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Achtundzwanzigstes Kapitel.
Der Kindergeist im Hause

Nachdem der Leichenbeschauer und Untersuchungsrichter, Quäl der Raufbold, seinen zweiseitigen Pflichten in Ballamona genügt und ausfindig gemacht hatte, daß die Leiche von Ewan in ein Segeltuch der Ben-my-Chree gewickelt gewesen war, wandte er sich einem anderen Teile seines Amtes zu, nämlich dem, den Ankerplatz des Fischerbootes zu finden, und wenn nötig, die Bemannung desselben zu verhaften. Er wollte gerade Ballamona verlassen, als ihm draußen vor dem Straßentor die Frauen und Kinder der Fischer, die er zu suchen vorhatte, in den Weg liefen, und von ihnen brachte er gerade denselben Augenblick, als der Bischof zum Begräbnis anlangte, in Erfahrung, daß die Männer seit der Mitte des vorhergehenden Tages auf See waren. In seinem Verdacht bestärkt, ihn aber verbergend, ging er mit den geängsteten Frauen nach dem Dorfe zurück und ließ es sich auf dem Wege dahin angelegen sein, ihnen, als sie anfingen ihre Gatten als verloren zu betrauern, Trost einzusprechen.

Seine Vermutung täuschte ihn nicht, denn kaum hatte er das Dorf wieder erreicht und eines nach dem andern die Häuser zum Zweck seiner eigenen heimlichen Forschungen, die er in Form von Trostreden zu kleiden wußte, besucht, als die Fischer selbst, Quillasch, Crennell, Tere und Corkell und der Junge Davy Fähl die Straße heraufmarschiert kamen. Die Kinder umklammerten unter lautem Freudengeschrei die Beine der Männer, die Frauen aber, die sich verpflichtet fühlten, ihre Freude unter einer guten Portion angenommenen Zornes zu verbergen, ergingen sich in Schelten. »Aus welchem Grunde etwa wären sie die ganze Nacht von Hause fortgeblieben?« und »Ob sie sich nicht schämten, ihre Frauen auf eine solche Weise zu behandeln?« und »Ganz nach Männerart, die sich nichts daraus machten, die Frau, die töricht genug wäre, sich halb tot zu ängstigen, die ganze Nacht wach zu halten.«

Und nachdem endlich alle diese Reden ihr Ende erreicht, und die Fischer in verlegenem Schweigen sich niedergelassen, oder etwas wie »Weiber haben auch immer 'was zu predigen,« oder »Wollen auch nie Vernunft annehmen,« in ausweichender Weise in den Bart gebrummt hatten, begann der Untersuchungsrichter seine eingehenderen Fragen, über die Zeit, wann sie mit dem in der Hütte gefundenen Kabeljau und Rochen gelandet seien, oder ob ein besonders guter Fang in Aussicht gestanden hätte, daß sie noch während der Halbflut gestern abend wieder hinausgegangen wären? Ob sie viel gefangen hätten? Nein? Es sollte ihn gar nicht wundern, wenn sie vor der Mooragh angelegt hätten, wie? Ja, sagt Ihr? Natürlich, natürlich. Und ein guter Ankerplatz dazu. Und wo war der Hauptmann? Mit Euch draußen? Das hätte er sich gedacht.

Nach allem fragte der Untersuchungsrichter, nur nach dem einen nicht, das ihm im Kopfe steckte, aber bei Erwähnung der Mooragh vergaßen die Frauen über das die ganze Parochie betreffende Unglück ihre eigenen Sorgen und kamen mit der durch manche Hinzusetzung ausgeschmückten Geschichte von Ewan, und wie die Flut ihn ans Land getrieben hatte; zutage. Und hätten sie die Geschichte nicht gehört? Ach, entsetzlich, entsetzlich! Und der junge Pastor sei in ihrem Boot hinausgesegelt! O, schrecklich, schrecklich!

