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Neununddreißigstes Kapitel.
Von der ihn berührenden Geisterhand

Den ganzen Herbst hindurch folgte ich den Heringen, und obgleich ich in der Wahl meines Gebietes mich hauptsächlich nur von meiner Vermutung leiten ließ, sah ich verschiedene Male das blaue Licht der Heringsflotte dicht neben mir auftauchen und hörte die Stimmen oder das Lachen der Männer über das stille Wasser herüberschallen. Stets aber berührte mich dieser Laut, wie das entschwundene Traumbild eines Freundes, höchst seltsam auf See, und ich zog, sobald ich ihn hörte, meine Segel ein und steuerte dem Sunde zu. Da ich kein Licht an meiner Pinne hatte, segelte ich oft, ohne erkannt zu werden, in Kabellänge an der Flotte vorüber, ein oder zweimal jedoch hörte ich an dem leiser werdenden Ton der Stimmen und dem ersterbenden Lachen auf den Schiffen um mich her, daß mein dunkles Fahrzeug wie ein Unglücksrabe durch die Nacht dahineilend gesehen worden war.

In meiner Kajüte war ich gewohnt, ein Talglicht zu brennen, das ich aus dem Fett der erlegten Vögel und von den auf weichen Stellen des Moores wachsenden Binsen gemacht hatte, und während mein Boot zwischen dem Auswerfen und Aufziehen der Netze unter dem Besanmast trieb, pflegte ich hinab zu gehen und bei dem Hunde, der von der ihm zuteil werdenden Kost ein ganz glänzendes Fell bekommen hatte, zu sitzen. Ich selbst erlangte bis zu einem gewissen Grade in jenen Tagen mein Augenlicht und mein Gehör wieder, denn der Salzatem der See ist dem Menschen zuträglich. Millish veg-veen süßer kleiner Liebling. nannte ich den Hund, und mußte, da er nur ein trübseliger kleiner Wicht war, lachen, wenn ich mir ausmalte, welch eine unrichtige Bezeichnung dieser Name in unserer härteren englischen Sprache sein würde. Denn mein armes Tierchen hatte seine kleinen Laster, die mich öfter darüber nachsinnen ließen, wie es ihm im Leben wohl ergangen sein möchte, und ob er nicht wie sein Tischgenosse irgendwo ausgestoßen worden sei. Nichtsdestoweniger hatte er aber auch seine guten Seiten und war ein sehr aufgewecktes Tier. Ich glaube, wir waren uns gegenseitig Gesellschaft, und wenn er einen lustigeren Kameraden an mir gefunden hätte, würden wir unzweifelhaft viele vergnügte Stunden miteinander verlebt haben.

Wenn der Fischfang meine Gedanken auch viel von meinem eigenen Selbst abzog, so blieben mir in Wirklichkeit doch manche einsame Stunden übrig, während der meine Qual groß und tief war, und die, im Hinblick auf die noch vor mir liegenden Jahre, die bittere Frage in mir erweckten, ob ich als ein von Gottes Barmherzigkeit Ausgestoßener mein so qualvolles Dasein wirklich bis ans Ende würde ausleben können. Auch wurde ich, wenn ich nach meiner nächtlichen Arbeit am Tage in Schlaf versank, viel durch beängstigende Träume gepeinigt, die manchmal die Atmosphäre und den Hauch meiner Knabentage mir mitsamt den teuren Menschen, die sie mit Freude erfüllt hatten, vor die Seele führten, mich manchmal aber auch Fragen gegenüberstellten, die ich in dem Bewußtsein, daß mein Seelenheil von ihnen abhing, vergeblich zu beantworten versuchte. Geängstigt durch den Gedanken, daß der wilde, tierische Geist in mir nur auf die Gelegenheit warte, meinen menschlichen Geist zu töten, überwachte ich ebenfalls die sich mir während der Stunden des Ausruhens und Schlafens nahenden Vorspiegelungen auf das ängstlichste. Eines Tages jedoch fuhr mir ein Ausspruch folgenden Inhalts durch den Sinn: »Es steht dir frei, zu gehen, wohin du nur willst, und wenn es bis ans äußerste Ende der Welt wäre. Geh' also dorthin, wo Menschen sind und bewahre deine Seele, daß sie eine menschliche bleibe.«

