botschaft bringen wollte. Diese Erinnerung rief einen stechenden Schmerz verwundeter Liebe in meinem Herzen wach, der mich jedoch nur in meinem Vorhaben bestärkte. Als ich die von mir gegrabene Gruft erreichte, war es nahe am Morgen, die Tauwolke hatte sich gelüftet, und aus der sich vor mir ausbreitenden, freilich noch unsichtbaren See schoß, wie die Spitze eines Pfeiles, ein grauer Schaft nach dem dunklen Himmel empor.

Einen Blick noch warf ich in dem unsicheren Morgenlicht auf das Antlitz der Leiche, dessen strenge Hagerkeit unter der glättenden Hand des Todes verschwunden zu sein schien.

Dann bedeckte ich den Körper mit Erde und sagte, da es nahe an meiner gewohnten Stunde war, mein Gebet und sang mit der See zugewandtem Gesicht meinen Psalm. Und während ich in der feuchten Morgenluft noch kniend verweilte, erhellte sich der Himmel, und ging aus der Tiefe die Sonne auf.

Ich weiß nicht, was mein Inneres dann berührte, wenn es nicht der Finger Gottes selber war, plötzlich aber schien eine große Last von mir abzufallen, und eine selige Freude mir ins Herz zu ziehen. Und »o Vater,« rief ich, »ich bin erlöst von dem toten Körper, in dem ich gelebt habe! Ich habe gelebt und war gestorben, nun aber lebe ich wieder!«

Ich sah unverkennbar, daß die Nacht meiner langen Gefangenschaft vorüber sei, daß die Türe meines Kerkers sich geöffnet, und ich seine Luft zum letzten Male geatmet hatte.

Tränen stiegen mir in die Augen und flossen meine hageren Wangen hinab, denn ich fühlte, daß ich, sogar ich, in Gottes Augen genug gelitten hätte.

Und wie ich mich von der Grabseite des Toten wieder erhob, wußte ich mit Bestimmtheit, daß der Fluch von mir genommen sei.

 

Seine letzten Worte.

Drei Tage sind vergangen, seitdem ich zum letzten Male meine Hand zum Schreiben erhoben habe, und ich habe erkannt, daß, wenn auch der Fluch von mir genommen ist, ich doch meine irdische Strafe bis zum letzten Tropfen auskosten muß. Tief erschöpft und tief beschämt bin ich seit den letzten drei Stunden dem Gewirre der Menschen entflohen. Wie ihre wilden Rufe: »Gott segne den Priester!« »Der Himmel schütze den Priester!« mir noch in den Ohren gellen, ihre blinden, lärmenden Dankbarkeitsbezeugungen mich verfolgen! O, daß ich der Erinnerung daran entfliehen und sie für immer aus meinem Gedächtnis verbannen könnte! Unter den vielen, die mich nicht erkannten, schienen einige mich wieder zu erkennen. Die tränenüberströmten, die harten, unbeweglichen, die beschämten und verwirrten Gesichter, o, wie sie mir alle vor Augen stehen! Und am Tynwald, wie dort die Kinder mir zugeschoben wurden, daß ich meine Hand ausstrecken und sie segnen möchte! Meinen Segen – meinen! und am Tynwald! Gott sei gedankt, es ist alles vorüber! Ich bin fort von ihnen allen, fort und für immer. Ich bin in meinem Heim, endlich und zum letzten Male.

Über drei Wochen sind vergangen, seit der Priester in meinem Hause starb, und ich ihn auf dem Moor beerdigte. Welche wunderbaren Ereignisse haben sich seitdem zugetragen und in welch einer wunderbaren neuen Welt! Des Deemsters schreckliches Ende, und mein Gang zu meinem Vater, dem Bischof, im Auftrage des Priesters. Ich werde aber nicht lange genug leben, um es alles niederschreiben zu können. Es ist auch nicht nötig, denn diejenige, für die ich diese Zeilen schreibe, weiß alles, was sich zugetragen hat. Alles weiß sie, nur eines nicht. Wenn aber diese Aufzeichnungen in ihre Hände gelangen, wird sie auch das erfahren.

Gottes ewige Gnade sei mit ihr! Ich habe sie nicht gesehen. Den Deemster habe ich gesehen, mit dem Bischof habe ich gesprochen, und ein lebendiges Abbild unseres Ewans, seine leibliche Tochter, habe ich auf meinen Knien gehalten. Aber nicht einmal während dieser vielen Tage haben meine Augen das Angesicht gesehen, das mir das teuerste auf der ganzen Welt ist. Es ist auch besser so. Ich habe sie gemieden. Wo sie sich befand, habe ich mich fern gehalten. Und doch während aller dieser schweren Jahre hat allein ihr Bild mir im Herzen gelebt. Tag und Nacht hat es mich nicht verlassen. O, Mona, Mona, meine Mona, getrennt für immer sind unsere Pfade in dieser traurigen Welt, in der mein befleckter Name dir stets ein Vorwurf sein muß. Meine Geliebte, meine verlorene Geliebte, gleich einem Manne hat es mich verlangt, dich an meiner Brust zu halten. Ich aber war tot für dich, und ich wollte mit keiner irdischen Liebe, die kurz sein und dich vielleicht nicht beglücken würde, mich, dessen Bild der Tod von seinen Flecken gereinigt hatte, in deine Erinnerung drängen. Lebewohl, lebewohl, meine Geliebte, meine einzige Mona, und wenn auch unsere Hände sich nie wieder ineinander legen werden, so weiß ich doch, daß du mir, ob auch ungesehen, nahe sein wirst, wenn – o, wie bald – die Stunde, da der Tod uns scheidet, kommen wird.

Meine Lebenskraft ist am Ende. Ich bin von der Krankheit befallen – vom Deemster bin ich angesteckt worden. Ich fürchte jedoch den Tod nicht mehr. Dennoch aber zögere ich, das auszuführen, was ich beim Nahen des Endes auszuführen mir lange vorgenommen habe. »Morgen,« und »morgen« und »morgen,« sage ich zu mir selber, und noch immer bin ich hier.

(Ende von Daniel Mylreas Erzählung.)


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