Der Untersuchungsrichter ließ seinen Blick von den Gesichtern der Männer und bemerkte mit Befriedigung ihre Verlegenheit. Sie ihresteils taten alles, um unbefangen zu erscheinen. Zuerst versuchten sie sich hinter einem großen Zornesausbruch zu verstecken. Wo waren ihre Kartoffeln und Heringe etwa? Was fiele den Weibern, den faulen Geschöpfen, nur ein, glaubten sie etwa, ein Mann brauche, nachdem er wie ein heidnischer Türke Tag und Nacht für sie gearbeitet und nicht einmal 'n schönen Dank dafür bekommen hatte, keinen Bissen Essen?

Es gelang ihnen jedoch nicht, und die Männer selbst waren die ersten es zu merken, daß ihre Reden nicht verfingen. Einer nach dem andern schlichen sie aus ihren Hütten heraus, bis sie alle fünf in einer Gruppe auf der Straße standen und ihre Köpfe zusammensteckten und miteinander flüsterten. Und als dann schließlich der Untersuchungsrichter aus dem Hause des alten Quillasch wieder heraus kam und gegen den Balken der Türe lehnend, stillschweigend zu ihnen hinüberblickte, verließ sie ihre Selbstbeherrschung gänzlich und sie ergriffen eiligst die Flucht.

»Kommt schnell über den Kamm hinüber und laßt uns Herrn Dan eine Verwarnung geben,« flüsterten sie; und mit diesem Vorwand beschönigten sie, um sich einen kleinen Funken von Selbstachtung zu erhalten, ihre Flucht vor sich selbst.

Der Untersuchungsrichter jedoch durchschaute sie und ging in der Gewißheit, den Deemster um diese Zeit auf dem Kirchhof zu treffen, diesem zu.

Der Bischof hatte die Begräbnisfeierlichkeit mit Fassung zu Ende geführt, wenn auch die Tränen seine Stimme fast zu ersticken, und die Haare auf seinem Haupte sich von grau zu weiß gefärbt zu haben schienen. Sein ehrwürdiges, ruhiges Gesicht trug einen furchtlosen Ausdruck, und sein Gebet war voller Vertrauen und Hoffnung. Diese kühle, gletscherähnliche Ruhe verbarg jedoch den brennenden Schmerz eines großen Wehes.

Ungestört durch nichtigere Sorgen erkannte er in jener feierlichen Stunde zum ersten Male die ganze Größe seines Schmerzes über den Verlust von Ewan, dessen heiligengleiche Seele in ihrer Schönheit und Zartheit ihm ins Gedächtnis zurück trat und ihn alle seine Heftigkeit und unzähmbare Unvernunft vergessen ließ. Als er das über Ewans Tod schwebende Geheimnis berührte, überflog ein leises Zittern sein schmales, abgehärmtes Gesicht, und er mußte eine Pause machen; als er dann jedoch von der Hoffnung einer ewigen Wiedervereinigung sprach und wie alles, was uns jetzt unverständlich wäre, uns dann offenbart werden würde, und wie der Richter von Himmel und Erde stets das Rechte täte, durchtönte die Sicherheit einer mutigen Ergebung seine Stimme.

Der Deemster, der der abendlichen Beerdigungsfeier unter abwechselnder Rastlosigkeit und kalter Selbstbeherrschung und mit einer nicht zu erweichenden Gemütshärte und Bitterkeit zuhörte, lief an der Seite des Grabes auf und nieder, manchmal in ein leichtes, spöttisches Lachen oder auch in ein heiseres, verächtliches Grunzen über des Bischofs unangebrachtes Vertrauen ausbrechend. Der rund um das Grab versammelten Menge versagte vor Entsetzen über den geheimnisvollen Tod Ewans der Atem, und als sie zu singen begann, war es mit einem so bewegten und furchtsamen Ausdruck, daß keiner der Männer den Klang seiner eigenen Stimme hörte.