Den Sinn dieser Worte zu deuten quälte ich mich lange vergebens, schließlich aber gelangte ich zu der Überzeugung, daß ich dem Gebot folgen, und daß meine Furcht vor einem menschlichen Angesicht nur eine eingebildete sein müsse. Darauf faßte ich den Entschluß, am nächsten Markttage, den ich durch die vielen von der Spitze des Mullberges aus sichtbaren, nach Ruschen-Kirche und Kentrough fahrenden Wagen unter allen übrigen unterscheiden konnte, nach Castletown zu gehen. Dieser Vorsatz kam nie zur Ausführung, denn am selben Tage, als ich ihn gefaßt hatte, traf ein harter Schlag meine Seele und beraubte mich des letzten bißchen Trostes, das mir bis dahin noch geblieben war.

Als ich denselben Abend, weil die Jahreszeit weit vorgeschritten war, und die Heringe östlich von der Insel lagen, bei der Spanischen Spitze die Bucht verließ, bemerkte ich, wie eine Schmacke mit dem Peeler Wahrzeichen auf ihren Segeln die Küken-Felsen des Kalbsundes umsegelte. So machte ich mich also auf und segelte, ohne meine Spitze auf den Wind zu legen, ein gutes Stück auf die See hinaus und warf zwei Meilen von der Küste entfernt meine Netze aus. Da es bedeckte Luft war und ein Nebel zwischen Himmel und Meer hing, herrschte tiefe Finsternis. Bald jedoch sah ich ein blaues Licht nahe meinem Steuerbordbug und vermutete, daß die Schmacke von Peel mir nachgesegelt sei. Wie lange ich an der Stelle liegen blieb, weiß ich nicht, denn ich tat einen guten Fang und achtete nicht auf die Zeit. In kurzen Zwischenpausen jedoch blickte ich mich nach dem blauen Licht um und bemerkte, daß die Schmacke ebenso wie ich es tat, sich treiben ließ, und daß wir uns immer noch in Abrufweite befanden. Der Mond sandte seine weißen Strahlen hinter einer zerrissenen Wolkengruppe hervor, und da das Fischen für die Nacht beendet war – denn kein Hering bringt, wo er nur immer Licht zum Sehen hat, seine Kiemen in Gefahr – ging ich ans Werk, meine Netze einzuziehen. Damit beschäftigt, stieg mir ein Rauchgeruch in die Nase, und zu gleicher Zeit hörte ich laute Stimmen auf der Peeler Schmacke. Beim Aufblicken konnte ich zuerst nichts gewahren, denn obgleich der Mond am Himmel stand, lag der Nebel doch noch auf der See, mit ihm aber schien langsam, denn es war sehr windstill, eine Rauchwolke emporzusteigen. Ich wußte sofort, daß irgend etwas nicht in Ordnung sei, und bald sah ich den Nebel wie einen schwarzen Schleier sich lüften, und den Rauch von ihm sich ablösen und einen roten Flammenblitz von der Peeler Schmacke in die Luft emporschießen. Dann wußte ich, daß das Boot in Flammen stand, und nach zwei Minuten wurde das Schweigen der See durch das laute Zischen des Feuers und das noch lautere Schreien der Männer unterbrochen. Es sah aus, als ob eine Schlange aus dem Innern des Schiffes sich loszuringen und zu befreien versuchte. Lange Feuerzungen schossen aus den Luken, dem Kielraum, den Raakämmen und dem Ofenrohr. Wenige Gedanken nur schenkte ich zu der Zeit allen diesen Dingen, wenn ich sie auch jetzt in der Erinnerung klar vor mir sehe, wie ebenfalls den gewundenen Schweif roten Wassers, der von dem brennenden Schiff aus bis zu meinem Boot her über das dunkle Meer sich zu schlängeln schien. Ehe ich mir meiner Eingebung bewußt wurde, hatte ich den Mast gesetzt, das Segel aufgehißt und meine Hand auf das Steuer gelegt, um den sich in Gefahr Befindlichen Hilfe zu leisten. Plötzlich jedoch erfaßte mich eine große Furcht, und mir war, als ob eine Geisterhand sich mir auf die Schulter legte, und eine Stimme, den herrschenden Lärm übertäubend, mir ins Ohr rief: »Nicht durch dich, nicht durch dich.« Und dann wandte ich in großer Furcht den Bug meines Bootes von dem brennenden Schiffe ab, und während ich dies tat, schien der Griff der Geisterhand sich von meiner Schulter zu lösen, und die mir ins Ohr rufende Stimme zu schweigen.