Mehr als einmal unterbrach der Deemster, als ob er durch Geräusche, die den Ohren der anderen verborgen waren, gepeinigt würde, seine unruhigen Wanderungen mit dem Ausruf: »Was ist das?« Nichts jedoch unterbrach die Feier, nur während der Bischof den Segen sprach, bemächtigte sich der Versammlung plötzlich eine große Aufregung.

Der von seinem langen Laufe atemlose Untersuchungsrichter drängte sich durch die Menge und stürzte geradeswegs auf den Bischof und den Deemster zu. »Sie sind gelandet,« rief er aufgeregt, »das Boot ist im Hafen, und die Männer sind hier.«

Zwanzig Stimmen riefen auf einmal »Wo?« Der Deemster aber verlangte keine weitere Aufklärung. »Ergreift sie und nehmt sie gefangen,« sagte er mit bitterem Hohn in der Stimme und einem im Fackellicht boshaften und unbarmherzig leuchtenden Angesicht.

Jarvis Kerrisch trat herzu. »Wo sind sie?« fragte er.

»Sie sind in der Richtung der Kreuzader über den Kamm geflohen,« antwortete der Untersuchungsrichter, »sechs von uns wollen ihnen folgen.«

Und ohne Umstände sich umwendend, überredete er die ihm nächststehenden fünf Männer, Polizistendienste für ihn zu versehen.

»Wie viele sind es?« fragte Jarvis Kerrisch.

»Fünf, Sir,« sagte der Untersuchungsrichter, »Quillasch, Tere, Corkell, Crennell und der Junge Davy.«

»Dann ist er also nicht bei ihnen?« fragte der Deemster in einem Ton, der des Bischofs Herz einen Dolchstich versetzte.

Der Untersuchungsrichter blickte verlegen auf den Bischof und sagte: »Er war bei ihnen und muß noch irgendwo versteckt sein.«

»Dann macht, daß Ihr fort kommt; verhaftet ihn, schnell,« rief der Deemster in einem anderen Tone.

»Ich habe aber keinen Verhaftsbefehl, Sir,« sagte der Untersuchungsrichter.

»Einfaltspinsel! wartet Ihr etwa darauf?« rief der Deemster mit einer verächtlichen Handbewegung. »Woher stammt Ihr denn, daß Ihr nicht einmal wißt, daß Euer eigener Verhaftsbefehl genügend ist? Ergreift die Übeltäter, und Ihr sollt Verhaftsbefehle genug haben, wenn Ihr zurückkommt.«

Als die sechs Männer sich jedoch durch die Leute durchdrängten und über die Steinmauer des Kirchhofes hinüberspringen wollten, nahm der Deemster ein Stückchen Schiefer, das aus dem Grabe mit herausgeschaufelt worden war, vom Boden auf und kratzte seine Initialen mit einem Kieselstein darauf.

»Nehmt dies als Zeichen und verfolgt sie,« sagte er zu Jarvis Kerrisch, und ohne Aufenthalt folgte Jarvis dem Untersuchungsrichter und seinen Gendarmen mit des Deemsters rechtsgültiger Vollmacht für ihr Unternehmen.

Es war das Werk eines Augenblicks, und die Menge, die gesenkten Kopfes um den Bischof herumgestanden hatte, löste sich nun verwirrt auf. Der Bischof selbst hatte keine Silbe gesprochen; der Schatten eines körperlichen Schmerzes hatte sein bleiches Antlitz überzogen, und der kalte Schweiß stand ihm auf der Stirne. Kaum jedoch hatte der Untersuchungsrichter sich entfernt und hatten die Leute von ihrer Bestürzung sich erholt, als der Bischof Schweigen gebietend eine Hand erhob und in einem unbeschreiblichen Tone fragte:

»Kann irgend jemand von Euch aus eigenem Wissen sagen, ob mein Sohn gestern abend auf der Ben-my-Chree war?«

Der Deemster schnob verächtlich, antwortete jedoch nicht auf diese Frage.

Diesen Moment wurde auf dem Wege der Hufschlag eines Pferdes hörbar, und gleich darauf erschien der alte Erzdekan. Er hatte an dem Tage die Weihnachtspredigt in Peeltown gehalten und dort von dem Tode seines Enkels und dem in der Luft schwebenden Verdacht gehört. Das erbitterte Gemüt des enttäuschten Mannes hatte dem Bischof nie große Herzlichkeit entgegengebracht, sondern war immer nur zu bereit gewesen, verachtungsvoll über die »hirnverbrannten Ideen« des Mannes, der ihn aus seinem ihm von Gott und Rechts wegen zukommenden Platz verdrängt hatte, zu sprechen; und er ergriff die Gelegenheit, demselben, ohne Reue oder Mitleid zu fühlen, einen Hieb zu versetzen.

»Ich höre, die Ben-my-Chree ist im Hafen von Peel eingelaufen,« sagte er, sich während des Sprechens über seinen Sattelknopf hinüberlehnend und sein rosiges Gesicht dem Platze, auf dem der Bischof stand, zukehrend.

»Nun, nun, nun?« rief der Deemster, seine ungeduldigen mit Flüchen begleiteten Fragen so eilig wie eine Henne ihr Korn aufpickt, herausschleudernd.

»Und daß die Männer, aller Wahrscheinlichkeit nach, ihre Gesichter nicht so bald zeigen werden,« fuhr der Erzdekan fort.

»Dann seid Ihr im Unrecht,« sagte der Deemster herablassend, »denn sie haben es schon getan. Aber wie steht's mit ihrem Herrn? War er bei ihnen? Habt Ihr ihn gesehen? Schnell, laßt hören, was Ihr zu sagen habt.«

Der Erzdekan wandte den Blick nicht von des Bischofs Gesicht ab, doch antwortete er dem Deemster.

»Ihr Herr befand sich unter ihnen,« sagte er, »und schlecht wird es ihm ergehen. Ich würde lieber einen Mühlstein um meinen Hals haben, als daß ich als Vater jenes Mannes vor Gottes Thron treten möchte.«

Und mit derartigem, mildtätigem Trost stieg der alte Erzdekan ab und ging mit dem Deemster, sein Pferd hinter sich herführend, davon. Der gute Mann hatte gerade an dem Tage mit ungewohntem Eifer über den Text: »Wie Ihr messet, so soll Euch gemessen werden,« gepredigt.

Im nächsten Augenblick war der Bischof wie ausgewechselt. Die Überzeugung von Dans Schuld hatte sich seiner bemächtigt. So lange hatte er allen schlimmen Anzeichen durch die Kraft seines Vertrauens, daß sein Schöpfer alles zum Besten führen würde, eine mutige Stirne entgegengesetzt. Nun aber war dies Vertrauen erschüttert. Als der Deemster und der Erzdekan zusammen davonschritten und ihn von der Menge umringt zurückließen, stand er, während aller Augen auf ihn gerichtet waren, mit dem verstörten Ausdruck eines Menschen da, dem ein unerwarteter, furchtbarer Schlag zuerteilt worden ist. Die Welt schien unter ihm zusammenzubrechen. Den ersten Moment überflog etwas wie ein geisterhaftes Lächeln sein bleiches Gesicht, und dann schien sich die Wahrheit ihm zu enthüllen. Er bot einen entsetzlichen Anblick. Leise stöhnend schwankte er zurück. Mit seinem Gottvertrauen verließ ihn ebenfalls seine Männlichkeit.

»O mein Sohn, mein Sohn!« rief er von neuem, »wie du meine Tage verkürzest! Wie du mich mit Schande umgibst! O mein Sohn, mein Sohn!«

Die Liebe jedoch trug auch in jener bitteren Stunde den Sieg davon, und der gute Gott sandte dem geprüften Manne die Erlösung der Tränen.