»Sie werden sich in ihre Kähne hinablassen,« sagte ich zu mir selber. »Ja,« wiederholte ich, während der Angstschweiß mir von der Stirne tropfte, »ja, sie werden sich in ihre Kähne hinablassen und sich retten,« und meinen Kopf zurückwendend, sah ich in der durch das Feuer verursachten Helle, daß über die Verschanzung des Heckes zwei Männer in einen von ihnen niedergelassenen Kahn hinabglitten. In Herzensqual floh ich davon, denn ich glaubte den unversöhnlichen Zorn Gottes darin zu erkennen, daß er mir versagte, meine verfluchte Hand den in Lebensgefahr befindlichen Leuten hilfreich entgegenzustrecken. Kaum hatte ich mich eine Kabelweite entfernt, als ein von einem furchtbaren Fluch begleiteter entsetzlicher Schrei ertönte. Zuerst glaubte ich, der Fluch gelte mir, und daß die mich nicht erkennenden Männer mir, weil ich ihnen keine Hilfe geleistet hatte, ihre Verwünschungen nachriefen. Aus der mich umgebenden und verbergenden Rauchsäule zurückblickend, wurde ich zu meinem Schrecken gewahr, daß die Männer im Kahn, ihre beiden Gefährten auf dem brennenden Schiff zurücklassend, sich davon gemacht hatten.

»Legt höher beim Wind und überholt die verdammten Schurken,« rief die Stimme des einen auf der Schmacke zurückgebliebenen Mannes dem andern zu, und durch die emporlodernden Flammen sah ich das Hauptsegel des Luggers aufschießen und sich füllen und hörte den am Steuer stehenden Mann den beiden sich im kleinen Kahn Befindlichen nachrufen, daß er sie für ihren Verrat geradeswegs zur Hölle jagen würde.

In der Verwirrung des Augenblickes und in dem blendenden Schein des grellen Lichtes legte sich, wie am Tage meiner Verbannung, ein Schleier über meine Augen, und ich mußte die Lider gewaltsam zusammenkneifen, um sie von dem in ihnen aufsteigenden Wasser zu befreien. Dann erst sah ich, welch ein entsetzlicher Vorgang sich eine Kabellänge von meinem Boot abspielte. Zwei Männer von der aus vieren bestehenden Bemannung der Schmacke hatten sich in den Kahn hinabgelassen, und machten sich ohne ihre Gefährten, die versucht hatten, ihr Boot zu retten, davon, und nun dürsteten diese beiden hintergangenen und dem Ertrinken oder Verbrennen preisgegebenen Männer mit ihrer letzten Lebenskraft, und, wie sie glaubten, in ihren letzten Lebensaugenblicken nach tödlicher Rache. Fort flog die Schmacke mit schwellenden Segeln; über ihr und um sie herum zischten die Flammen. Gerade jedoch als sie den kleinen Kahn fast erreicht hatte, holten die beiden in demselben sich befindenden Männer lang mit ihren Rudern aus und kehrten sich der Windseite zu, und die Schmacke schoß an ihnen vorüber.

Ehe dies jedoch geschehen war, und während der Bug der Schmacke an dem Kahn vorüberschoß, hatte auch ich umgelegt und kreuzte hinter dem brennenden Schiffe her, und als die Männer mich hinter dem Rauch hervorkommen sahen, verwandelte sich ihr Fluchen in ein lautes Dankgebet. Sechs Faden entfernt legte ich, in der Erwartung, daß die Männer sich ins Wasser stürzen und zu mir herüberschwimmen würden, bei; nachdem sie meine Gedanken jedoch erraten hatten, rief der eine mir zu, näher zu kommen, da er nicht schwimmen könne. Dichter an die brennende Schmacke konnte ich, aus Furcht, daß mein Boot ebenfalls Feuer fangen und keiner von uns dann gerettet würde, mich nicht heranwagen. Die Verzweiflung, die manche Männer stärkt, hatte aus mir einen Feigling gemacht, und ich litt unter einer beständigen Todesfurcht. So warf ich denn meine Jacke ab, sprang ins Wasser und schwamm an die Schmacke hinan und erkletterte, so gut ich es in dem Rauch und der Hitze konnte, ihre offenen Raakämme. Beide Männer standen in eine wirbelnde Rauchsäule gehüllt auf Deck, ich wußte aber, wo sie sich befanden, und nachdem ich den einen mit mir ins Wasser gezogen hatte, folgte der andere uns nach, und wir erreichten in Sicherheit mein Boot.

Dann, während ich mir mein auf der einen Seite geschwärztes Gesicht abrieb, und die Schiffer begonnen hatten, mir verlegen – wie es Männer ihres Schlages, aus Furcht, zu viel Gefühl zu verraten, zu tun pflegen – zu danken, brachen sie, nachdem sie mein Gesicht vom Schein des Feuers beleuchtet gesehen hatten, plötzlich kurz ab, und denselben Augenblick hatte auch ich zu ihnen hinübergeblickt und sie erkannt. Es waren William Quillasch und Edward Tere, die, vor mir zurückschreckend, sich in den Bug zurückzogen und dort stillschweigend verharrten.

Das Steuer ergreifend, richtete ich unsern Lauf Port-le-Mary zu und landete die Männer, die mir weder einen Blick noch ein Dankeswort gönnten, sondern gesenkten Kopfes ihres Weges gingen. Und als ich wieder durch den Poolrasch, um die Spanische Spitze herumbiegend, meinem Ankerplatz im Sund zusteuerte und das Meer die brennende Schmacke mit einem tiefen, über das stille Wasser tönenden Ächzen verschlingen sah, fuhr der kleine, zu ihr gehörige Kahn auf dem Wege zum Hafen dicht an mir vorüber, und ich erkannte in den am Ruder sitzenden Männern Crenell und Corkell, und auch sie erkannten mich sofort und fuhren in einem weiten Bogen um mich herum. Während dieser ganzen Zeit hatte ich die geisterhafte Hand auf meiner Schulter gefühlt und die fremde Stimme mir ins Ohr rufen hören, und obgleich ich gar nicht den Wunsch hegte, mit irgend einem Menschen zu reden oder von irgend einem Menschen angeredet zu werden, kann ich doch nicht leugnen, daß es mir einen Stich durchs Herz gab, mich wie einen Aussätzigen von allen Menschen geflohen zu sehen.

Viele Tage bedrückte mich diese Erfahrung sehr, so daß ich meinen Vorsatz, zum Markttag nach Castletown zu gehen, wieder aufgab und mich fragte, ob es nicht doch meine Bestimmung sei, mich einsam bis zum Tode durchs Leben zu schleppen. Ich hatte nicht mehr einen so tiefen Abscheu vor mir selber wie früher, sondern bemitleidete mich innerlich. Die Wahrheit ist, mein Herz hegte keine Bitterkeit mehr gegen meine Mitmenschen, wurde aber von der Furcht gequält, daß ich bei einer viel länger ausgedehnten Einsamkeit meinen Verstand und damit meine Manneswürde verlieren und zu einem Tier herabsinken würde. Diese Betrachtungen fielen mir schwer aufs Herz: »Was du erleidest, kommt von Menschen, die dein Verbrechen kennen und sich vor dem auf dir ruhenden Fluch, demgemäß du aus dem großen Lebensbuch ausgelöscht bist, und niemand ohne sich zu versündigen dir ins Angesicht blicken mag, fürchten. Gehe deshalb in ein Land, wo niemand dich kennt, und deine so schwere Last wird dir unverzüglich von den Schultern fallen.« Dieser Gedanke brachte mir Trost, und ich kehrte zu meinem alten Vorsatz, die Insel für immer zu verlassen, zurück. Ehe ich jedoch meinen Plan zur Ausführung bringen konnte, befiel mich ein merkwürdiges, sich folgendermaßen zutragendes Ereignis.