»Er ist tot, er ist tot!« weinte er; »mein Herz ist gebrochen und verdörrt wie Gras. Ewan ist tot. Mein Sohn ist tot. Kann es sich so verhalten? Ja, tot und schlimmer als tot. Herr, Herr, nun laß mich Asche statt Brot essen und meinen Trank mit Weinen mischen!«

So machte er seinem gebrochenen Herzen in einem Strom wilder Klagen Luft. Die ihm von seinem Sohn bis dahin bereitete Schande war nur ein Traum gegen diese entsetzliche Wirklichkeit.

»O mein Sohn, mein Sohn! Wollte Gott, ich wäre gestorben, ehe ich diesen entsetzlichen Tag erlebt hätte!«

Die Leute umstanden den Bischof, während der trostlose Kummer seine Seele zerriß! Dann nahm einer derselben – es war Thormod Milchrist, der uneheliche Sohn des reichen Mannes, der seinen Nachkommen der öffentlichen Wohltätigkeit preisgegeben hatte – den alten Mann bei der Hand, und die Menge machte Platz für beide. Sie ließen den Kirchhof und das grelle Licht der Fackeln hinter sich und schritten Bischofs-Hof zu. Es war ein trauriger Anblick, wie der alte mehr durch Kummer als durch Jahre gebeugte Vater die Straße dahinschwankte, wie sein weißes Haupt ihm tief herabhing, als ob die Dunkelheit selbst Augen hätte, in seine umnachtete Seele zu blicken.

Und noch jämmerlicher zu beobachten war es, wie des alten Mannes gebrochner Geist, seines großen Bollwerkes, das wie ein zertrümmertes Ideal ihm zu Füßen lag, beraubt, doch noch vergebens sich einen Trostschimmer aus seinem erschütterten Glauben zu erkämpfen versuchte. Jeder abgerissene Text jedoch, der in seinem Herzen erwachte, schien ihn aufs neue zu verwunden.

»Wie die Pfeile in der Hand eines Starken, also geraten die jungen Knaben ... Zur selbigen Zeit wirst du dich nicht mehr schämen all deines Tuns, damit du wider mich übertreten hast ... O, Absalom, mein Sohn, mein Sohn! ... Denn um deinetwillen trage ich Schmerz, mein Angesicht ist voller Schande ... Ich aber bin elend und arm; Gott eile zu mir ... Verbirg dein Angesicht nicht vor deinem Knechte; denn mir ist angst, erhöre mich eilend ... Gott, du weißt meine Torheit ... Er aber sprach: Es ist der Herr, er tue, was ihm wohlgefällt ... So ersäufte uns Wasser, Ströme gingen über unsere Seele. Es gingen Wasser allzu hoch über unsere Seele.«

Schwach an der Seite von Milchrist dahinschwankend und sich auf seinen Arm stützend, ging der Bischof seines Weges, und die arme, tote Seele des Mannes, der sein Gottvertrauen verloren hatte, äußerte auf diese Weise ihren unfruchtbaren Kummer. Der Weg war lang, endlich jedoch erreichten sie Bischofs-Hof und beim Anblick desselben schien eine plötzliche Veränderung mit dem Bischof vorzugehen. Er blieb, sich an Milchrist wendend, stehen und sagte in merkwürdiger Ergebung –

»Ich will mich beruhigen. Ewan ist tot und Dan ist tot. Ich werde mich ganz gewiß, wie ein Kind, das der Mutterbrust entwöhnt wird, beruhigen. Ja, meine Seele ist einem entwöhnten Kinde gleich.«

Und mit der ungekünstelten Ruhe eines kleinen Kindes streckte er Milchrist die Hand entgegen, um ihm Lebewohl zu sagen, und als dieser mit überströmenden Augen und zu bewegt zum Sprechen über des alten Mannes Hand sich beugend seine Lippen auf sie preßte, legte der Bischof seine andere Hand, als ob der Mann seinen Segen erfleht hätte, ihm aufs Haupt und segnete ihn.