Eines Abends im Spätherbst – denn obgleich meine Uhr erst auf sechs zeigte, war die Sonne doch schon tief herabgesunken – verließ ich meinen alten Ankerplatz zwischen den Klippen von Kitterland mit der Absicht, nie wieder zu ihm zurückzukehren. Es wehte eine frische, nordöstliche Brise innerhalb und außerhalb des Sundes, und ich richtete meinen Schiffsschnabel Irland zu, wohin zu gehen ich mich entschlossen hatte, weil die Leute dort warmherzig und nicht sehr mit irdischen Gütern gesegnet sind. Kurze Zeit nahm das Takelwerk alle meine Gedanken in Anspruch, als ich aber ein gutes Stück südwestlich vom Kalb fort war, ließ der Wind plötzlich nach. Eine Stunde wohl stand ich fast untätig am Steuer und blickte über das grüne Wasser auf die in der Abenddämmerung verschwindenden purpurnen Berge und auf den westlichen Himmel zurück, an dem die roten Strahlen der untergegangenen Sonne noch über der Seelinie weiterglühten, wie der Nachglanz eines edlen Lebens noch eine Weile, nachdem der Mensch dahingegangen ist, fortleuchtet. Und dann sah ich mich mit meinem inneren wie mit meinem äußeren Auge in meinem kleinen Fahrzeug gleich einem ungeselligen Vogel unter weitem Himmel allein auf der einsamen See, und der Mut begann mir zu sinken, und zum erstenmal seit meiner Verbannung mußte ich bei dem Gedanken, meine schöne, heimatliche Insel mit alledem, was mir in glücklicheren Tagen lieb gewesen war, zu verlassen, bitterlich weinen. Wenn sie seitdem mir auch den Rücken gekehrt und meinen Namen aus ihrem Gedächtnis verlöscht hatte, und nichts mehr von mir wissen wollte, so war sie doch meine Heimat, und auf diesem ganzen Planeten – wo immer ich auch hingehen mochte – der einzige Platz, den ich mein eigen nennen durfte. Wie lange diese Stimmung anhielt, kann ich nicht sagen. Zwei Möwen überschatteten oder umkreisten mein Boot, und aus Mangel an anderer Beschäftigung blickte ich, bis das Tageslicht verblichen und wieder ein Tag in eine andere Nacht versunken war, zu ihren weißen, durchsichtigen Flügeln empor. Der Wind erhob sich mit der Dunkelheit, und mutiger als zuvor, kehrte ich mein Schiff der Südspitze von Irland zu und erreichte meinen alten Fischerhafen von Kinsale bei Anbruch des nächsten Tages.

In der milden Sonne des Herbstmorgens schlenderte ich vom Hafen nach dem alten Marktflecken hinauf und fand dort vor der Schenke eine sonderbare Gesellschaft versammelt, deren Mittelpunkt sechs oder sieben arme, schiffbrüchige, barfüßige, halbnackte Männer bildeten, deren eingefallene Wangen von langer Entbehrung und erduldeter Herzensangst sprachen. Mitten in der Nacht waren sie, nachdem sie vor zwölf Tagen Schiffbruch erlitten hatten, auf einem Floß an Land gekommen. Dies alles entnahm ich den Reden der sie umstehenden Leute, ebenfalls, daß sie im Wirtshaus Abendbrot gegessen und übernachtet hätten. Während ich zuschauend dastand, traten aus der Mitte der Gruppe zwei Leute hervor, von denen der eine der Kapitän und der andere der Wirt des Gasthauses war. Und es fiel mir auf, daß der Wirt sehr zuvorkommend gegen seine zerlumpten Gäste sich gebärdete und von einem bereitstehenden Frühstück sprach.

»Erst jedoch geht zum Gemeindeschulzen,« sagte er, sich an den Kapitän wendend, »und erhebt Euren Schiffsprotest, und dann wird er Euch so viel Geld vorstrecken, wie Ihr nur immer verlangt.«

Der Kapitän machte sich unverdrossen und unter der Führung eines zum Gasthaus gehörigen Mannes zum Schulzen auf den Weg. Die schiffbrüchige Mannschaft blieb zurück, und ich blieb ebenfalls, in meiner Neugierde, ob ihrer Not Abhilfe geleistet werden würde, zwischen der sie umgebenden Menge stehen. Und während wir so warteten, wurden die auf einer Bank vor dem Wirtshaus sitzenden Männer von allen Seiten von jenen Harpyien, die die Seeleute mit Kleidung versorgen, bestürmt. Einer kam mit Röcken, der andere mit Guernseys, ein dritter mit Stiefeln aus Ziegen- und ein vierter mit Stiefeln aus Rindsleder, und von diesen Dingen ließen sie jeden Mann sich auswählen, und wenn einer derselben nach dem Preise fragte und versicherte, daß er kein Geld zum Bezahlen habe, baten diese barmherzigen Samariter lächelnd, nicht an Preis und Geld zu denken, bis der Kapitän von der Schatzkammer des Schulzen zurückgekehrt sei. Die Matrosen nahmen alles für bare Münze, und jedermann suchte sich nach Bedarf aus, kleidete sich neu ein und warf lachend seine Fetzen beiseite.

Bald jedoch kehrte der Kapitän mit unheilverkündender Miene zurück, und als seine Leute sich erkundigten, was er ausgerichtet, und ob der Schulze ihm eine Summe vorgeschossen habe, antwortete er mit »nein«, und daß der Schulze gesagt habe, er sei kein Wucherer und verleihe kein Geld. Diese Antwort rief viel Jammern und Fluchen bei der Schiffsbesatzung und erschreckte Blicke unter den Kleiderhändlern hervor; der Wirt aber tröstete sie insgesamt und sagte, es würde schon alles gut werden, wenn sie nur den Kaufmann aus der nächsten Straße kommen lassen wollten, der ein Geschäft daraus mache, schiffbrüchigen Leuten zu helfen. Diese Nachricht erhellte das trübselige Gesicht des Kapitäns von neuem, und er schickte den Knecht aus dem Wirtshaus ab, um den Kaufmann zu holen.

Als derselbe erschien, sank mir der Mut, denn die Unbarmherzigkeit stand ihm auf dem Gesicht geschrieben. Der Kapitän aber erzählte ihm seine Geschichte, die in aller Kürze folgendermaßen lautete: – Sie wären die englische Bemannung der vor sieben Tagen auf ihrer Reise nach Buenos Ayres begriffenen, von Bristol abgesegelten und auf einem Felsenriff gestrandeten Brigg Bridget und hätten sich auf einem Floß und von Hunger und Kälte arg geplagt, nach dieser Insel gerettet, und sie wünschten drei Pfund Sterling auf Rechnung ihres Eigentümers vorgestreckt, um nach Dublin zu kommen, von wo sie ihren eigenen Hafen erreichen könnten. Der Kaufmann jedoch kräuselte spöttisch seine harten Lippen und sagte, er wäre gerade erst von Fremden angeführt worden und könnte nur an Leute, von denen er etwas wisse, Geld verleihen; und daß sie ihm unbekannt, und wie sie selbst eingestanden hätten, nur zu sechs Tagen Bezahlung berechtigt seien. Und damit ging er seines Weges.

Kaum war er fort, als die Harpyien, die die Röcke, Stiefel und Guernseys geliefert hatten, ihre Waren von den Männern zurückforderten, und nachdem sie sich derselben versichert hatten, sie zu einem Bündel aufgerollt, mit sich fortnahmen. Die armen Seefahrer, die von neuem zu ihren Lumpen greifen mußten, befanden sich in einer traurigen Lage und wußten kaum, ob sie ihr Unglück verfluchen oder über die schlimme Wendung ihres Geschickes lachen sollten; und als der Kapitän den Wirt neckenderweise aufforderte, seinen Leuten das versprochene Frühstück vorzusetzen, da sie nach der nächsten Stadt, wo die Leute vielleicht mehr Barmherzigkeit zeigen würden, weiter wollten, schüttelte derselbe, seine angenommene Höflichkeit abwerfend, den Kopf und fragte, woher er sich für alles, was er schon getan hätte, bezahlt machen solle.