»Gute Nacht, mein Sohn,« sagte er dann einfach, Milchrist aber konnte nichts antworten.

Der Bischof betrat das Haus, und die Erinnerung, die auf einen Augenblick gesegneter Frist ihm entschwunden gewesen war, kehrte zurück, und sein Herz blutete von neuem, und er weinte bitterlich. Der unbelebte Wohnsitz füllte sich in einem Augenblick mit Geistern. Diese Nacht ging Bischofs-Hof volle zehn Jahre zurück, und wenn auch jetzt keine Kinderstimmen in ihm widerhallten, so belebte ihn doch noch der Geist eines glücklichen Knaben.

An seinen Dienstboten in der Vorhalle und auf der Treppe, wo sie gemartert durch die lange Ungewißheit, bestürzt, verzweifelt ihre Nachrichten und Zweifel sich gegenseitig mitteilten, vorüberschreitend, ging der Bischof in das kleine Gemach über der Bibliothek hinauf, das einstmals des kleinen Dans Zimmer gewesen war. Die Türe war verschlossen, der Schlüssel aber war, wo er manchen Tag gewesen, obgleich Dan in seinem Eigenwillen nichts davon gewußt hatte, in des Bischofs Tasche. Drinnen im Zimmer herrschte der dumpfe Geruch eines lange Zeit verschlossenen Raumes. Das kleine Bett stand noch in der Ecke, und auf seiner Decke lag fingerhoher Staub. Staub bedeckte ebenfalls die Wände und den Fußboden, und der Tisch unter dem Fenster war mit ihm beladen. Nachdem der Bischof sich in diesem staubigen Gemach eingeschlossen hatte, zog er unter dem Bett einen mit einem Glasdeckel versehenen Kasten hervor, öffnete ihn und entnahm ihm eines nach dem andern die darin enthaltenen Sachen. Es waren Kinderspielsachen – eine Peitsche, eine Marmorkugel, eine Flöte, ein alter Manxpfennig, ein Meisennest mit drei gesprenkelten blauen Eiern darin, einige Perlmuttermuscheln und ein Stückchen ausgetrockneten Seetangs. Und jede armselige Reliquie erweckte, wie sie zum Vorschein kam, neue Erinnerungen und neuen Kummer im Bischof, und die Finger, die sie hielten, zitterten. Die Erinnerung an die Sportlust und den kindlichen Übermut des Knaben, beide nun lange tot und verstummt, verwundete den alten Mann in diesen vier Wänden bis ins tiefste Herz hinein.

Der Bischof schob den Glaskasten wieder an seinen Platz, verschloß das Zimmer und ging in die Bibliothek hinab. Der in dem öden Hause lebende Kindergeist jedoch wollte sich nicht an das eine Gemach oben bannen lassen. Er folgte dem Bischof mit seinen blauen Augen und lachenden Lippen, von einem Bein auf das andere hüpfend und eine Brille unsicher auf seiner kleinen Nase balancierend, in seine mit Bücherregalen austapezierte Studierstube.

Zehn Jahre waren in dieser Nacht für den gebrochenen Vater zurückgerollt, und Dan, der ihm fürs Leben verloren war, lebte nur als ein schöner, munterer, glücklicher, lebhafter, unschuldiger Knabe, der nie älter werden konnte, sondern immer ein Kind blieb, in seiner Erinnerung.

Den Bischof litt es nicht länger in dem alten Hause. Es war zu voll von Geistern. Er wollte hinaus und die Nacht auf der Straße verbringen. Auf und ab, auf und ab, durch Schnee oder Regen, unter dem Mondlicht oder dem Sternenhimmel, bis der Tag graute und die erbarmungslose Sonne wieder über der unbekümmert schlafenden Welt aufgehen würde.


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