Als ich, ein Zeuge aller dieser Vorgänge, die Männer mit ihren nackten, blutenden Füßen sich erheben und ihren mühseligen Weg von neuem antreten sah, fiel es mir plötzlich ein, daß ich, wenn auch wenig Geld, doch etwas von Geldeswert in meinem Besitz hätte, und ehe ich es mich versah, hatte ich meine Uhr aus der Tasche gezogen, um sie dem Kapitän in die Hand zu drücken. Gerade aber, als ich die Menge zu teilen im Begriff stand, fühlte ich dieselbe Geisterhand, deren ich vorher schon erwähnt, mich von hinten ergreifen, und augenblicklich machte ich, mich zum Rückgang anschickend, Kehrt; denn ich fühlte, daß ich dem in meinem Innern vorgehenden Kampf unterliegen würde. Ich blieb stehen, eilte weiter, blieb abermals stehen und schritt von neuem weiter, und während der ganzen Zeit hielt ich die Uhr in meiner Hand und fühlte ich die Geisterhand auf meiner Schulter. Endlich aber, in der festen Überzeugung, daß die Erinnerung an die sieben hungrigen und zerlumpten Seefahrer mich an Land und auf See verfolgen und peinigen würde, wandte ich mich um und führte schnurstracks meinen Vorsatz aus, und dann verließ ich den Marktflecken. Auf dem Wege zum Hafen sah ich einen Peeltowner Fischer an mir vorübergehen und merkte, daß auch er mich erkannt hatte.

Ich würde sehr glücklich gewesen sein, wenn diese Begegnung nicht stattgefunden hätte, denn obgleich sie meine bitteren Gefühle gegen die beiden Fischer, meine alten Schiffsgenossen, die sich, nachdem ich sie von dem brennenden Schiff errettet hatte, wie von einem Aussätzigen von mir wandten, etwas milderte, so erweckte sie doch eine Empfindung in mir, die meinen bedrückten Geist mit Entsetzen füllte, nämlich die, daß ich dem Fluch meines großen Verbrechens, in wie ferne Lande ich auch immer ziehen möge, nie ganz entrinnen könne, da ich ihn in meiner gemarterten Seele, von der kein Entfliehen möglich sei, mit mir tragen würde.

Diesen ganzen Tag über blieb ich in meinem Boot. Es war lachender Sonnenschein und blauer Himmel, in meinem Herzen jedoch herrschte Dunkelheit. Und noch als die Nacht herabsank, hatte ich keinen Trost gefunden, denn ich hatte erkannt, daß es kein Entkommen aus meinem verstoßenen Zustande gäbe. Und in dieser Überzeugung war meine einzige Frage die, ob ich nach meiner heimatlichen Insel zurückkehren sollte. O, es ist etwas Schönes, sich in Gemütsruhe niederlegen und erfrischt vom sanften Schlummer wieder erheben zu können. Dieser gesegnete Zustand jedoch war mir nicht beschieden. Die Qual meiner Seele war eine so große, daß ich sie, ohne meinen Verstand einzubüßen, nicht lange hätte ertragen können, und in der Furcht vor diesem Geschick lag die halbe Lebensqual für mich. Endlos erschienen mir die dunklen Nachtstunden, und als das milde Tageslicht kam, hatte ich beschlossen, nach meiner Heimatsinsel zurückzukehren. Was nützte es mir, ob auch die Welt weit sein mochte, wenn der kleine Umkreis, in dem ich lebte, doch nur meine eigene enge Seele war?

Während dieser Nacht schien mir, als ich das Ticken der Uhr entbehrend, wach in meinem Boote lag, die Luft meiner Kajüte öde und leer. Nachdem jedoch die Flut der Ebbe gefolgt war, hörte ich das Platschen eines Ruders neben meinem Boot und dann plötzlich das Geräusch eines fallenden Gegenstandes über mir. Am nächsten Morgen fand ich meine Uhr neben den Luken auf Deck liegen.

Mit Fluthöhe zog ich meinen Anker ein und verließ den Hafen, ohne auch nur ein einziges Wort mit einem Menschen gesprochen zu haben.


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